Eine integrative Welt durch Barrierefreiheit

Bildung und Kultur wird in Temeswar für blinde und sehbehinderte Menschen gefördert

Innerhalb der Caravaggio-Ausstellung im Nationalen Kunstmuseum Temeswar gibt es auch vier taktile Werke zu erkunden. Im Bild: das tastbare Kunstwerk „Junge von einer Eidechse gebissen“ von Michelangelo Merisi Caravaggio

Ende Januar fand im DSTT-Saal die erste Theateraufführung mit Audiobeschreibung für blinde und sehbehinderte Menschen statt. Im Anschluss an die Vorstellung durften die Teilnehmer das Bühnenbild und die Requisiten anfassen und so ein komplettes Theatererlebnis erfahren. | Fotos: privat

Der erste geografische Atlas für Menschen mit Sehbehinderung wurde offiziell Ende des Jahres vorgestellt. Dessen Designelemente wurden an die Anforderungen der taktilen Benutzerfreundlichkeit angepasst. Der Atlas ist via tactilelibrary.net virtuell zu durchblättern. Hier kann man auch über weitere barriererfreie Projekte erfahren.

Haben Sie sich jemals gefragt, wie das Leben bzw. die Stadt, wie das Gefühl des Pflasters auf dem Gehsteig und der Klang der Musik für Menschen ist, die nicht sehen, gehen oder hören können? Ihre Realität sieht anders aus und das Stadtleben hat für Menschen mit Behinderungen aller Art einen anderen Puls. Kultur wird anders konsumiert, und viele Kunst- und Unterhaltungsprojekte sind für Menschen mit Hör-, Seh- oder Mobilitätseinschränkungen nicht zugänglich. In Temeswar/Timișoara werden aber Projekte für Menschen mit jeweiligen Behinderungen umgesetzt, die sowohl die Kultur, als auch die Bildung barrierefrei machen.

Eine pluridiszipline Gruppe von Forschern und Studenten an der West-Universität Temeswar hat im vergangenen Jahr den ersten „Allgemeinen Taktilen Geografischen Atlas“ in Rumänien konzipiert. Dieselbe Gruppe hat auch die Sonderaustellung „Die Lichter von Caravaggio. Der Anbruch der Moderne in der europäischen Malerei, Meisterwerke aus der Sammlung Roberto Longhi“, die noch bis zum 6. März im Nationalen Kunstmuseum Temeswar (MNArT) zu sehen ist, auch für sehbehinderte Menschen zugänglich gemacht und somit die klassische Wahrnehmung von Meisterwerken verändert. Die Besucher haben die Möglichkeit, mit 3D-Reproduktionen und taktilen Tafeln zu interagieren und so die Kunst auf eine neue und integrative Weise zu erkunden. Auch der Verein Kabaitan setzt seine Projekte zum Thema Barrierefreiheit fort und hat neulich eine Theateraufführung des Deutschen Staatstheaters Temeswar (DSTT) für Menschen mit Sehbehinderung erreichbar gemacht.

Stellen Sie sich einen geografischen Atlas vor, der nicht nur für die Augen, sondern auch für die Hände bestimmt ist. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Berge und Flüsse „lesen“, die Küstenlinie oder die Konturen eines Kontinents mit den Fingern fühlen. Das ist die Vision des „Allgemeinen Taktilen Geographischen Atlas“, eines innovativen Projekts, das das geografische Lernen für Sehbehinderte neu definiert und die Zugänglichkeit von Bildung auf eine neue Ebene hebt. Der von einem interdisziplinären Team sorgfältig und kreativ gestaltete Atlas soll blinden Menschen durch eine Kombination aus taktiler Technologie, Braille-Text und Audio-Erklärungen Zugang zu komplexem geografischem Wissen verschaffen. Er ist nicht nur eine Bildungsressource, sondern ein Werkzeug, das den Nutzern die Möglichkeit gibt, zu erforschen, zu lernen und ihre kognitiven Fähigkeiten unabhängig und inklusiv zu entwickeln.

Der erste allgemeine taktile geografische Atlas in Rumänien wurde von einer Gruppe engagierter Forscher und Studenten der West-Universität Temeswar ehrenamtlich konzipiert. Das Projekt ist eine nationale Premiere und wurde auf der Buchmesse Gaudeamus bei Romexpo in Bukarest, am 8. Dezember 2024, der Öffentlichkeit vorgestellt. Ende vergangenen Jahres erhielt das Projekt auch eine wichtige Auszeichnung im Bereich der Innovation und inspirierenden Leistungen bei den Business Awards 2024 der Französischen Kammer für Handel, Industrie und Landwirtschaft in Rumänien (CCIFER) im Dezember 2024.

Integration Sehbehinderter in das Bildungssystem

Der Atlas, der in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Geografen, Grafikdesignern und Experten für Barrierefreiheit sowie Studenten und Menschen mit Sehbehinderung entstanden ist, enthält 70 taktile Karten, von denen jede gleichzeitig visuelle und taktile Informationen für blinde und sehende Menschen bereitstellt; Erklärungsbände in Druck-, Braille- und Audioform (mit der Stimme von Irina Margareta Nistor); ergänzende digitale Ressourcen, die über QR-Codes zugänglich sind und auf der Plattform tactilelibrary.net gehostet werden, sowie Technologien zur Unterstützung der Barrierefreiheit.

