Bizarr heben sich die knorrigen Äste der Linden und Kastanien von den grauweiß und gelb gefleckten Mauern der Wehrkirche ab. Himmel und Erde verschmelzen im fahlen Licht des Winters. Nicht ein einziger Sonnenstrahl traut sich hervor. Die eisige Schneedecke knirscht morsch unter unseren Füßen. Der Pfarrer sperrt die Kirche auf. Dann schlucken uns die kalten Steinmauern in eine verzauberte andere Welt...
Spärliche Lichtstrahlen fallen aus schmalen, hohen Fenstern ein. Ringsum irisierendes Himmelblau. Vergessen ist die beißende Kälte. Zu beschäftigt sind die Augen, die sich erst langsam an die sanfte Düsternis gewöhnen, mit der uns das gewaltige Gewölbe umfängt. Unzählige siebenbürgische Kirchenburgen gesehen... und jede ist anders, jede einzigartig. Wie auch diese hier in Agnetheln/Agnita.
Kostbarkeiten im Schatzkästchen Gottes
Wenn man mit einem Fotografen unterwegs ist, betrachtet man die Welt mit seinen Augen: Aus welchem Winkel hebt man den Blick ins Gewölbe, so dass es noch gewaltiger wirkt? Wie verborgene Kostbarkeiten herausstreichen, die nicht jedem gleich ins Auge fallen? Man scannt Nischen und Wände nach verborgenen, charmanten Details ab: Die schlichten braunen Bänke, alle mit Lehne und apart geschwungenen Seitenteilen. Die spitz zulaufenden Arkaden über der Empore. Licht und Schattenspiele. Faszinierende Symmetrien. Es ist wie ein Besuch in einem Schatzkästchen. Die kunstvoll verzweigten Türbeschläge auf himmelblauem Holz müssen natürlich auch in den Knipskasten... Halt! Mit dem Ärmel wird vorher das Spinnennetz abgewischt.
Dann die offensichtlichen Kostbarkeiten: Pfarrer Reinhardt Boltres knipst das Licht an - vor uns erstrahlt ein auffallend schöner Altar. Um 1650 entstanden, Urheber unbekannt. Der ältere, vorreformatorische Altar war wohl ein Opfer der Flammen geworden, nachdemMichael der Tapfere die Kirchenburg um 1600 eingenommen hatte und die Kirche innen völlig ausbrannte, mutmaßt der Pfarrer. Die kostbaren Altarbilder sollen den Heilaspekt des Leidens Christi zur Geltung bringen, erklärt er: Es beginnt mit dem Letzten Abendmahl als Motiv der Predella. Auf den Flügeln, die in der Karwoche zugeklappt werden, sodass die dahinter verborgenen Szenen zum Vorschein kommen, entfaltet sich die weitere Geschichte, die mit der Auferstehung am Ostermorgen endet. „Fußwaschung, Judaskuss, Gefangennahme, Versammlung des Hohen Rates, Verleugnung durch Petrus, Geißelung, Dornenkrone” murmelt er, während er die schweren Flügel mit einer hölzernen Stange manövriert. Und verrät: Das kostbarste Element des Altars ist die Schnitzarbeit; eine Art Krone aus filigranen vergoldeten Girlanden, stilisierte Darstellung des ersten Briefs an die Korinther, Kapitel 13. Das Kreuz symbolisiert den Glauben, der Engel mit dem Anker die Hoffnung, der Kelch ganz oben die Liebe. An die Seitenteile schmiegt sich, wie eine Fortsetzung der Girlanden, je ein bizarrer, zauberhaft stilisierter Adler.
Muster Siebenbürgischer Orgelbaukunst
Dem Altar gegenüber an der Eingangsempore thront eine gewaltige Orgel. Bis heute noch zu 90 Prozent bespielbar, stammt das Instrument aus dem Jahre 1850 aus der Werkstatt des siebenbürgischen Orgelbauers Karl Schneider. „Sie ist fast ein Miniaturnachbau der Buchholz-Orgel aus der Schwarzen Kirche”, verrät Pfarrer Boltres stolz. Kein Wunder: Schneider hatte bei Buchholz als Geselle gearbeitet und sich später selbstständig gemacht. Vor einigen Jahren sei es gelungen, der Orgel ein originalgetreu nachgebautes Trompetenregister wieder einzubauen, dessen Original irgendwann durch ein Flötenregister ersetzt worden war, freut sich der Pfarrer, der seit 21 Jahren in dieser Kirche wirkt. Wie kostbar die Orgel schon damals gewesen sein muss, reflektieren die weiß-goldene Kanzel und die himmelblaue Empore, vermutlich beide aus dem Jahr 1852, dem Stil des Orgelprospekts nachempfunden.
