Kopfsteinpflaster vor schmucken, pastellfarbenen Häusern. Schneeweiße Bräute, die motorisierten Luxuskutschen mit goldenen Schnörkeln entsteigen, mit einem Gefolge wie aus einem historischen Spielfilm . Kronleuchter baumeln vom Sternenhimmel des Restaurants, in dem man neben griechischen Statuen vor feuerroten Wänden speist. Die Colaflaschen, die bunten Lämpchen und Lichter verleihen einen Touch von Las Vegas. Irreal die weißen Limousinen in Überlänge, die an verbeulten rostigen Linienbussen, dahinschlurfenden Rentnern und topmodisch gestylten Frauen, eleganten Cafes und würdigen Dichterstatuen in der Altstadt vorüberziehen. Czernowitz ist der Ort, wo Kultur, Kunst und Kitsch sich küssen...
Auf dem Kopfsteinpflaster vor der Schule, wo einst Mihai Eminescu studierte, sitzt eine Frau in Jeans im Rinnstein und zeichnet. Gegenüber dem Kreisverwaltungsgebäude, dessen Eingang stolze Löwenstatuen zieren, ein öffentliches Telefon, auf der Ablage unter dem Apparat ein halb abgenagter Maiskolben. In Czernowitz/Cernăuţi - so viel enthüllt sich auf den ersten Blick - verschmelzen Gegensätze zu einer eigenwilligen Melange. Der Mythos der Stadt hängt spürbar in der Luft... Doch ist er nur zu erahnen auf unserem eiligen Spaziergang im Rahmen eines Tagesausflugs - stets darauf bedacht, den Anschluss zur vorauseilenden Gruppe und zum zurückbleibenden Fotografengatten nicht zu verlieren...
Auf den Spuren der ukrainischen Deutschen
Auf dem Zentralplatz vor dem Rathaus laufen acht Straßen zusammen. In einer davon, der Olha Kobyanska Straße, die früher den Namen Herrengasse trug, liegt unser erstes Ziel: das Deutsche Haus. Hier wurden früher fünf Sprachen gesprochen, die selbst der Straßenfeger beherrschte, erzählt Paul Pivtorak, stellvertretender Leiter der Vereinigung der Österreichisch-Deutschen Kultur J. W. Goethe „Wiedergeburt“, der die Gäste des diesjährigen Heimattreffens der Bukowinadeutschen (siehe heutige Leben-Seite) dort willkommen heißt. Etwa 300 Deutsche gibt es noch in Czernowitz, doch leben fast alle in gemischten Familien. Im Deutschen Haus treffen sich an die 100 Vereinsmitglieder, um gemeinsam Weihnachten, Ostern, Muttertag und Pfingsten zu feiern - und die deutsche Sprache zu pflegen.
Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es noch etwa 30.000 Deutsche in Czernowitz, doch die meisten wurden mit der Aktion „Heim ins Reich“ unter dem Einfluss des Hitler-Stalin-Paktes ab 1939 umgesiedelt. Der Rest wanderte nach der Wende als Spätaussiedler aus. Trotzdem pflegt man eine deutsche Senioren- und eine Jugendgruppe, die sich auch als „Junge Bukowina Phönix“ Theatertruppe engagiert und von einer Regisseurin aus Temeswar regelmäßig auf den jährlichen Theaterwettbewerb in der Begastadt vorbereitet wird. Jedes zweite Jahr wird in Czernowitz außerdem im November das internationale Festival der Östereichisch-Deutschen Kultur „Edelweiß“ veranstaltet. In jeder größeren Stadt gibt es deutsche Vereine, die im Rat der deutschen Ukrainer vereint sind, erklärt Pivtorak. Sie erhalten zwar kein Geld vom Staat, allerdings sind sie seitens der Stadtverwaltung von der Miete ihrer Kulturhäuser befreit. Ein wenig finanzielle Unterstützung gibt es auch aus Deutschland, so dass man Rentner zur Kur und Kinder ins Ferienlager schicken kann. Die Vereinsmitglieder engagieren sich alle freiwillig.
Noch „wienerischer“ als Wien...
Vom Deutschen Haus aus schlendern wir die Flaniermeile hinunter, vorbei an der orthodoxen Kathedrale in zartem Bonbonrosa, an Modeläden und Prachtkutschen, in die man einsteigen und sich mit weißen Täubchen auf dem Kopf fotografieren lassen kann, am regionalen Ethnografiemuseum, am rumänischen Kulturzentrum mit dem Cafe Bucureşti und der Mihai Eminescu Bibliothek - davor liegt fest eingerollt der weit und breit einzige Straßenhund, der als „rumänisches Nationalsymbol“ für Schmunzeln sorgt. Prachtvolle Fassaden mit Stuck und Statuen, Balkonen und Türmchen, aufwändigen Dächern und als Konstrast dazu moderne Läden, Cafes, Banken, Tattoo-Shops. Stöckelbeschuhte Damen stolzieren tapfer über das Kopfsteinpflaste an kaffeeschlürfenden Touristen und Straßenmusikanten vorbei.
