Durch den Schneiderturm mit den beiden Einfahrtstoren betreten wir die Burg. Brütende Hitze. Bunter Trubel auf dem Burgplatz. Doch biegen wir davor in ein schmales Gässchen ein, ächzen mit schweren Rucksäcken über allzu grobes Kopfsteinpflaster tapfer bergan. Sind wir hier richtig? Die Sonne geht glühend unter. Aus der Ferne dringt die Musik des multiethnischen Festivals ProEtnica herüber, für das wir an jenem Augustwochenende hergekommen waren. Dann stehen wir vor einem hölzernen Schild: „Pensiune Zidul Cetății“. Eine Tür, über der direkt das Ziegeldach beginnt. Wir sehen uns suchend um. Hier, in der Stadtmauer, soll eine Unterkunft sein?
Minuten später betreten wir eine andere Welt. Während draußen in der Sommerhitze das Spektakel tobt, ist es drinnen angenehm kühl. Eine steile hölzerne Treppe – welch gewagte Konstruktion! – führt in einem hohen, schmalen Raum hinauf in unser Zimmer. Ringsum: Wände aus Stein. Ruhe. Schatten. Schutz vor Hitze und Lärm. So fühlt es sich im Inneren der Stadtmauer an.
Das Haus klebt tatsächlich außen an der historischen Mauer der Burg, erzählen die Besitzer, Ramona und Eugen Rogoz. Seit seiner Geburt, 1977, lebt Eugen Rogoz darin. Damals gab es nur vier rumänische Familien in der sächsischen Festung. Nach der Wende gehörten er und Ramona zu den ersten, die ein Zimmer vermieteten. Anfangs kamen die Rucksackreisenden auf der Suche nach einem Schlafplatz. Vor sechs Jahren haben sie dann schrittweise das Haus restauriert. In authentischem sächsischem Stil, betont Eugen und zeigt auf einen Balken mit Aufschrift „1832“: „Das war vorher mit Pappe abgedeckt und verputzt.“
Faszinierende Architektur
Unser Zimmer wirkt von innen wie ein kleiner Turm. Auch hier ringsum grobe Steinmauern. Ein schmales Fenster in der Höhe, das nachts Frischluft hereinlässt, Klimaanlagen sind in der als UNESCO-Kulturerbe geschützten Burg verboten. Es ist warm, aber nicht stickig. Und dies auch erst, seit die Sommer so ungewöhnlich heiß sind, erzählt Eugen Rogoz. Denn eigentlich kühlt die Mauer im Sommer und wärmt im Winter, feucht sei es nie gewesen.
Beim Ausbau haben die Rogoz auf guten Geschmack, Authenzität und Qualität gesetzt. Die meisten Besucher, „sie kommen aus aller Welt, auch aus China, Japan, Spanien, Australien, Amerika…“, sind begeistert von dem urigen Wohnen mitten in der Burgmauer. Nur die Pandemie und der Ukraine-Krieg zeigten, wie fragil die Tourismusbranche sein kann: „Da wurden innerhalb von drei Tagen die Buchungen für ein ganzes Jahr storniert, pausenlos ging das Handy“, erzählt er vom Kriegsbeginn im Nachbarland.
Was uns besticht, ist die funktionale Elegance des Badezimmers: Armaturen und Abfluss von bester Qualität; statt Duschkabine mit rutschiger Bodenwanne nur Glaswand und raue Fliesen. So sind die Bäder im ganzen Haus, erklärt Eugen Rogoz, denn zuvor habe sich seine Frau ständig als Klempnerin betätigen müssen, „immer mit dem Mops in der Hand“ weil dauernd etwas kaputt ging, was für die Gäste sofort repariert werden musste. Da er sich hauptberuflich um die 18 Kilometer entfernte Rinderfarm kümmert, die mit 200 Kühen eine deutsche Firma mit Milch beliefert, führt Ramona die Pension alleine.
Im Schatten berühmter Sachsen
Nach drei Tagen Reportagen, Interviews, Konzerten auf dem Burgplatz strecken wir den Rogoz die Hand zum Abschied hin. „Können Sie Deutsch?“, fragt mein Mann aus dem Blauen heraus, ein übrig gebliebenes „Komm mit“ in der Hand, das er gerade wegstecken wollte. Ein überraschendes Ja von Eugen Rogoz – und wir finden uns im Garten vor einem Kaffee wieder und lauschen einer langen, spannenden Geschichte, mal rumänisch, mal deutsch erzählt: seiner eigenen, verwoben mit der des Hauses, umringt von den Schatten der Menschen, die diese Mauern einst belebten. Berühmte und weniger berühmte Siebenbürger Sachsen. Bis der Exodus einsetzte und eine Lücke hinterließ, die Eugen, der in ihrer Mitte aufgewachsen war, bis heute als schmerzhaft empfindet...
