´35 - ´89 – eine Brücke durch Zeit und Raum

Eine visuelle, multimediale Fotoausstellung bis Mitte März zu sehen

Die bewegten unscharfen Bilder von Cătălin Regea zeigen die Ereignisse der Temeswarer Revolution aus einer neuen Perspektive, zusammen mit dem visuellen Künstler Adrian Florin Pop.

Cătălin Regea am Bahnhof in Bokschan, kurz vor der Abfahrt nach Temeswar, in der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember 1989.

Ein Pärchen geht händchenhaltend durch die Straßen von Temeswar. Im Hintergrund ein Militärauto Fotos: Privatarchiv von Cătălin Regea

Viele Ausstellungsbesucher haben sich selbst, Verwandte und Bekannte auf den Bildern wiedererkannt.

Es war der Sommer 1989, als Cătălin Regea seinen langjährigen Freund Günther in Bokschan/Bocșa, der Stadt seiner Kindheit und Jugend, wieder getroffen hatte. Der Freund, ein Banater Schwabe, war in den Jahren davor durch den Freikauf der Rumäniendeutschen nach Deutschland ausgewandert. Die verführerischen Süßigkeiten, die vielbegehrten Kassetten mit den internationalen Hits der Zeit, die „Bravo“-Zeitschriften oder die coole moderne Kleidung aus dem Westen, all diese faszinierenden Sachen verblassten plötzlich vor den Augen von Cătălin, als er seinen Kindheitsfreund fragte: „Was würdest du tun, wenn es dir jetzt verboten würde, wieder nach Deutschland zurück zu kehren?“ Günthers Antwort war einfach, aber prägnant: „Ich würde einfach sterben!“

 

Diese Aussage war für den 20-jährigen Cătălin verwirrend, denn obwohl die Grenzen Rumäniens für ihn geschlossen waren, hier war er doch am Leben. „Dieses Gespräch verfolgte mich in den Monaten danach“, erzählt der nun 55-jährige Ingenieur Cătălin Regea, und war leitführend für ihn nach dem Ausbruch der Revolution in Temeswar 1989, als er sich in der Nacht vom 17. auf dem 18. Dezember in den Zug von Bokschan nach Temeswar setzte und in den Tagen der Revolution Bilder auf den Straßen schoss, die inzwischen zu zeitlosen Zeugen dieser Ereignisse wurden. „Schau Mal, wir können auch unsere Freiheit erlangen“, so der Gedanke, der Cătălin zu seiner Reise antrieb.

1989 war Cătălin Regea Student im zweiten Jahrgang an der TU „Politehnica“ in Temeswar. Da es schon Winterferien waren, war der junge Mann zuhause in Bokschan, eine Kleinstadt im Kreis Karasch-Severin, rund 75 Kilometer von Temeswar entfernt. Am 17. Dezember hörte er, dass in der Bega-Stadt ein „Aufstand gegen den Kommunismus“ ausgebrochen war. Mit einer Fotokamera bestieg er schon am gleichen Abend den Zug. Endstation: Temeswar.

Cătălins Vater war ein leidenschaftlicher Hobbyfotograf und hatte Zuhause mehrere Kameras und Filme. Als Cătălin ihm sagte, er würde mit dem Nachtzug nach Temeswar fahren wollen und dort auf den Straßen die „Revolution“ fotografieren, war der Vater gar nicht begeistert. Da er seinen Sohn nicht umstimmen konnte, gab er ihm schließlich eine Kamera mit. Es war ein russischer Smena-Fotoapparat mit einem kaputten Objektiv. Hintergedanke dafür war, dass die Bilder nicht klar sein würden, so würden diese, falls sein Sohn gefasst und verhaftet würde, nicht gegen ihn als Beweismittel verwendet werden können. Das alles erfuhr Cătălin aber erst in den Tagen nach der Revolution, als er schließlich die Filme in der Dunkelkammer des Vaters entwickeln ließ.

In Temeswar angekommen, machte Cătălin seine ersten Fotos schon am 18. Dezember 1989. Mit der Kamera unter seiner Jacke versteckt, konnte er durch den geöffneten Reißverschluss diskret einige Bilder schießen. Die ersten Aufnahmen zeigen einige Zivilisten auf der Straße, laut Vermutungen von Cătălin anscheinend Geheimdienstler mit Waffen unter ihren Jacken. Die Angst, dass er dabei erschossen wird, begleitete den jungen Studenten bei jedem Schritt, denn er wurde an diesen Tagen mehrmals Zeuge von Schüssen auf Passanten und in Menschenmengen.

Soldaten mit ihren Waffen in der Hand überall in der Innenstadt, Panzer und Militärtransporter, Menschen auf der Flucht oder einfache Passanten, Händchen haltend (im Bild weiter unten) – sie alle faszinierten den jungen Hobbyfotografen. Später, nach dem 22. Dezember (Tag der Flucht von Nicolae Ceaușescu) konnte er, ohne sich zu verstecken, frei fotografieren: Bilder vom Treppenhaus eines elfstöckigen Wohnblocks im Dacia-Viertel, von den Treppen der orthodoxen Kathedrale in der Innenstadt, auf dem Freiheitsplatz und anrainenden Straßen oder mitten in der Menschenmenge auf dem Opernplatz -  sie alle füllten vier Filme, insgesamt 120 Aufnahmen in den Tagen der Revolution. In seinen Bildern hat er die Begeisterung des Volkes inmitten des Opernplatzes nach dem Fall von Ceaușescu eingefangen, die Menschenmenge, die zum Gebet mit dem Gesicht zur orthodoxen Kathedrale kniete sowie Aufnahmen mit und von dem zum Symbol der Temeswarer Revolution gewordenen Opernbalkon. Seine bewegten unscharfen Bilder sind nun Zeugen der Ereignisse dieser Tumulttage in Temeswar und bieten eine komplett neue Perpektive auf die Revolution vom Dezember 1989.

