In seiner „Handreichungen für die Politkarriere“ empfiehlt TV-Entertainer Harald Schmidt Jungpolitikern, ihre Aufmerksamkeit im Wahlkampf besonders einer sozialen Gruppe zukommen zu lassen – den Rentnern. „Rentner, Rentner, Rentner. Größte Wählergruppe, finanzstark, staatstreu. Vergessen Sie moderne junge Frauen in Großstädten. Überschaubare Anzahl, wählen sowieso Grün.“ Und mit dieser Empfehlung hat Schmidt auch gar nicht so unrecht, denn während in der deutschen Presselandschaft versucht wird, die Wichtigkeit des Online-Wahlkampfes und die Bedeutung von Social Media herbeizuschreiben, agieren die Parteien und Politiker auf diesem Feld bisher eher verhalten und wenig innovativ. Ihnen mögen die Expertise oder auch die finanziellen Mittel fehlen, überdies steht einem personenzentrierten und emotionalisierten Wahlkampf wie in den USA jedoch auch das deutsche Wahlrecht entgegen.
Der amerikanische Wahlkampf, und besonders der von Barack Obama, wird gerne als Referenz herangezogen. Genutzt hat der amtierende Präsident alle populären Kommunikationswege von Facebook und Twitter bis hin zu Tumblr. Doch waren es insbesondere die riesigen Datenmengen aus sozialen Netzwerken, die sein Team auswertete, um die Straßenwahlkämpfer an den richtigen Haustüren klingeln zu lassen. Angela Merkel und ihrem Herausforderer Peer Steinbrück bleiben diese Möglichkeiten der genauen Ortung der noch unentschlossenen Wähler, auch wegen des strengeren Datenschutzes in Deutschland, verborgen. Dem ungeachtet wissen auch sie, wo ihr Wählerklientel zu finden ist – in Seniorenzentren und Altersheimen.
Die Gruppe der Über-Sechzigjährigen bildet mit rund 20,8 Millionen ein Drittel der Wahlberechtigten und weist zudem die höchste Wahlbeteiligung auf. Zuletzt erreichten Christ- wie auch Sozialdemokraten unter den Senioren ihre besten Ergebnisse. Während sich 2009 für beide Parteien zusammen nur 44,3 Prozent der Jung- und Erstwähler entschieden, gaben 69,7 Prozent der Bürger über 60 Jahren den Unionsparteien oder der SPD ihre Stimme. Dabei musste insbesondere Letztere herbe Verluste bei den Jungen verkraften. Entschieden sich 2005 noch 36,9 Prozent der 18- bis 25-jährigen für die Sozialdemokraten, waren es vier Jahre später nur noch 18,2 Prozent. Die Tür-zu-Tür Kampagne, die Peer Steinbrück angekündigt hat, ist demnach die logische Schlussfolgerung des Wählerschwunds bei den Unter-Dreißigjährigen – mit rund 9,9 Millionen stellen sie zugleich auch lediglich 16,1 Prozent der Wahlberechtigten. Er selbst will bis zum Wahltag am 22. September rund 100 Wahlkampfauftritte absolvieren und die Parteisoldaten der SPD an fünf Millionen Haustüren klopfen lassen, um Stimmen zu gewinnen.
Gewiss sind auch die Politiker von SPD und CDU, genau wie die der Linken und Grünen, in sozialen Netzwerken vertreten, schließlich ist das Internet aus der politischen Kommunikation nicht mehr wegzudenken. Doch Studien zur Mediennutzung zeigen, dass nur ein geringer Teil der Wahlberechtigten auf digitalen Kommunikationswegen angesprochen wird. Das Internet erreicht primär „Menschen mit einer Suchintention und nicht Menschen, die zufällig vorbeistolpern“, so Andreas Jungherr, der an der Universität Bamberg zu Themen der politischen Kommunikation im Internet forscht. Ferner sind es insbesondere junge Menschen, die das Internet als wichtigstes Medium ansehen. Facebook, Twitter, YouTube – jung, modern und hip, Journalisten können leicht auf Zitate zugreifen und „Facebook-Likes“ zählen, doch aussagekräftig in Bezug auf das Ergebnis der Bundestagswahl ist die Online-Beliebtheit der Parteien und Politiker nicht.
