Dracula spricht Deutsch!

Neue literaturwissenschaftliche Erkenntnisse zu Bram Stokers Gruselroman

Es ist auffällig: Deutsche mögen besonders Krimis oder Geschichten, die in Großbritannien spielen. Beispiele sind Sherlock Holmes, Edgar Wallace, Inspector Barnaby oder Rosamunde Pilcher. Umgekehrt lieben Briten oft Geschichten, die einen Deutschland-Bezug haben – und zwar schon seit langer Zeit. Den Deutschen ist diese Tatsache jedoch kaum bewusst. Schon im 1719 herausgegebenen englischen Roman „Robinson Crusoe“ soll der schiffbrüchige Protagonist ein deutschstämmiger Mann sein, und zwar der Sohn eines nach England ausgewanderten Bremer Kaufmanns mit dem ursprünglichen Namen Kreutzner. Mary Shelleys 1818 veröffentlichter Roman „Frankenstein“ um den gleichnamigen Schweizer Wissenschaftler spielt im bayerischen Ingolstadt. Sogar die britische Agentenfigur James Bond hat eine Verbindung zu Deutschland: 007 soll am 11. November 1920 im Ruhrgebietsort Wattenscheid als Sohn eines Schotten und einer Schweizerin geboren worden sein und anfangs besser Deutsch als Englisch gesprochen haben. Deshalb kann man die Bond-Darsteller in einigen englischsprachigen Original-Versionen gelegentlich Deutsch sprechen hören - beispielsweise Pierce Brosnan und Daniel Craig in „Der Morgen stirbt nie“ bzw. „Casino Royal“. 

Auch im weltberühmten Gruselroman „Dracula“ des irisch-britischen Autors Bram Stoker ist die deutsche Sprache von großer Bedeutung. Das hängt mit dem gewählten Handlungsort der Geschichte zusammen. Stoker lässt seinen 1897 veröffentlichten Roman zum großen Teil im deutsch geprägten Siebenbürgen spielen. Die Region lag damals im Herrschaftsgebiet von Österreich-Ungarn. Alle wichtigen Städte dort wurden von Deutschen gegründet, darunter Hermannstadt/Sibiu, Klausenburg/Cluj-Napoca, Mediasch/Media{ oder Bistritz/Bistri]a. Im 15. Jahrhundert waren es auch diese deutschen Siedler, die die ersten schriftlichen Berichte über die Gräueltaten des realen Herrschers Vlad III. Draculea verfassten, dessen Beiname Vorbild für die fiktive Romanfigur Dracula wurde. Bedingt durch den besonderen Schauplatz der Vampirgeschichte ist in der englischen Originalversion die deutsche Sprache immer wieder präsent. Leser und Literaturwissenschaftler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben das allerdings bislang gar nicht oder kaum bemerkt, da sie meist ausschließlich die übersetzte deutschsprachige Fassung von „Dracula“ lasen oder analysierten, in der der gesamte Text einsprachig ist und die deutschen Einsprengsel nicht auffallen. Viele Literaturwissenschaftler beschäftigten sich bereits mit dem Horror-Roman, aber es ist noch keine Abhandlung bekannt geworden, die die deutschen Elemente umfassender untersuchte.

Ein „Paprikahendl“ im Hotel „Goldene Krone“ in Bistritz

Gleich zu Beginn der Original-Romanversion geht es sehr deutsch los: Der Londoner Anwalt Jonathan Harker reist über München nach Transsylvanien bzw. Siebenbürgen zu Graf Dracula. Bei den im Text erwähnten siebenbürgischen Städten in der Nähe von Draculas Schloss wählte Bram Stoker ausschließlich die deutschen Ortsbezeichnungen wie Bis-tritz oder Klausenburg, obwohl alle zur Entstehungszeit der Geschichte ebenfalls rumänische oder ungarischen Namen hatten. Aber es bleibt nicht nur bei den deutschen Städtenamen. Stoker lässt Jonathan Harker auch ein „Paprikahendl“ essen und in einem Hotel mit deutschsprachigem Namen und Personal übernachten: „It was on the dark side of twilight when we got to Bistritz, which is a very interesting old place. ... Count Dracula had directed me to go to the Golden Krone Hotel... I was evidently expected, for when I got near the door I faced a cheery-looking elderly woman... When I came close she bowed and said, „The Herr Englishman?“ - „Yes“, I said, „Jonathan Harker“ (Es dämmerte bereits, als wir in Bistritz ankamen, einem sehr interessanten alten Ort. ... Graf Dracula hatte mich angewiesen, zum Hotel Goldene Krone zu gehen ... Offensichtlich wurde ich erwartet, denn als ich mich der Tür näherte, stand ich einer fröhlich aussehenden älteren Frau gegenüber ... Als ich näher kam, verbeugte sie sich und sagte: „Der Herr Engländer?“ - „Ja“, sagte ich, „Jonathan Harker“). 

