Stellen wir uns als Gedankenexperiment eine Welt vor, in der alles, was wir denken, sofort Realität wird – egal, wie absurd es sein mag. Doch welcher Faktor würde dann bestimmen, welche Gedanken vor anderen, gleichzeitigen, bevorzugt werden, zumal sich manche ja auch gegenseitig widersprechen? Ich kann mir hierfür nur einen Mechanismus vorstellen: Gefühle! Egal ob positiv oder negativ, Hauptsache stark. Die Intensität der Gefühle würde die Aufmerksamkeit aus der Fülle an Gedanken zu jenen lenken, die uns offenbar wichtiger sind als andere. Diese Gewichtung würde sie dann in der materiellen Welt manifestieren.
Doch in was für einer Welt würden wir dann leben? Im Paradies – weil wir uns alle Wünsche verwirklichen könnten? Oder in der Hölle – weil sich all unsere Sorgen und Ängste materialisierten? Was wäre stärker – der Wunsch nach Glück, Wohlstand und Frieden oder die Angst vor dem Mangel daran?
Angst zieht mehr Aufmerksamkeit an
Die Wissenschaft gibt dazu Aufschluss: Wenn Versuchspersonen vor einem Bildschirm auf Bilder klicken, dann klicken sie weniger häufig auf jene, die ein im Alltag glückliches Paar, einen ruhigen See, einen Garten oder ein sympathisches Haustier darstellen. Sondern auf die mit den zerbombten Häusern, dem spektakulären Unfall, den gruseligen Phantasy-Figuren. Denn Aufregung und Angst ziehen die Aufmerksamkeit stärker an als positive Gefühle.
Das hat einen evolutionären Hintergrund: Wenn wir die Realität auf Ereignisse scannen - oder das Internet auf Nachrichten -, wollen wir zuerst wissen, welche Gefahren drohen. Sprich: Das kleine Glück kann warten, wenn wir uns gerade vor einem schnaubenden Rhinozerus in Sicherheit bringen müssen. Sinnvoll – oder?
Und so ist es nicht verwunderlich, dass Fake News erfolgreicher sind als die meist weniger spannende Wahrheit. Deren Verfasser kennen diesen Mechanismus und nutzen ihn gezielt. Klicks im Internet sind schließlich pures Geld! Und so ist es auch nicht minder verwunderlich, dass es bei der Weitergabe von Information schon lange nicht mehr um den Wahrheitsgehalt geht, sondern um das Vermitteln von Gefühlen. Sorge, Grusel, Sensation - alles Formen der Angst - lassen uns klicken und liken und teilen und gucken und verweilen. Nachrichten - das Geschäft mit der Angst! Der Angst vor dem Tod, vor Gewalt, vor Krankheit, dem Altwerden, dem Alleinsein, vor Betrug und Verlust. Wenn auf der Welt Schlimmes geschieht, füttern Nachrichten darüber unsere Angst: Oh Gott, das könnte mir vielleicht auch passieren! Wie gut, dass es andere getroffen hat! Wie gut, dass es weit weg ist! Alarmbereitschaft! Maximale Aufmerksamkeit! In der oben genannten Versuchswelt würden wir automatisch all das Negative in unser Leben ziehen. Wir gut, dass der liebe Gott uns davor bewahrt hat.
Social Media und Aufmerksamkeit
Hat er? Leben wir nicht längst in einer solchen Welt? Wer hat sie geschaffen? Die Macher von Social Media: Geldmaschinen, wo Aufmerksamkeit erregende Seiten mit Werbeeinnahmen belohnt werden. Fazit: Wer Angst sät, erntet Geld! So viel, dass es sich lohnt, den Mechanismus zu automatisieren: Darum stricken Content Farmen mittels künstlicher Intelligenz (KI) pausenlos Texte, Bilder oder Videos, die keinen anderen Zweck haben, als möglichst viel Aufmerksamkeit anzuziehen. Die Klicks und Likes sorgen für ein Maximum an Einnahmen. Den Inhalt - meist Fake News und Plagiate - hat nie ein Mensch geprüft. Er wird vor allem auf eines hinauslaufen, weil dies den größten Erfolg garantiert: Angstmache! So einfach ist die Formel. KI wird dies schnell begreifen und den Mechanismus optimieren.
Über denselben Mechanismus lässt sich nicht nur Geld scheffeln, sondern auch Macht gewinnen. Durch Verschwörungstheorien und Desinformation, die viel mehr Aufmerksamkeit erhalten als die Wahrheit, wird manipuliert und polarisiert. Hassgemeinschaften entstehen: „Wir“ gegen „die Anderen“. Versöhnliche Zwischentöne werden im Keim erstickt. Es gibt keine Debatten, keine logischen Argumente, keine Kompromisse mehr. Nur noch Follower und Gegner. So untergräbt das Spiel mit der Angst Freiheit und Demokratie.
