Auf dem Magheru-Boulevard, zwischen Str. Verona und Str. Rosetti: Nebeneinander stehen und verkommen hier historische, für die Stadt emblematische Bauwerke. Die Endpunkte auf diesem Abschnitt markieren der ARO-Patria-Block aus den 1930er Jahren inklusive des berühmten Kinos mit 1200 Plätzen – er gilt als erstes modernistisches Gebäude der Hauptstadt und stilprägend für diesen Bereich der Stadt – und der Scala-Block ebenfalls mit gleichnamigem Kino – erbaut genau an der Stelle, wo sein Vorgänger unter diesem Namen während des großen Erdbebens 1977 zusammenbrach. Beide Kinos sind lange dicht, beide Fassaden großflächig mit Werbebannern verhängt, doch drinnen scheinen noch Menschen zu wohnen und im Erdgeschoss halten sich kleinere Geschäfte. Neben den Hauseingängen sind deutlich sichtbare Warnhinweise angebracht: Kategorie 1 „risc seismic“ – Einsturzgefahr im Falle eines Erdbebens.
An vielen Orten der Stadt, vorwiegend jedoch im Zentrum und der Altstadt, sind die roten Punkte an der Hauswand zu sehen – zu unterscheiden von den allgegenwärtigen „aten]ie, cade tencuiala“-Schildern, die nur vor bröckelnder Fassade warnen. Beide Symbole kennzeichnen ein Bukarester Problem: verfallende Gebäude, die eine gravierende Gefahr für Bewohner und Passanten darstellen.
Die Gründe für den Verfall sind vielfältig und haben doch meist mit Geld zu tun. Die rechtliche Verantwortung liegt bei den Eigentümern. Unklare Eigentümerverhältnisse, Erbstreitigkeiten, mittellose, unwissende, fahrlässige, profitgierige und/oder verzogene Besitzer, „besetzte“ Häuser – in vielen Fällen kümmert sich niemand darum, dass notwendige Renovierungs- oder Konsolidierungsarbeiten erfolgen bzw. das Erdbebenrisiko der Immobilie untersucht wird.
Von der bröckelnden Fassade zur Einsturzgefahr
Vielleicht kann man es so sortieren: Erdbebengefährdete Häuser sind häufig älteren Datums – viele von ihnen aus der Zwischenkriegszeit - und haben auch sichtbare Fassadenprobleme. Umgekehrt muss nicht jedes Gebäude mit einem fragilen Äußeren strukturelle Probleme im Inneren aufweisen. Dann gibt es noch Gebäude, die für den Laien von außen nicht als Problemfall erkennbar sind, aber aufgrund eines riskanten Grundrisses oder der verwendeten Materialien im relativ wahrscheinlichen Falle eines stärkeren Erdbebens vermutlich in sich zusammenklappen würden. Auch Vorschädigungen durch das massive Erdbeben 1977, im Nachhinein vielfach nicht behoben, spielen eine Rolle - wie im Falle des ARO-Patria-Blocks.
Wenn die Gefahr der Menschen, bei einem Erdbeben unter ihren Häusern begraben zu werden, die eine Seite der Medaille ist, dann ist die Sorge um den architektonischen Wert, das kulturelle Erbe der betroffenen Gebäude die andere. Beide Blickwinkel auf das Problem sind auch relevant für jene, die den Auftrag haben, den Gebäudebestand der Stadt Bukarest erdbebensicherer zu machen.
Răzvan Munteanu, Direktor der stadteigenen Gesellschaft zur Konsolidierung erdbebengefährdeter Gebäude (Asociația Municipală pentru Consolidarea Clădirilor cu Risc Seismic – AMCCRS), macht bei einem Gespräch in seinem Büro keinen Hehl daraus, wo seine Prioritäten liegen. „Am wichtigsten ist der soziale Aspekt, denn wir reden hier auch über die Verletzlichkeit von Menschen, über die Ängste von Menschen. Warum machen wir diese Arbeit eigentlich? Wir machen es für die Menschen. Wir retten Menschenleben, indem wir die Gebäude konsolidieren, in denen sie leben.“
Wie groß ist das Problem tatsächlich?
Die Weltbank geht von etwa 20.000 potenziell gefährdeten Gebäuden in der rumänischen Hauptstadt aus. Auf der Website der AMCCRS sind die evaluierten und klassifizierten Gebäude der Hauptstadt aufgelistet, insgesamt etwa 2800 Stück, ein Großteil davon in den kritischen Kategorien 1 und 2 bzw. sogenannte Notfälle. Längst nicht alle gefährdeten Gebäude sind jedoch erfasst, geschweige denn sichtbar gekennzeichnet.
Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie die Einstufung erfolgt. Munteanu benutzt zwecks Erläuterung eine Doktor-Analogie: Die Einstufung in eine Erdbebenrisikokategorie erfolgt auf Grundlage einer technischen Expertise, die staatlich anerkannte Spezialisten erstellen. Diese Expertise muss, auch wenn sie von der Stadt bezahlt werden kann, von den Eigentümern in Auftrag gegeben werden. Bisher war es so, dass diese aus eigenen Stücken zur Stadt gehen mussten, um ihre Immobilie durchchecken zu lassen und eine Diagnose zu bekommen.
Seit etwa zwei Jahren hat die städtischen Konsolidierungsagentur ein Instrument zur Verfügung, das helfen soll, deutlich mehr gefährdete Gebäude zu erfassen: Die sogenannte visuelle Schnellevaluierung, die Experten von außen, ohne Betreten des Gebäudes – und ohne Auftrag der Besitzer – durchführen. Diese Einschätzung ist der weiterhin ausschlaggebenden technischen Expertise – von innen – vorgeschaltet.