Im Rathaus führen 125 Stufen in einer engen Wendeltreppe auf den Turm, von dem täglich um Schlag 12 ein Trompeter ein slawisches Volkslied bläst. Doch dank der gestrengen Grenzbeamtin in Flecktarn, die in unserem Reisebus gleich zweimal die Pässe einsammeln ließ, haben wir ihn leider verpasst. Dafür werden Schwindelfreie - die Plattform ist eher schmal - mit einem traumhaften Panoramablick über die Altstadt bis zum Hügel der Universität belohnt, die seit 2011 zum Unesco-Welterbe gehört. „Klein-Wien“ wird Czernowitz auch gerne genannt. Ein Tourist soll bemerkt haben, es sei sogar noch „wienerischer“ als Wien... Man mag ihm recht geben, denn die beiden Weltkriege haben nur wenig Zerstörung in der Stadt angerichtet. Liebevoll restaurierte Fassaden verbergen gnädig die marode Bausubstanz.
Stadt der Dichter und Denker
Czernowitz wird Anfang des 15. Jahrhunderts erstmals urkundlich erwähnt. Bis 1774, als die Bukowina während des russisch-türkischen Krieges von den Österreichern besetzt wurde, bestand die Stadt aus einer schlammigen Hauptstraße mit etwa 200 Holzhäusern. Einen stürmischen Aufschwung erlebte sie unter den Habsburgern, doch die Blütezeit endete mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie. 1918 wurde die Bukowina in das rumänische Königreich eingegliedert. Nach dem Zweiten Weltkrieg fiel die Nord-Bukowina schließlich in russische Hände. Nicht umsonst nennt man Czernowitz auch „die Stadt der toten Dichter“. Kaum ein Ort hat so viele berühmte Denker und Schriftsteller hervorgebracht wie die ehemalige Hauptstadt der Bukowina: Paul Celan und Rose Ausländer, Karl Emil Franzos oder Mihai Eminescu, der hier zur Schule ging, wie eine Plakette an deren Fassade erinnert. Eminescu begegnet uns auch als Statue wieder, eine nach ihm benannte Straße verbindet sie mit der Schule.
Die Einwanderungspolitik während der österreichischen Herrschaftsperiode brachte eine beispiellose Völkervielfalt nach Czernowitz. Neben Deutschen, Armeniern und Ungarn ließen sich vor allem Juden in der Stadt nieder. Ab 1870 stellten sie bereits die Mehrheit der Bevölkerung dar. 90.000 waren es vor Beginn des Ersten Weltkriegs. Heute leben noch etwa 1500 Juden in Czernowitz, von 78 Bethäusern ist nur noch eines in Funktion. Aus der großen Synagoge im Stadtzentrum ist längst ein Kino geworden. Sehenswert ist der jüdische Friedhof mit etwa 50.000 Gräbern: Eine Art Klagemauer aus zerbrochenen Grabsteinen neben der verfallenen Zeremonienhalle verleiht ihm einen morbiden Charme. Auf dem gegenüberliegenden Friedhofsteil findet man unter den grasüberwucherten Grabsteinen so mancher Berühmtheit auch das Grab des Rumänisten, Literaten und Dichters Aron Pumnul.
Keinesfalls darf man sich einen Besuch in der Universität entgehen lassen - auch wenn das Spektakel davor dem Meisterwerk des Wiener Architekten Josef Hlavka beinahe die Schau stiehlt: Unzählige Brautpaare quellen aus Kutschen und Limousinen, Fotografen und festliche gekleidete Gäste überschwemmen den blumenübersäten Innenhof und die prächtige Kirche, die einst zur Mitropolie von Bukowina und Radauţi gehörte. Im Kommunismus war dies der einzige Ort, wo man orthodoxe Theologie studieren konnte, verrät die Führerin. Drei Fakultäten gab es an der 1875 eröffneten Universität: Theologie, Philosophie und Recht. Die Unterrichtssprache war Deutsch. Heute stehen den Studenten elf Fakultäten zur Verfügung und die Uni gilt als eine der besten in der Ukraine. Im prachtvollen Marmorsaal erhebt Sängerin Larisa Belova, die das Gesangsensemble der Czernowitzer Deutschen auf dem Buchenlandtreffen begleitet, spontan ihre Stimme. Ihr hingebungsvolles „Ave Maria“ ergreift die Gemüter, hebt unsere Blicke den Säulen entlang zu der kostbaren Kassettendecke hinauf. Und den Geist hoch über die irdische Pracht dieses Ortes hinaus! Czernowitz steckt nicht nur voller Gegensätze, sondern auch voller Überraschungen.