Eine Auswahl ist nun bis zum 15. März im Gebäude der ehemaligen Stadtkommandantur am Temeswarer Freiheitsplatz/Piața Libertății zu sehen. Die meisten Bilder werden zu diesem Anlass zum ersten Mal der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Fotoausstellung ist jedoch Teil eines unfangreichen Kunstprojekts. Zusammen mit dem Temeswarer Künstler Adrian Florin Pop hat Cătălin Regea eine zeitgenössische, visuelle, multimediale Ausstellung konzipiert.

„´35“ – bietet eine  Ansicht auf die Ereignisse vom Dezember 1989, eine Mischung von Gefühlen und Erlebnissen und erzählt sowohl von den Tagen der Revolution sowie vom Leben der Rumänen bis zum Absturz des kommunistischen Regimes als auch vom Leben danach – von den ersten Versuchen, sich in den Jahren nach der Wende an die Freiheit anzupassen.

„Nun, 35 Jahre nach der Revolution war der Moment, als es wir uns erlaubt haben, auf eine neue moderne Weise auf die Bilder einzuwirken, die von den Ereignissen jener Zeit erzählen“, sagt der Künstler Adrian Florin Pop. Auf 800 Quadratmetern, auf zwei Gebäudeniveaus bietet die Ausstellung eine Reise durch Vergangenheit und Gegenwart, die durch Ton und Videomaterial, Projektionen und Malerei angetrieben wird. Die Originalfotografien von Cătălin Regea sind dabei von Adrian Florin Pop neu interpretiert worden.

Ein altes Dacia-Auto – der Traum aller Bürger im Kommunismus, die Illusion der Bewegungsfreiheit – ist das erste Element, das die Besucher schon am Eingang in der Stadtkommandantur empfängt. Die Ausstellung führt dann durch einen symbolischen Lebensmittelladen - „Alimentara“ - an dessen leeren Haken der „gesamte Hunger“ der kommunistischen Zeiten hängt. Wie ein Labyrinth schlängelt sich dann die Ausstellung durch das Gebäude, mit den verschiedensten Elementen, die manchmal mit der Nostalgie der Besucher und der Dramatik der vergangenen Zeiten spielen. Ein ständiges Hin und Her der Gefühle mit vielen kontrastierenden Bildern aus dem rumänischen Kommunismus sowie eine politische Satire mit aktuellen Themen und Figuren aus dem In- und Ausland.
Seit der Eröffnung von „´35“ im Dezember 2024 wurde die Expo von über 32.000 Besuchern aus aller Welt besichtigt. Teenager und Erwachsene, Revolutionäre, einfache Passanten, Touristen, bekannte Journalisten (Niculai Constantin Munteanu – die Stimme der Freiheit vom „Radio Free Europe“) und sogar ein ehemaliger rumänischer Staatschef – Emil Constantinescu – besuchten die Ausstellung in den letzten Wochen.

Besucher konnten sich selbst, Verwandte oder Bekannte auf den historischen Bildern der Revolution wiederfinden. „Es war sehr bewegend für mich, als eine Touristin aus Serbien, die zufällig die Ausstellung besuchte, uns erzählte, dass ihr Vater, ein Journalist aus dem ehemaligen Jugoslawien, zum ersten Journalistenteam gehörte, das unmittelbar nach der Öffnung der Grenzen am 22. Dezember 1989 nach Temeswar kam, um von der Revolution zu berichten. Als ich ihr erzählte, dass wir in einem anderen Raum ein von Cătălin aufgenommenes Foto von einigen serbischen Journalisten hatten, führte ich sie schnell zum Bild hin. Die Frau begann plötzlich zu weinen. Im Vordergrund war ihr Vater, der inzwischen verstorben ist, zu sehen“, erzählt der Künstler Adrian Florin Pop.
Die Ausstellung bleibt noch bis zum 15. März geöffnet. Diese Entscheidung hat nun einen weiteren symbolischen Grund. „Es soll eine Brücke zum 35. Jahrestag der Verlesung der Proklamation von Temeswar am 11. März 1990 geschaffen werden“, sagt der Revolutionär Cătălin Regea. Die „Proclamația de la Timișoara“ war ein Dokument mit dreizehn Punkten, das von führenden Teilnehmern der Rumänischen Revolution 1989 verfasst wurde. Sie war zum Teil eine Reaktion auf die ersten politischen Unruhen nach der Wende. Die Unterzeichner aus den Reihen der Gesellschaft Timișoara (Societatea Timișoara) und anderen Organisationen von Studenten und Arbeitern brachten hierin die liberal-demokratischen Ziele des Geistes der Revolution zum Ausdruck. Die bekannteste Forderung des Dokumentes bildet Punkt 8, in dem eine Sperre für alle Kader der Nomenklatura der ehemaligen Rumänischen Kommunistischen Partei und Securitate bei der Besetzung von öffentlichen Ämtern für einen Zeitraum von zehn Jahren (oder drei aufeinander folgenden Legislaturperioden) gefordert wurde. Auf dem Gebäude der Stadtkomandantur ist vor mehreren Jahren auch ein Plakat mit der Inschrift der Proklamation angebracht worden. In der Woche vom 11. März wird die „´35“-Ausstellung zum Thema der Proklamation auf dem Freiheitsplatz erweitert. Der Eintritt zur gesamten Ausstellung ist frei.