Die so evaluierten Gebäude werden auf einer Dringlichkeits-Rangliste für die technische Expertise platziert, die Eigentümer über das Ergebnis offiziell in Kenntnis gesetzt und aufgefordert, die Erdbebengefahr konkret untersuchen zu lassen. Die Regelung beinhaltet auch einen Sanktionsmechanismus, falls mehrfachen Aufforderungen nicht nachgekommen wird.
Die Stadt kann jetzt also ein „Gesundheitsscreening“ des Gebäudebestands durchführen und auffällige Kandidaten „zur Untersuchung“ schicken. Und in der Folge hoffentlich eine systematischere Konsolidierungsstrategie entwickeln. Die AMCCRS plant im kommenden Jahr 15.000 Immobilien schnellzuevaluieren. Wie erfolgreich dieser Ansatz sein wird, bleibt abzuwarten. Klar ist: Eine verlässliche Aussage über die Anzahl einsturzgefährdeter Häuser in Bukarest im Falle eines Erdbebens ist aktuell nicht möglich.
Was tut die Stadt?
Was wurde bisher gemacht? Man könnte ohne viel Übertreibung sagen, Stadt, Staat und Eigentümer haben die Dinge laufenlassen. Zwar gab es seit 1994 ein staatliches Finanzierungsprogramm für Konsolidierungsarbeiten, erklärt Munteanu, die Zugangskriterien waren jedoch relativ strikt, das Interesse, eventuell auch das Vertrauen bei den Eigentümern gering. „Und dann über 30 Jahre nach der Revolution haben die Rumänen es bevorzugt, den Komfort des Interieurs zu erhöhen, mal eine Wand aufzulösen, alle möglichen Modernisierungsarbeiten durchzuführen, aber ohne die Substanz des Problems anzugehen.“ Die Folge: Zwischen 1994 und 2022 wurden in Bukarest lediglich 35 Gebäude mit öffentlichem Geld erdbebensicher gemacht.
Seit 2022 haben sich die Voraussetzungen aufgrund einer Gesetzesänderung und neuer EU-Finanzmittel aus dem Nationalen Aufbau- und Resilienzplan (PNRR) deutlich verändert. Den aktuellen Ansatz von Regierung und Verwaltung kann man laut Munteanu am besten mit Zuckerbrot und Peitsche beschreiben. Das Zuckerbrot besteht aus den aufgestockten und attraktiveren staatlichen Finanzierungsmöglichkeiten, für die inzwischen nur noch eine 50+1 Mehrheit der Eigentümer gefunden werden muss. Die Peitsche äußert sich zum Beispiel in dem Verbot, Wohnungen in Gebäuden der Kategorie 1 zu vermieten, in verstärkten Kontrollen der lokalen Behörden und dem Versuch, Eigentümer, die ihre Häuser nicht instand halten, über Steuererhöhungen zum Renovieren zu bewegen.
Munteanu macht deutlich, dass es nachwievor ein mühsames Unterfangen ist, die Eigentümer zu mobilisieren, auch wenn langsam ein Umdenken stattfinde. In den letzten drei Monaten habe man 80 Gespräche mit Eigentümer(-gemeinschaften) geführt, häufig vor Ort. Was danach kommt, ist ein Verwaltungsprozess, der in der Regel eineinhalb bis zwei Jahre dauert: Wenn die 50+1 Mehrheit steht, kann die technische Expertise erstellt werden. Bestätigt diese den Verdacht des Erdbebenrisikos, wird das Projekt beim Nationalen Ministerium für Entwicklung eingereicht, um eine Finanzierungszusage zu erhalten.
Es folgen: Machbarkeitsstudie, Gutachten verschiedener Institutionen und Werben um Zustimmung im Stadtrat, im Anschluss Beantragung der Baugenehmigung sowie Abschluss eines Finanzierungsvertrages mit dem Ministerium. Weiter: Durchführung des Ausschreibeverfahrens, Verträge mit Bauunternehmen und vor Erteilen der Baugenehmigung Verträge mit den Eigentümern, die eine gewisse Eigenbeteiligung zu tragen haben und – nicht ganz unproblematisch – für den Zeitraum der Bauarbeiten in städtische Ausweichquartiere umziehen müssen.
„Gewöhnlich werden wir gefragt: Wieviele Gebäude habt ihr in der Konsolidierung?“, sagt Răzvan Munteanu. „Doch hier kann die Antwort unterschiedlich ausfallen, denn die allgemeine Wahrnehmung ist: Wieviele Baustellen gibt es tatsächlich? Aber unser Verständnis ist: Für wieviele Gebäude machen wir die Vorbereitung und haben Dokumente, um mit ihnen zur Baustelle zu gelangen.“ Die differenzierte Antwort auf die Frage lautet also, die AMCCRS betreut aktuell ca. 160 Gebäude in unterschiedlichen Phasen jenseits der Einwilligung der Eigentümer. Davon befinden sich zehn im Bauprozess.
Die Zahlen machen klar: Die öffentliche Förderung von Konsolidierungsmaßnahmen kann unter den aktuellen Bedingungen nur in begrenztem Umfang Abhilfe schaffen. Der Bedarf ist erheblich größer und gleichzeitig sind die Handlungsmöglichkeiten der Behörden nicht nur durch die Finanzen beschränkt. Dennoch gibt es Lichtblicke: Der Scala-Block sowie das ARO-Patria-Gebäude befinden sich seit letztem bzw. diesem Jahr auf der Liste der geförderten Konsolidierungsprojekte. In absehbarer Zeit dürften Renovierungsmaßnahmen beginnen.