Autoren eines perfiden Plans
Wir wundern uns, wieso die Milliardäre immer reicher werden. Wieso die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufklafft. Wieso die antidemokratischen Kräfte sich auf einmal gegen die Demokratien verschworen haben. Wieso Krisen, eine nach der anderen, wie Schachtelmännchen vor uns aufspringen: Gesundheits-, Finanz-, Wirtschafts-, Umwelt-, Klima- und militärische Krisen? Krisen – je mehr, umso besser. Sie schüren das lukrative Spiel mit der Angst!
Zu viele haben das Prinzip erkannt. Zu viele haben es noch nicht erkannt. Es gibt bessere und schlechtere Spieler. Täter und Opfer. Bleibt zum Schluss ein einziger Gewinner übrig, Mister Superreich-Weltbeherrscher? Der tun und lassen kann, was er will, solange er uns nur in Angst hält? Huch, da ist sie ja schon wieder: die Angst, die genau das füttert, was ich auf keinen Fall haben will! Und dann gucke ich auf die News, egal welche. Social Media oder die ADZ. Und sehe: Trump. Musk. Und frage mich: Wie weit sind wir noch davon entfernt?
Trump lechzt nach Grönland, dem Panamakanal, dem Gaza-Streifen. Notfalls mit militärischer Gewalt. Nicht viel Unterschied zu Putin. Fast möchte man meinen, es sei egal, wer irgendwann die Welt beherrscht, allzu demokratisch wird es da wohl nicht zugehen. Musk und Konsorten lassen sich beim Algorithmus ihrer Medien nicht in die Karten blicken. Geschweige denn, kontrollieren.
Gibt es ein Gegenmittel?
Angst erhöht auch die Glaubhaftigkeit von Konspirationstheorien, so ein Artikel auf „Psychology Today“ („Why Conspiracy Theories Are Fast Becoming Mainstream“, Tracy Dennis-Tiwary, 24.1.22). Zitiert werden darin zwei britische Studien, die ergaben, dass Menschen mit starker Angst – vor dem Tod; vor einer Prüfung – geneigter waren, Konspirationstheorien (z.B. über Juden) zu glauben.
Wenn Angst der Schlüssel ist, müsste man dann nicht die Angst bekämpfen? Leider ist es nicht so einfach: „Jahrzehntelange Forschung und klinische Wissenschaft zeigten, dass das Unterdrücken von Angstgefühlen fast immer zum Gegenteil führt“, heißt es, und „dasselbe gilt für konspiratives Denken“. Auch würden marginalisierte oder als „verrückt“ abgestempelte Gruppen noch fanatischer werden, sich noch stärker radikalisieren und gegen außen abschotten. Als einzige Möglichkeit sieht die Autorin, „unrealistische Inhalte zu identifizieren und zu ersetzen“. Vor allem Letzteres sei wichtig: das hinterlassene Vakuum zu füllen. Doch wie den falschen Zauber enttarnen? „Jemanden zu überzeugen, seine Überzeugung zu ändern, ist, als wolle man jemanden motivieren, seinen Stamm zu wechseln“, sagt Schriftsteller James Clear. Wenig radikalisierte Anhänger könne man mit Aufklärung und soliden Faken überzeugen, meint Dennis-Tiwary. Wichtig dabei sei genau das, was einem bei Verschwörungstheoretikern am schwersten fällt: Sie nicht ins Lächerliche ziehen - und Empathie.
Das Geschäft mit den Gefühlen
Anhänger von Verschwörungstheorien sind wie ein Stamm: Die Gruppe, das „Wir“ gegen „die Anderen“, gibt Sicherheit in einer beängstigenden Welt. Klar, es geht nicht ohne Empathie, wenn jemand „den Stamm wechseln“ soll...
Es klingt einfach – doch ist es ein Kampf gegen Windmühlen in Anbetracht der Armee an Bot-Robotern, die gezielt und unter Ausnutzung von Gefühlen Falschnachrichten verbreiten und dabei vortäuschen, menschlich zu sein. Erst Ende letzten Jahres wurde von deutschen Wissenschaftlern ein solches Netz an über 8000 Bots mit KI-generierten Gesichtern identifiziert, schreibt Jose Antonio Lanz auf Decrypt.co. Die Studie stellt fest: Es ist für Menschen fast unmöglich, zwischen diesen Bots und echten Social Media-Konten zu unterscheiden. Man könne sie aber mittels KI anhand einiger Kriterien identifizieren. Bots interagieren weniger mit ihren Followern, reagieren seltener auf Kommentare, wurden oft in Massen zur selben Zeit geschaffen und weisen ein koordiniertes Aktivitätsmuster auf.
