Irgendwo am Ende der Welt entleert sich ein Wagen mit vergitterten Fenstern. Die Männer, die ihm entströmen, bewegen sich etwas seltsam. So, als müssten sie sich erst langsam überhaupt daran gewöhnen. Und auch an das Tageslicht, an die Luft, an die Sonne, die Geräusche und Gerüche. An das lang entbehrte Gefühl von Freiheit...
Chilia Veche. Ein isolierter Ort im Nirgendwo des Donaudeltas, dort, wo man die Landkarte mit dem Nagel an die Wand pinnt. In unmittelbarer Nähe liegt Periprava: ein Name, der vielen noch heute Schauer über den Rücken jagt. Dort lag das berüchtigte Gefängnis für politische Häftlinge zur Zeit des Kommunismus. Doch als ob die Geschichte nun Gerechtigkeit einforderte, hat Chilia Veche im Gegensatz zu Periprava gute Chancen, als Musterbeispiel für ein bahnbrechendes Experiment im Strafvollzug einzugehen: Es ist der Ort, an dem sich eine neue Perspektive aufzeigt, wie man in Zukunft Häftlinge behandeln und auf eine Reintegration in die Gesellschaft vorbereiten könnte.
Rumänisch-norwegisches Projekt
Über das Projekt „Etablierung eines ökologischen Mechanismus zur sozialen Reintegration von Häftlingen“ der beiden Nichtregierungsorganisationen Ivan Patzaichin - Mila 23 und Romano ButiQ, das zusammen mit der Nationalen Gefängnisverwaltung Rumäniens, der Administration der Gefängnisse Norwegen-Süd und dem Gefängnis Tulcea in Chilia Veche unternommen und mit Norwegen-Fonds finanziert wurde, berichteten die Beteiligten auf der Konferenz „Human Ecology“ Ende Juni im Bukarester Dalles- Saal. Als Sprecher geladen waren Cătălin Claudiu Bejan, Generaldirektor der Nationalen Gefängnisverwaltung, Arne Kvernik Nilsen, ehemaliger Anstaltsleiter des norwegischen Gefängnisses Bastřy, die Bukarester Soziologin Andrada Istrate, die in Chilia Veche Interviews mit den Häftlingen führte und Teodor Frolu, Vertreter der Vereinigung Ivan Patzaichin - Mila 23. Und wie ein schüchterner Zaungast - oder besser, wie ein guter Geist, der schützend über allem wacht - konnte man auch Ivan Patzaichin in der letzten Zuschauerreihe begegnen. Der ehemalige Ruderweltmeister, der sich heute für Ökotourismus und Naturschutz in seiner Heimat, dem Donaudelta, einsetzt, ist die Seele dieses ehrgeizigen Pilotprojekts.
Ökologisch Bauen als Therapie
Langsam wachsen Mauern aus dem flachen Sandboden. Mit Ziegeln aus Lehm, Mist und Stroh. Mit Wänden aus Flechtwerk, isoliert mit Wolle und Schilf. Mit Schilfdächern, wie man sie heute selbst im Donaudelta nur noch selten antrifft. „So eine Bautechnik hab ich noch nirgendwo gesehen“, äußert einer der Häftlinge verwundert. Anfangs kursierten wilde Gerüchte unter den Männern, amüsiert sich Andrada Istrate. Es sei nur ein Geldwäsche-Projekt, meinten die einen. Andere mutmaßten, sie sollten Villen für Reiche bauen. Keiner glaubte, dass an diesem Ort etwas entstehen könne, das ihnen zugute kommt. Dass das Projekt überhaupt ihretwegen begonnen wurde.
Die Gebäude, die hier in einem ersten Workshop entstanden, werden für weitere Etappen des Projekts als Werkstätten und Unterkünfte dienen. Für Kurse, in denen die Häftlinge eine Berufsausbildung erhalten, die ihnen bei der Reintegration von Nutzen sein sollen: Hausbau mit ökologischen Materialien, Schreinerei, Bio-Landwirtschaft, Korbflechten und Töpfern. Nischenberufe, die vom Aussterben bedroht oder schon längst verschwunden sind, und wiederbelebt werden sollen.
Vier Monate dauerte der erste Kurs - für die Männer eine Art Wiedergeburt! Nicht nur, dass sie sich in Zivilkleidung von den Aufsehern nicht unterschieden und frei bewegen konnten, sondern auch im Hinblick auf ihr Selbstbewusstsein. „Eine Mikrogesellschaft mit therapeutischem Effekt“, diagnostiziert Cătălin Bejan nach seinem Besuch auf der „Insel“ hinter dem Damm, den einst die Insassen von Peridava als Zwangsarbeiter errichten mussten. Was früher zu viel war, ist heute zu wenig: Wenn die Häftlinge nach dem Absitzen ihrer Strafe freikommen, erklärt Andrada Istrate, sind sie erstmal wie gelähmt. Etwa einen Monat dauert es, bis sie sich an das Leben jenseits der Zellenwände gewöhnen. Die meisten verbringen diese Zeit im Haus. Sie sind nicht mehr an den Wechsel von Lichtern und Geräuschen gewöhnt, erst recht nicht an körperliche Aktivität und den Rhythmus des Alltags.