So erreichen beispielsweise die Piratenpartei (Piraten), aber auch die erst in diesem Jahr gegründete Alternative für Deutschland (AfD) regelmäßig zweistellige Ergebnisse in Onlineumfragen, und auch in den Kommentarspalten sämtlicher Nachrichtenseiten sind ihre Anhänger deutlich aktiver. Im sozialen Netzwerk Facebook sind sie beliebter als die beiden Volksparteien und die Piraten zählen sogar fast doppelt so viele „Gefällt mir“-Angaben wie SPD und CDU zusammen. Dass Piraten und AfD indes die Fünf-Prozent-Sperrklausel überhaupt überwinden, scheint momentan eher unwahrscheinlich. Die Meinungsforschungsinstitute von Emnid bis Infratest dimap sehen beide Parteien bei etwa zwei bis drei Prozentpunkten.
Das Internet im Allgemeinen und die sozialen Netzwerke im Speziellen können, richtig eingesetzt, eine gute Möglichkeit sein, die eigenen Wähler und Sympathisanten zu motivieren oder die Arbeit der Parteibasis zu koordinieren. Doch verschiedene Indikatoren lassen erahnen, dass zumindest die beiden Volksparteien nur wenige Prozente im Online-Wahlkampf gewinnen können. Wie bereits eingangs erwähnt, liegt dies vorwiegend an der Alters- und Wählerstruktur in der Bundesrepublik sowie dem Onlinezugang und der Art der Internetnutzung. Mitt-lerweile sind drei Viertel der Deutschen mindestens gelegentlich im Internet un-terwegs, doch von den Über-Sechzigjährigen verfügen laut aktueller ARD/ZDF-Onlinestudie nur knapp 40 Prozent über einen Internetzugang.
Darüber hinaus zeigt die Untersuchung auch, dass für den Großteil der Bevölkerung noch immer Fernseher und Radio die wichtigsten Medien sind. Im Schnitt nutzt jeder Erwachsene in Deutschland täglich 83 Minuten das Internet, jedoch mit 242 Minuten beziehungsweise 191 Minuten deutlich häufiger Fernsehen und Hörfunk. Auch als politische Informationsquelle wird das Netz zwar immer wichtiger, doch bleiben auch hier laut BITKOM, dem Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche, Fernsehen und Radio sowie die Tageszeitung die wichtigsten Informationsquellen. So informieren sich zwar 80 Prozent der Wahlberechtigten unter 30 im Internet, doch nur knapp die Hälfte der Über-Sechzigjährigen.Weiterhin zeigt die Studie „Demokratie 3.0“ von Forsa und BITKOM jedoch auch, dass sich jeder dritte Bürger am Online-Wahlkampf beteiligt. Dabei sind die häufigsten Formen das Teilen politischer Inhalte in sozialen Netzwerken sowie das Weiterleiten von E-Mails und das Kommentieren von politischen Artikeln in Online-Medien. Von einem „guten Politiker“ erwarten fernerhin 73 Prozent der Befragten, dass er das Internet für den direkten Dialog mit den Bürgern nutzt.
Gleichwohl ist nicht jeder Politiker gewillt, die Möglichkeiten von Social Media und anderer Online-Instrumente zu nutzen. Dies muss er auch nicht, denn Zielgruppen und die Wege der Kontaktaufnahme variieren von Politiker zu Politiker. Gleichwohl sollte jeder, der junge Menschen erreichen möchte, die Studie von Forsa und BITKOM ernst nehmen. Alle anderen können zumindest vorerst weiter Seniorenheime aufsuchen und Plakate hängen, denn diesen kann der Wähler im Gegensatz zur Wahlwerbung im Internet deutlich schwerer ausweichen. Gleichwohl zeigen beide Studien, dass die Digitalisierung der Gesellschaft voranschreitet und das Internet zukünftig einen noch wichtigeren Platz bei der Informationsaufnahme und der Wahlwerbung einnehmen wird.