Diese Erkenntnisse gewinnen umso mehr an Bedeutung vor der Analyse des „Center for Countering Digital Hate“, eine britisch-amerikanische Non-Profit NGO, die aufzeigte, dass die politischen Posts von Elon Musk, Besitzer der Plattform X, die Trump als US-Präsidenten anpriesen, 17,1 Millionen mal gelesen wurden – mehr als doppelt so oft wie alle anderen politischen Anzeigen im gesamten US-Wahlkampf!
Auch positive Gefühle ausgebeutet
Dabei werden von Bot-Kanonen neuerdings nicht nur Ängste bedient, sondern auch positive Gefühle ausgebeutet. Der Newsletter „Misreport“ wies vor Kurzem auf ein neues Phänomen hin: zahlreiche Social Media Gruppen posten massiv KI-generierte Bilder – nostalgische oder berückend ästhetische, mit harmlosen Inhalten wie Natur, Landleben, gesunde Küche, ja sogar Jesus und Katzen - um miteinander interagierende Communities aus Followern aufzubauen. Die entsprechenden Seiten wechseln dann später brüsk den Zweck und beschießen ihre Zielgruppe mit politischen Messages!
Da ist sie, die eingangs genannte Welt, in der sich unsere Wünsche spontan erfüllen: Doch skandalgebeutelt und nachrichtenmüde suchen wir dort inzwischen gezielt nach Harmonie, Werten, Humor und Empathie – nach dem kleinen Glück und der Gemeinschaft Gleichgesinnter. Nur, dass dieser von Anfang an jemand hinterrücks auflauert, um sie gezielt und perfide zu manipulieren.
Eine Chance?
Wie schaffen wir es in dieser Zeit noch, an das Gute, Gerechte zu glauben? Spürbar greift die Social Media- Welt auf die Gesellschaft über. Mehr Rücksichtslosigkeit. Gespaltene Fronten. Mehr Gewalt. Weniger Zwischentöne. Wem kann man noch trauen – und lohnt es sich überhaupt, in einer solchen Welt zu leben?
Wie oft habe ich mir diese Frage gestellt. Um dann in Gedanken einen Schritt zurückzutreten. Mir zu sagen, diese Welt ist doch nur eine Bühne, auf der wir verschiedene Rollen spielen. Mich dann zu fragen, ob wir unsere Rolle nicht einfach ändern können – ach was, warum nicht das ganze Stück? In dem wir spielen, was wir selbst gern hätten! Indem wir so tun, als wäre es schon so! In dem wir versuchen, selbst die Veränderung zu sein, die wir uns in der großen Welt wünschen, wie es Mahatma Ghandi einst formulierte.
Und so könnte es gerade jetzt wichtiger denn je sein, dass jungen Menschen hoffnungsgebende Wertegemeinschaften angeboten werden - vielleicht eine ganz neue Chance auch für „aus der Mode gekommene“ Kirchen? Spiritueller Halt, ausgerichtet an modernen Erfordernissen. Gemeinschaften, die Schutz und Gleichklang bieten – einen „neuen Stamm“, wie es Clear formuliert. Die sich aktiv auseinandersetzen mit dem Spiel mit der Angst und es enttarnen: Ist nicht gerade die Sucht nach Geld und Macht ein Zeichen von Angst? Liegt Lebensglück nicht jenseits davon? Wir brauchen reale Gemeinschaften, die das perfide Spiel in die Schranken verweisen: Vor allem in der wirklichen Welt. Und dann – warum nicht? – auch auf Social Media.
------------------------------------------------------------------
Nostalgie, Staunen, Niedlichkeit – Positive Gefühle als Clickbaits
„Ich habe jedes Detail mit Liebe gemacht, aber niemanden interessiert das“, daneben ein lebensgroßes Pferd, scheinbar aus echtem frischem Brot, tatsächlich KI-generiert: Tausende Kommentare, zehn-tausende Likes, gepostet auf einer Facebookseite mit dem harmlosen Titel „Faithful“, die auch KI-Bilder von amputierten Kindern postet. Einer der berühmtesten Liker: Facebook-Inhaber Mark Zuckerberg!
Solche und ähnliche Seiten aus dem In- und Ausland mit untransparenten Administratoren schaffen sich mit nostalgischen oder religiösen Inhalten und spektakulären KI-generierten Bildern - Tiere aus landwirtschaftlichen Produkten , Jesus und sogar Katzen – klickbasiert große Sichtbarkeit und damit einen riesigen Kreis aus Followern, der später mit Produktwerbung oder politischen Messages bombardiert wird, warnt George Costi˛ in einem Artikel auf Europalibera, zitiert vom Fake News Newsletter „Misreport“.
Beispiele für die rumänische Zielgruppe: „Tradițional Romanesc“, 250.000 Follower, oder „Alături de Dumnezeu“, im Ausland 2019 gegründet, seither mehrmals den Namen gewechselt, die Administratoren agieren aus Spanien, Finnland, Griechenland, Italien und Rumänien; Kontaktadresse chinesisch.