„Ich weiß wenig über dieses Haus, obwohl ich versuchte, über Grundbuch und Dokumente möglichst viel zu erfahren“, hebt er bedauernd an. „Meine Mutter erzählte, dass es um 1500 begonnen wurde, um 1600 wurde der untere Teil angebaut. Um 1700 hat hier der Besitzer eines Freudenhauses in Mediasch gewohnt, der hat dann für seinen Sohn weiter aufgestockt.“
Der wohl berühmteste Bewohner aber war der Maler, Zeichner, Lithograf und Fotograf Ludwig Friedrich Schuller (1826–1906). Als Sohn eines Siebenbürgischen evangelischen Pfarrers im österreichischen Kärnten geboren, hatte er auf einer ersten Reise nach Siebenbürgen 1845 den Entschluss gefasst, in die Heimat seines Vaters zurückzukehren. Und obwohl er auf eine internationale Karriere zurückblickte – Venedig, Klagenfurt, Paris – kam er tatsächlich 1857 nach Schäßburg, als Zeichenlehrer am Schäßburger Gymnasium (Bergschule), das später auch Eugen Rogoz und seine Töchter besuchten.
Im selben Haus lebte Schullers Tochter Betty (1860-1904), wahrscheinlich sogar dort geboren, die es ebenfalls als Künstlerin zu Ruhm brachte. Betty erhielt ihren ersten Unterricht im Zeichnen und Malen von ihrem Vater. Obwohl gesundheitliche Probleme ihre Karriere schwer überschatteten, studierte sie 1884/85 an der Zeichenakademie in Graz als erste Siebenbürgerin an einer ausländischen Kunstschule. Anschließend kehrte sie in die Heimat zurück, wo sie als Aquarellmalerin von Landschaften große Anerkennung fand. Betty Schuller starb zwei Jahre vor ihrem Vater in Schäßburg. Vermutlich auch in diesem Haus...
„Keiner ist mit Blasmusik gegangen“
Eugen Rogoz ist Rumäne, doch in der Gemeinschaft der Sachsen aufgewachsen. „Mein Großvater war ein Hidvegy“, hebt er zu erzählen an, während sich sein kleiner Hund zu seinen Füßen einrollt, Ramona träumerisch lauscht und die Glocken der Klosterkirche erklingen... „Mit einer zweijährigen Tochter allein geblieben, heiratete er eine sächsische Kriegswitwe namens Brandsch mit drei Kindern, Otto, Edith und Pitz.“ Von ihnen lernte die kleine Adriana Hidvegy von Anfang an Deutsch und Sächsisch. „Mit der Mutter habe auch ich immer nur Deutsch gesprochen“, erzählt Eugen Rogoz. Und, dass es insgesamt vier Sprachen in der Familie gibt: Ungarisch, Rumänisch, Sächsisch und Deutsch.
Die Großeltern wohnten damals im Haus nebenan, ebenfalls direkt an der Mauer. 1977 zog Adriana, verheiratete Rogoz, mit ihrem Mann in das Haus, in dem Eugen „großgewachsen“ ist, wie er sagt, und heute noch lebt. Mit den Sachsen ging er zur Schule. Von ihnen inspiriert war sein Hobby, dem er bis heute frönt: die Zucht und Dressur von Brieftauben. Sieben rumänische Brieftaubenklubs habe es im Land gegeben,den achten hatten die Schäßburger Sachsen gegründet. „Die Sachsen waren unsere Freunde“, betont er. „Als sie weggingen, war ich in der siebten Klasse… Sie haben hier ein riesiges Loch gelassen in unseren Herzen - und auch in ihren, glaub ich“, fügt er leise an. Heimlich seien sie fortgegangen, jeden Tag hätten ein-zwei Kinder in seiner Klasse gefehlt. Nicht einmal die Eltern hatten es ihnen vorher erzählt. „Aus Angst, dass ihnen jemand die Chance wieder nimmt“, meint Eugen.
Nach der Wende sind dann auch seine Onkel und die Tante ausgewandert. „Obwohl der eine, Otto Brandsch, einmal gesagt hat: einen jungen Baum kannst du verpflanzen, aber eine alte Eiche nie.“ Otto war Meister in der Schäßburger Käsefabrik ICIL gewesen. „Der hat im Kommunismus den ersten Schweizer Löcherkäse in Rumänien gemacht“, erinnert sich Eugen Rogoz. Die Kontakte zu den Ausgewanderten seien eng geblieben, aber ihm habe Deutschland nicht gefallen, er wollte lieber hierbleiben. Immer noch traurig schüttelt er den Kopf: „Keiner ist mit Blasmusik gegangen!“
Das Haus an der Festungsmauer bewahrt das Andenken an seine Vorbesitzer. Die Geister der Vergangenheit sind hier willkommen. Bilder an den Wänden zeigen, wie das Haus früher war. „Gruss aus Schaessburg“ steht über einem Schwarzweißdruck von der unteren Fassade, der Seite außerhalb der Burg. Davor ein Mann in Mantel und Hut. Genau an der Stelle, wo jetzt Eugen Rogoz steht, während sein kleiner Hund an ihm hochspringt. Die Kamera fokussiert und – klick! – nun ist auch er hier verewigt.