Bei der Entwicklung des Projekts wurden fortschrittliche Technologien genutzt, die herkömmliche Karten in intuitive taktile Darstellungen umwandeln und in Zusammenarbeit mit blinden Menschen validieren. Die Schaffung des taktilen Atlas zielte darauf ab, einen echten Bedarf zu befriedigen. „‚Der Allgemeine Taktile Geografische Atlas‘ soll zur Integration sehbehinderter Menschen in das Bildungssystem beitragen. Er erleichtert die soziale und schulische Eingliederung, indem er es blinden Menschen ermöglicht, gleichberechtigt mit ihren sehenden Mitmenschen am Geografieunterricht teilzunehmen. Der Zugang zur geografischen Bildung hilft den Nutzern, ihre Umwelt besser zu verstehen und trägt zur Entwicklung kognitiver und räumlicher Fähigkeiten bei“, sagt die Lektorin an der Abteilung für Geografie der West-Universität Temeswar und Koordintatorin des Projekts, Alina Satmari.

Der Atlas ist ein Modell für die Inklusion und kann die Erstellung neuer Lehrmaterialien für Menschen mit besonderen Bedürfnissen anregen. Dies ist eine Initiative, die zu vielfältigen und integrativen Klassenzimmern beitragen kann, in denen nichtbehinderte und behinderte Schüler gemeinsam lernen, was zu einer offeneren und toleranteren Bildung beiträgt.

Vorerst wurde durch die Zusammenarbeit zwischen der akademischen Welt (die West-Universität Temeswar) und dem privaten Sektor (CCIFER und dem Unternehmen ATOS Rumänien) knapp über 200 Exemplare veröffentlicht. Alle Exemplare des Atlas wurden an Sonderschulen, Universitäten und andere spezialisierte Einrichtungen gespendet.

Theater mit Audiobeschreibung für Sehbehinderte

„Wir befinden uns in einem Wohnzimmer, in dem die Farbe Blassrosa dominiert. Die Wände, die Möbel und die allgemeine Atmosphäre scheinen von dieser zarten Farbe umhüllt zu sein. In der Mitte des Raumes steht ein langes Sofa in der gleichen Farbe, das mit vielen verschieden großen Kissen bedeckt ist. Das Licht im Raum ist diffus. Ein Mann sitzt mit geschlossenen Augen auf dem Sofa...“, so die akustische Bühnenbeschreibung der ersten Theateraufführung angepasst für blinde und sehbehinderte Menschen am Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT).

Auf Einladung des DSTT wurde am 31. Januar Florian Zellers „Der Sohn“, in der Regie von Mădălin Hîncu anders als üblich vorgestellt – mit Audio-Bühnen- und Handlungsbeschreibung über Kopfhörer. Die Einladung wurde von zahlreichen Besuchern entgegengenommen. Im Raum saßen sowohl Menschen mit Sehbehinderung, als auch Schauspieler und Gäste sowie Menschen, die die Vorstellung mit verbundenen Augen verfolgen wollten, um diese Art von Inszenierung besser zu verstehen.

Die barrierefreie Darstellung wurde auf Initative des DSTT vom Temeswarer Verein Kabaitan umgesetzt. Hintergrund dafür, ein am 1. Januar 2025 in Kraft getretenes neues Gesetz in Rumänien, das lautet: Öffentliche Aufführungs- oder Konzerteinrichtungen unabhängig vom Grad der Unterordnung und der Finanzierung, allein oder in Partnerschaft, müssen mindestens ein Mal im Jahr die Zugänglichkeit künstlerischer Produktionen für Menschen mit Behinderungen gewährleisten. Die Produktion kann jede Einrichtung selber auswählen. Es kann eine Vorstellung aus ihrem eigenen Repertoire sein, die dafür angepasst wird oder eine eigens dafür konzipierte.

So hat Simona Smultea vom Verein „Ceva de spus“ („Etwas zu sagen“) bei der Anpassung der Inzenierung „Der Sohn“ geholfen. Die Audiobeschreibung erlaubt es sehbehinderten oder blinden Menschen, die Bildebene eines Films bzw. eines Bühnenstückes zu verstehen, die sie nicht oder nur teilweise sehen können. Zur Audiodeskription in Theater- bzw. Konzerthäusern gehört in den meisten Fällen auch eine taktile Bühnenführung. In diesem Fall wurde die DSTT-Inszenierung via Kopfhörer umfangreich geschildert. „Ich war schon an die Hörfassung bei Filmen und Serien im Streaming-Dienst gewöhnt. Eine Theatervorstellung hingegen ist ein komplett neues Erlebnis, vor allem wenn die Vorstellung in deutscher Sprache gespielt wird, dann über Kopfhörer ins Rumänische übersetzt und dazu noch die aktustische Bühnen- und Bewegungsbeschreibung geboten wird. Ich freue mich sehr, dass das möglich war, und kann es kaum erwarten, weiteren solchen Events bezuwohnen“, sagte Simona Smultea im Anschluss an die Vorstellung am letzten Januarabend in Temeswar.

Ende 2023 wurden mehr als 900.000 Rumänen als behindert eingestuft. Doch die rumänische Gesellschaft ist längt nicht barrierefrei für ihre Bürger mit besonderen Bedürfnissen. Laut öffentlichen Daten ist von den insgesamt 1442 öffentlichen Einrichtungen des Landes keine einzige vollständig für Behinderte zugänglich, d. h. mit Rampe, Aufzug oder einem Knopf zum Anfordern von Hilfe und automatischen Türen versehen.

Wenn sie einen entsprechenden Nachweis erbringen, haben Behinderte gemäß den Bestimmungen des Gesetzes Nr. 448/2006 nach wie vor freien Zugang zu den Vorstellungen des Deutschen Staatstheaters Temeswar.