Nun hat der durchaus kontrovers besprochene Erstlingsroman von Ursula Ackrill „Zeiden im Januar“ doch nicht den Leipziger Buchpreis erhalten. Alleine die Aufmerksamkeit, die ihr die Nominierung bescherte, konnte sie jedoch nutzen, um sowohl ihr Thema als auch ihre persönlichen Beweggründe einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Geboren 1974 in Kronstadt /Braşov, stammt Ursula Ackrill aus einer deutsch-rumänischen Familie aus Zeiden (Vater Sachse, Mutter Rumänin). Zur Schule ging sie auf das berühmte Brukenthal-Lyzeum in Hermannstadt/Sibiu, an dem auch der heutige Präsident Rumäniens, Klaus Johannis unterrichtete. Statt jedoch, wie die meisten ihrer Landsleute nach der Wende 1989 nach Deutschland auszuwandern, studierte sie in Bukarest Germanistik und orthodoxe Theologie, danach zog sie nach England, um an der Universität von Leicester über Christa Wolf zu promovieren. Inzwischen arbeitet sie in Nottingham als Bibliothekarin.
„Ich kann nicht weggehen, bis ich sehe, wie diese Geschichte ausgeht. Ich kann nicht sein, wenn ich diese Geschichte nicht versteh. Ich kann sie nicht ändern, aber im Einzelnen nachzeichnen muss ich sie.“ Dieser Ausspruch ihrer Protagonistin Leontine, eine der wenigen fiktiven Figuren ihres Romans, der sie, wie sie selbst bekundet, ihre eigenen Argumente in den Mund legt, erklärt auch ein wenig die Motive, die Ursula Ackrill zu schreiben bewog. Das zweite ist das Schweigen, das Ausklammern der Geschichte, das ihre Kindheit und Jugend überlagerte. Für das Schweigen gab es im Rumänien Ceau{escus viele Gründe, zumal für die Minderheit der Siebenbürger Sachsen. Die Bedrohung durch die Securitate, das Verbot jemals über die Deportation der Deutschen aus Rumänien in die Sowjetunion zu sprechen, aber eben auch das mehr oder weniger freiwillige Schweigen über die Zeit davor, die des Nationalsozialismus.
Die Erinnerungskultur an die Deportation wird anlässlich des 70.Jahrestages überall im Lande gepflegt und hat auch nicht zuletzt durch Herta Müllers „Atemschaukel“ eine literarische Aufarbeitung erfahren. Für die Verstrickungen der Deutschen, aber auch der Rumänen zu Zeiten des Faschismus gibt es wohl einige wissenschaftlichen Studien, wie die von Paul Milata, auf die sich Ursula Ackrill auch explizit beruft, aber die Reflexion hierüber sowohl in der Literatur als auch in der öffentlichen Diskussion steckt noch ganz in den Anfängen.
Für ihren Roman konnte sich Ursula Ackrill also kaum mehr auf Augenzeugen, weder in der eigenen Familie noch in ihrem sozialen Umfeld stützen, sondern nur auf die wissenschaftlich recherchierten Fakten. Um diese als beunruhigend empfundene Lücke in ihrer eigenen Biographie, aber auch im öffentlichen Bewusstsein aller Rumänen zu schließen oder zumindest das Nachdenken darüber zu ermöglichen, erscheint nun dieses Buch.
In Deutschland wurde ihr Roman, trotz des vielfachen Lobs, deswegen kontrovers diskutiert, weil Sprache und Aufbau dem Leser einiges an Konzentration abverlangen. Ihre Sprache, so die Kritiker, erscheine altertümlich und fremd. Johannisbeeren werden „Ribisel“ genannt, dümmliches „dalkert“, die meisten dieser Ausdrücke stammen aus den sprachlichen Ablagerungen der Habsburger Zeit, so wie man in Siebenbürgen heute „Allfälliges“ statt „Sonstiges“ oder „heuer“ schreibt, wenn man dieses Jahr meint. Aber den sächsischen Dialekt hat sie absichtsvoll nicht verwenden wollen, keinen Heimatroman schreiben, sondern sie will den Leser durch ungebräuchliche Ausdrücke, Redewendungen und Bilder befremden, um auch psychologisch die zeitliche Distanz spürbar zu machen. Keine „Kletitten“ oder Palukes“, aber gleich im Eingangskapitel werden Wiedergänger als „Revenanten“ vorgestellt.
Dass ein Roman aus Siebenbürgen mit einer Geistergeschichte eingeführt wird, gibt uns vielleicht einen kleinen Hinweis auf den vertrackten Aufbau des Buches. Vielleicht als Hommage an ihre englische Wahlheimat, benutzt Ursula Ackrill wie in Bram Stokers berühmten Dracula-Roman, der sich aus Tagebuchnotizen, Briefen und Berichten zusammensetzt – der Film entsteht eigentlich erst im Kopf des Lesers –, zeitliche Rückblicke , Orts- und Perspektivwechsel, um letztlich die Ereignisse eines einzigen Tages, des 21. Januar 1941, zu schildern und in seiner Bedeutung für die Geschichte der Siebenbürger Sachsen zu erläutern.