Das Wichtigste ist Hoffnung
Arne Kvernik Nilsen war ein paar Wochen zuvor zu einem internationalen Workshop eingeladen, wo er über seine Erfahrungen in Rumänien berichten sollte. „Ich hätte über die Herausforderungen dieses Projekts sprechen können“, hob er an, „doch ich sprach darüber, was ich als norwegischer Partner hier gelernt habe.“ Das seien vor allem zwei Dinge: Der Umgang mit Häftlingen muss sich ändern! Dazu gehört auch ein Kontakt zur freien Natur, vor allem aber das Erfahren von Respekt und das Erlernen von Verantwortung. „Wie sollen sie denn Respekt vor mir haben, wenn sie kein Selbstbewusstsein kennen? Wenn sie nie gelernt haben, sich selbst zu respektieren?“, provoziert er. Genauso wichtig sei es, zu erfahren, dass eine Veränderung in ihrem Leben möglich ist. Chilia Veche könne als Beispiel dafür dienen, auch wenn sich das Projekt nicht auf andere Haftanstalten übertragen ließe.
„Als ich von dem Kurs hörte, sagte ich sofort: ich gehe!“, verrät einer der teilnehmenden Häftlinge. „90 Prozent sind Arbeit, aber das tut mir gut. Seit über vier Jahren tue ich nichts. Wenn du mich geschubst hättest, ich wäre wohl einfach umgefallen, ich hatte keine Lust mehr...“, gesteht er. „Aber jetzt bin ich wieder zu Kräften gekommen, es ist als ob ich in Freiheit wäre. Du gehst hin, kommst abgearbeitet zurück, gehst wieder hin, als ob du einen Beruf draußen hättest. Und auf dem Weg zur Arbeit siehst du mal einen Hof, mal was anderes. Es verändert deine Gedanken! Als ich von Tulcea hierher kam zum Kurs - Mirabellen, Pflaumen! Wo bin ich hingekommen? Ins Leben!“
„Ich habe Partner getroffen, die mich inspirierten“, bekennt der Norweger. „Und Häftlinge mit Hoffnung!“ , fügt er bewegt hinzu.
Den Umgang mit Kriminellen ändern
Die Arbeit in Chilia Veche ist freiwillig, zugelassen werden nur Häftlinge aus dem halboffenen oder offenen Vollzug, erklärt Frolu. Anfangs war der allgemeine Wunsch, dort zu arbeiten, nicht besonders groß, obwohl die Teilnahme als Bonus für den Erwerb gewisser Vorteile wie Haftverkürzung angerechnet wurde. Das Gebiet liegt ziemlich isoliert, die Wege sind lang. Doch bald änderten die Teilnehmer ihre Meinung. „Es ist das beste Gefängnis der Welt“, begeistert sich zum Schluss ein Häftling. In Chilia Veche sind keine Wunder geschehen: Die Insassen lernten, wie man misst und Pläne liest, wie man sich die Arbeit einteilt und den richtigen Rhythmus findet. „Viele glauben zwar nicht, dass sie die neu erworbenen Kenntnisse tatsächlich beruflich einsetzen können, doch sie wollten sie zumindest für den Bau ihrer eigenen Häuser nutzen“, erklärt Andrada Istrate. „Der Häuserbau an sich ist fast nebensächlich“, meint Teodor Frolu. In dem Projekt kommt es auf andere Erfahrungen an!
„Ich bin schon etwas älter“, verrät ein weiterer Häftling. „Sie haben mich arbeiten lassen, wie ich eben konnte: langsam“, fährt er fort. „Schau, der gesamte Putz hier ist von mir gemacht! ‚Alter, du bist langsam, aber gut‘, sagte mir der Major. Und so hab ich eben langsam weitergemacht, damit auch etwas Schönes dabei rauskommt. Ein Kunstwerk, wie sie hier sagen. Das wollte ich: etwas Vernünftiges hinterlassen, sodass hier eine Erinnerung an mich zurückbleibt.“
„Wir müssen uns die Frage stellen: Wie bestrafen wir?“, fährt Arne Kvernik Nilsen fort. „Denn eines Tages werden diese Leute in die Gesellschaft zurückkehren.“ Viele von ihnen - in Rumänien, aber auch in Norwegen - wurden nie reintegriert, gibt er zu Bedenken. „Was man jahrelang praktiziert hat, hat nicht funktioniert.“ Eine ganz andere Herangehensweise im Umgang mit Häftlingen müsse entwickelt werden, so der Norweger. Das Projekt sei ein Modell, das zeigt, wie es gehen kann: „Und Rumänien könnte ein Beispiel werden, wie man Kriminelle in Zukunft behandelt.“