Zieder Altar gerettet
Die dritte erlesene Kostbarkeit verbirgt sich im ehemaligen Konfirmandenzimmer, der heutigen Winterkirche: Es ist der Altar aus der Kirche von Zied/Veseud, der nach einem Diebstahl von zwei Engelstatuetten und der beiden Medaillions von Petrus und Paulus im Jahr 2000 hier in Sicherheit gebracht worden war. Ohne Altartisch aufgestellt, kann man das prachtvolle Schnitzwerk mit den beiden gedrehten Säulen in voller Höhe “von Angesicht zu Angesicht” bewundern. Geschaffen wurde er von Andreas Rothmann im Jahre 1742, wie eine Inschrift auf der Predella verrrät. “Zwei-drei Jahre lag er zerlegt bei uns in der Kirche”, erzählt der Pfarrer, bis Zieder aus Deutschland eine Kollekte organisierten, die eine Restauration durch Fachleute des Brukenthalmuseums ermöglichte.
Beliebtes Ziel für Gruppen- und Radtouristen
An Bewunderern für diese Kleinodien im „Schatzkästchen Gottes“ soll es nicht mangeln: Zwar kommen von den etwa 150 noch existierenden evangelischen Gemeindemitgliedern, die meisten hochbetagt, nur noch 10 bis 15 Leute zum Gottesdienst. Dafür haben Reiseveranstalter wie Karpatentour die Kirchenburg von Agnetheln für sich entdeckt. Pfarrer Boltres führt die Gruppen gerne auf Deutsch, Rumänisch und Englisch, bei anderen Sprachen muss der Reiseleiter helfen. Die meisten Touristen kommen aus deutschsprachigen Ländern, erzählt er, doch sogar eine spanische und eine französische Gruppe verschlug es letztes Jahr nach Agnetheln. Mit Bussen reisen sie meist aus Mediasch/Media oder Schäßburg/Sighişoara an. Auch Fahrradtouristen kommen immer öfter, seit das Radfahren in Siebenbürgen dank eines gut ausgebauten Radnetzes immer populärer wird. Radfahrer und Rucksacktouristen sind auch in der Herberge willkommen, die im renovierten ehemaligen Predigerhaus entstanden ist. Acht Zimmer mit 20 Schlafplätzen in 2-3 Bettzimmern stehen dort zur Verfügung, informiert Pfarrer Boltres. Anmelden kann man sich unter Tel. 0733081225 oder rboltres@yahoo.com. Gedacht war sie ursprünglich für Agnethler Sachsen auf Heimatbesuch, die hier kein Haus mehr haben. Das Phänomen der Sommersachsen, wie vielfach auf den Dörfern, gibt es zwar nicht in der Kleinstadt Agnetheln. Es kommen jedoch immer mehr Großeltern, die ihren in Deutschland geborenen Enkeln die alte Heimat zeigen.
Wenn alles gutgeht, soll die Kirchenburg in diesem Jahr restauriert werden - das Urteil einer Expertenkommission steht noch aus, erzählt Reinhardt Boltres.
Wir schlendern durch den Kirchhof, wo uralte Kastanien, Tannen, Linden und junge Birken Eis und Schnee trotzen. Vor ihnen erheben sich vier Wehrtürme, die zu Zeiten der Zünfte von diesen instandgehalten und verteidigt werden mussten: der Schusterturm, in dem bis 1997 noch Speck hing - „dann waren zu wenig Sachsen da, um ihn weiterzupflegen, man konnte die Hygiene nicht mehr gewährleisten“, erklärt Reinhardt Boltres; der Schmiedeturm, an den sich heute anstelle einer alten Verteidigungsanlage die Schule G. D. Teutsch schmiegt, erbaut aus deren Steinen, mit immer noch acht Klassen und einer deutschen Abteilung; der Schneider- und der Fassbinderturm. Vom Glockenturm aus sieht man an klaren Tagen bis in die Fogarascher Berge. Den Ausblick kann man heute frei genießen - vorbei die Zeit der feindlichen Anstürme auf das „Schatzkästchen Gottes“ im Herzen des Harbachtals.