Der Zug kommt rechtzeitig in Klausenburg an. Im Volksmund wird er „Hungerzug“ genannt, weil er aus der Moldau ins Banat fährt und einst die ärmsten Bewohner Rumäniens in die wohlhabendere Westregion beförderte. Vier Waggons hat der Zug. Platz 56, Waggon Nr. 1, steht auf der Fahrkarte geschrieben. „Ihr Platz ist im letzten Eisenbahnwagen“, erklärt die Schaffnerin. In dem Abteil stinkt es stechend nach abgestandenem Bier. Eine leere Ciucaş-Plastikflasche liegt auf dem Boden, das wenige Bier, das darin noch geblieben war, fließt über den ganzen Fußboden. Die Sitzplätze sind mit lila Überzügen aus weichem Kunstmaterial mit weißen Pünktchen versehen. „Weiß, das war einmal“, überlegt die Journalistin und setzt sich auf Platz 56. In dem Abteil wurde wohl seit Tagen oder sogar länger nicht mehr sauber gemacht. Über den Stühlen kleben Sticker, die die Sitzplatznummern angeben, Sticker in verschiedenen Formen und Farben. Ein dumpfes Licht beleuchtet das Abteil. Es ist so warm im Zug, dass man die Jacke, die man wegen des Schmutzes am liebsten angelassen hätte, unbedingt ausziehen muss. Draußen regnet es fein. Die Landschaft kann man beim besten Willen nicht bewundern, so beschlagen und schmutzig sind die Fenster mit doppelten Fensterscheiben.
Vier Fahrgäste teilen sich am heutigen Welttag des Glücks das Abteil. Es ist der 65-jährige Mann mit Schnurrbart und Hut mit breiter Krempe, mit braunen Lederschuhen, sorgfältig gebügelter Stoffhose und grau-brauner Lederjacke, die 30-jährige Schönheit mit dunkelrotem, lockigem Haar, langen Ohrringen und Animal-Print-Pullover, der 50-jährige Mann mit schwarzer Sportjacke, der in Klausenburg noch schnell eine Neumarkt-Flasche kauft, und die 33-jährige Journalistin mit grauem Pullover, rot lackierten Fingernägeln und Brille, die sich am liebsten in ihre Lektüre vertiefen würde. Doch das Ambiente ist überhaupt nicht lesefreundlich an jenem Nachmittag. Die Schöne mit olivenfarbener Haut und etwas schmutzigen Fingernägeln schimpft laut. Ihr Liebhaber hat offensichtlich keine Zeit, um sich mit ihr am Telefon zu unterhalten. Auf ihrem Handy spielt sie rumänische „manele“ ab. Leise, aber laut genug, damit auch die anderen mithören können. Müssen. Sollen.
Wie schön doch die Menschen sind! Die junge, dunkelhäutige Frau, die schlimmer flucht als ein aggressiver Autofahrer, der 50-Jährige, der mit so viel Durst das Bier aus seiner PET-Flasche schlürft, als ob es Lebenselixier wäre, und der ältere Herr mit großen Augenringen, der vor sich hin döst! Da, unter diesen Leuten, fühlt sich die 33-jährige Journalistin wohl. Obwohl eigentlich die Reise mit dem „Hungerszug“ eine der unangenehmsten ist, die man in Rumänien über sich ergehen lassen kann. Doch hier, in diesem Zug, pulsiert das Leben. Leben gibt es nicht nur in den Hörsälen an der Uni oder in den Theaterhäusern. Leben ist überall. Und es ist grundsätzlich schön. „Geld, Geld, du redest nur von Geld! Geld ist nicht alles“, schreit die junge Frau ihren Lover an und legt, zitternd vor Wut, das Handy auf. Sie würde der Journalistin das Telefon am liebsten an den Kopf schlagen, doch sie hält inne und ihr Blick verliert sich in der Weite des dunklen Nichts. „Wenn du dich auf den Boden legen würdest, um selbst zu testen, wie ein Obdachloser, der unter freiem Himmel übernachtet, die Sterne sieht, dann bist du Journalist“, hatte einst der rumänische Kommentator Cristian Tudor Popescu den Publizisten-Beruf beschrieben. Diese Worte prägten sich der Journalistin, die am heutigen Nachmittag von Klausenburg nach Temeswar reist, tief ins Gedächtnis ein. Und plötzlich wusste sie, warum sie am Weltglückstag so glücklich war.