Sein Deutsch war in Siebenbürgen „very useful“

Die Romanfigur Harker sagt gleich in einem der ersten Absätze im Buch: „I found my smattering of German very useful here; indeed, I don’t know how I should be able to get on with-out it“ (Ich fand meine rudimentären Deutschkenntnisse hier sehr nützlich, ich weiß gar nicht, wie ich ohne sie hätte zurechtkommen sollen). Mit allen Einheimischen Siebenbürgens kann er sich im weiteren Verlauf der Geschichte auf Deutsch unterhalten. Die Menschen um Harker he-rum antworten nicht nur in Deutsch, wenn sie von ihm angesprochen werden, sondern reden ihn von sich aus in der Muttersprache der Siebenbürger Sachsen an oder unterhalten sich in der selbigen auch untereinander. So zitiert ein Reisender ein deutsches Gedicht von Gottfried August Bürger: „One whispered to another the line from Burger’s ‘Lenore’: ‘Denn die Toten reiten schnell’ (For the dead travel fast)“. Der Kutscher von Graf Dracula, der Jonathan Harker am Borgo-Pass in den Karpaten östlich von Bistritz abholt, soll ebenfalls perfekt Deutsch parlieren: „the driver said in excellent German: ‘The night is chill, mein Herr, and my master the Count bade me take all care of you’.“ (der Kutscher sagte in exzellentem Deutsch: „Die Nacht ist kühl, mein Herr, und mein Gebieter, der Graf, bat mich, auf Sie besonders Acht zu geben“). Der Kutscher entpuppt sich wenig später im Roman als Graf Dracula höchstselbst. Das heißt: Der Vampir aller Vampire beherrscht die Sprache Goethes ausgezeichnet! 

Ursprünglich Steiermark oder München

So wie sein Geschöpf Dracula, so verfügte wohl der Romanschöpfer Bram Stoker auch selbst über gewisse Deutschkenntnisse. Sonst hätte er die deutsche Sprache kaum dermaßen elegant und korrekt in seine Gruselgeschichte einbauen können. Obendrein geht aus Stokers Notizen zur Vorbereitung des Romans hervor, dass seine Vampirerzählung zunächst in der österreichischen Steiermark spielen sollte. Ein später von Stokers Witwe entdecktes unveröffentlichtes Einleitungskapitel zum „Dracula“-Werk hat sogar München und Umgebung als Handlungsort. Diese gestrichene ursprüngliche Einleitung wurde nach Stokers Tod von seiner Witwe unter dem Titel „Draculas Gast“ 1914 als separate Geschichte herausgegeben. Bram Stoker kannte Deutschland durch Reisen und verehrte das Musikgenie Richard Wagner.  Anscheinend war er derart in den deutschsprachigen Kulturraum und die deutsche Sprache verliebt, dass er eine Figur in „Dracula“ vollkommen grundlos deutsch sprechen lässt. Die Romanfigur Prof. Dr. Abraham Van Helsing sagt mehrmals „Mein Gott!“ oder „Gott im Himmel!“ – ohne damit jemanden direkt anzureden, also quasi zu sich selbst. Dabei soll Van Helsing nicht einmal aus Deutschland oder Siebenbürgen stammen, sondern aus Amsterdam. Ins Gebiet des heutigen Rumäniens ist Stoker nie gereist. Seine Beschreibungen Transsylvaniens basieren auf Hörensagen oder sind einfach seiner Fantasie entsprungen. Eine von ihm korrekt beschriebene Tatsache ist jedoch, dass die deutsche Kultur in der Region eine große Rolle spielte – und bis heute spielt. 

Dies ist der erste Artikel zu den deutschen bzw. deutschsprachigen Elementen in Stokers weltberühmtem literarischen Werk. Es bleibt zu hoffen, dass die Literaturwissenschaft und das Feuilleton diesem interessanten Stück Kulturgeschichte zukünftig etwas mehr Aufmerksamkeit schenken als bisher. Alle fettgedruckten Wörter und Passagen sind Zitate aus dem englischen Original-Roman von Bram Stoker.

(Auszug aus einem Artikel der deutschen Tageszeitung „DIE WELT“ vom 4. April 2025)


Zum Autor

Björn Akstinat ist Experte für deutsche Minderheiten und Medien rund um den Globus. Er leitet den Verband der deutschsprachigen Zeitungen, Zeitschriften und Rundfunkprogramme im Ausland (IMH-Internationale Medienhilfe). Von ihm stammen die ersten Verzeichnisse der deutschsprachigen Presse, der deutschsprachigen Theater, der deutschsprachigen Studiengänge und der deutsch-jüdischen Medien weltweit.