Außerdem trägt dieses erste Kapitel die Ziffer IV und als zeitliche Einordnung „danach“. Das Ergebnis ist hier also vorangestellt und die folgenden drei Kapitel fungieren als Rückblick und Erklärung. Der Roman beginnt damit, dass die ältliche Leontine, zur Tarnung im Konfirmandenanzug ihres ehemaligen Geliebten Albert Ziegler, dem berühmten Aviatiker, in dessen Haus in Zeiden sie sich in den letzten Jahren niedergelassen hatte, zusammen mit einer Gruppe Zeidener Jungs in einem Eisenbahnwaggon zusammengepfercht hockt. Die sind auf dem Weg ins Deutsche Reich, um sich freiwillig – und nach deutschem und rumänischem Recht durchaus illegal – statt der rumänischen Armee heimlich der deutschen Waffen-SS anzuschließen. Leontine ist auf der Flucht ins Reich, wo sie nie hinwollte, zusammen mit diesen Burschen, die sie wegen ihrer siebenbürgischen Geschichten schätzen, und deren Rekrutierung sie eigentlich mit allen Mitteln verhindern wollte.
Um deren Anwerbung – oder sollte man besser sagen Verführung – zur Waffen-SS durch Andreas Schmidt, dem Führer der Deutschen Volksgruppe in Rumänien, am Abend des 21.Januar 1941 im Rahmen einer Gemeindeversammlung im Rathaus von Zeiden, während zeitgleich General Antonescu mit Billigung Adolf Hitlers die faschistische rumänische Gruppierung der „Eisernen Garde“ nach Judenpogrom und Putschversuch militärisch vernichtet, geht es in diesem Roman.
Erzählt wird dies in drei Kapiteln, aus drei verschiedenen Perspektiven. Maria, das rumänische Hausmädchen, das Leontine auf Drängen des germanophilen Vaters anvertraut wird, damit sie Deutsch lernt, beleuchtet das Verhältnis von Rumänen und Juden zu den Sachsen, aber auch in Rückblenden zu den Ungarn. Maria wird Zeugin des durch die Eiserne Garde verursachten Judenpogrom in Bukarest, in die sie persönlich durch die zwielichtige Beziehung zu dem jüdischen Händler Oskar Brick verstrickt ist. Protagonist des zweiten Kapitels ist Franz Herfurth, der, ganz Siebenbürger-Sachse, nach vielen Streitgesprächen mit Leontine und einer persönlichen Enttäuschung sich letztlich doch für die Hinwendung zum Deutschen Reich mit allen Konsequenzen entscheidet. Verdeutlicht werden seine innere Zerrissenheit und widersprüchlichen Gedanken während seines Besuchs des bekannten Zeidener Waldbades am Morgen des 21. Januar. Im dritten Kapitel tritt dann Leontine selbst in den Vordergrund, die sich als Chronistin Zeidens, aber auch allgemein der Geschichte Siebenbürgens betätigt, und hier die Begründungen für die sich zuspitzenden Ereignisse zu finden versucht.
Ebenso wie bei der Figur der Maria und Leontine selbst sind hier Züge realer Persönlichkeiten eingeflossen. So ordnet Ackrill der Maria einige Wesenszüge ihrer rumänischen Großmutter zu, Leontine lehnt sich vage an Persönlichkeiten aus dem Kreis der großbürgerlichen Kronstädter Familie Scherg an und Franz Herfurth, Kinderarzt in Zeiden, erscheint als Sohn des berühmten Kronstädter Stadtpfarrers gleichen Namens. Im Unterschied zu diesen drei Hauptpersonen sind die namentlich erwähnten Bürger Kronstadts, Zeidens oder auch der SS aus Bukarest, wie der Obersturmbandführer Kurt Geißler, der später in Auschwitz tätige Apotheker Victor Capesius oder der Arzt Fritz Klein, aber auch Albert Ziegler, der berühmte Flieger, oder die sozial engagierte Farbikantenwitwe Katharina Scherg und viele andere, historisch verbürgt.
Leontines Freundschaft zu Franz Herfurth leidet zunehmend unter ihren Auseinandersetzungen und zerbricht schließlich ganz an der Unvereinbarkeit ihrer Auffassungen. Während Leontine vor der allzu engen Verbindung mit den faschistischen Deutschen warnt, glaubt Franz im Deutschen Reich die Zukunft Siebenbürgens verorten zu müssen, wobei er selbst die immer offensichtlicher zu Tage tretende Gewalt, die Leontine nicht tolerieren kann, als notwendiges Übel akzeptiert. Vereint sind sie höchstens in dem Scheitern ihrer Beziehungen. Nicht nur ihre Freundschaft zerbricht, auch die Verlobung von Franz mit der Apothekerstochter Edith, die sich zu ihrem schwachsinnigen Gehilfen Joseph hingezogen fühlt und ihn vor den Übergriffen z. B des Apothekers Capesius schützen will, endet jäh. Wie auch Leontine ihrem geliebten Flieger nicht folgt, eben weil sie sich an Siebenbürgen gebunden fühlt und glaubt, hier noch ihre Rolle spielen zu müssen.
Ein fataler Irrtum, wie sie in eben jener schicksalhaften Nacht erfährt. Der minütliche Countdown, der sich als roter Faden durch das Buch zieht, zielt auf diese finale Gemeindeversammlung, in der alle Argumente, die noch im letzten Moment gegen eine Rekrutierung sprechen könnten, zusammenbrechen unter den parallel durch ein mitgehörtes Telefongespräch zugeschalteten dramatischen Ereignissen in Bukarest. Ändern konnte Leontine nichts, aber geschwiegen hat sie auch nicht.