In der Senke wird Einkorn geerntet. Eine siebenköpfige Familie – Oma, Opa, Vater, Mutter, zwei halbwüchsige Jungen und ein kleines Mädchen - binden Ähren kunstvoll zu Bündeln. Ein ganzer Haufen liegt schon in dem eher schütter sprießenden Feld. Einkorn, das Urkorn, Vorfahr des Weizens, wächst nicht so dicht wie modernes Getreide. Doch nicht auf das Korn kommt es den Erntehelfern an. Der Alte nähert sich unserer Gruppe. Während wir plaudern, flicht er aus einem Halm eine Blume und hält sie strahlend in die Kamera. Die Familie, die aus dem ungarischen Teil Rumäniens stammt, verdient sich ihr Brot mit dem Flechten von Stroh.
Ein paar Schritte weiter klettern wir hölzerne Treppen hoch: ein sächsischer Korbflechterhof aus Michelsberg/Cisn²die. Durch die Veranda geht es in einen hölzernen Aufbau mit zwei Räumen, getrennt durch einen Flur. Nur der überhöhte Keller darunter ist gemauert. Links zeigt ein Arbeitszimmer allerlei Strohobjekte, rechts lädt die gute Stube mit Tisch, Stuhl, Kommode zum Ausruhen ein. Gestickte Deckchen, schwarzes Garn auf Naturleinen-Weiß, vermitteln adrette Landfrische. Über dem Bett hängt ein Haussegen: „Alles muss der Mensch vergessen, ob es leicht ist oder schwer. Doch was er geliebt im Leben, das vergisst er nie und nimmermehr.“ Man darf alles anfassen, sich sogar aufs Bett setzen, um das Erleben zu vertiefen. „Offenes Kulturerbe“ nennt sich dieses Konzept im Freilichtmuseum ASTRA, erklärt Mirela Iancu, Direktorin für kulturelles Marketing. Vor vier Jahren wurde es mit EU-Finanzierung ins Leben gerufen. „Denn das Museum muss leben - muss nahe am Publikum sein.“
„Ganz Rumänien ist ein multikultureller Raum“
Der Besuch im Museum ASTRA ist Teil der fünften Journalistenreise, die auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der Minderheiten, mit dem sich das Departement für Interethnische Beziehungen der Rumänischen Regierung (DRI) im Rahmen der Donauraumstrategie befasst, von Kronstadt/Bra{ov über Schäßburg/Sighi{oara nach Hermannstadt/Sibiu und Umgebung führt. Häuser, Höfe und Objekte von 18 Ethnien im ganzen Land beinhaltet der touristische Rundgang, auf dem uns Mirela Iancu begleitet. Drei sächsische Höfe, darunter dieser, wurden speziell dafür rekonstruiert. „Doch wir wollen nicht nur Objekte zeigen, auch die Gemeinschaften dürfen sich präsentieren“, betont sie. Und zwar nicht distanziert auf der Bühne mit Trachten und Tanz, sondern hautnah, mit allem Drum und Dran: „Wir laden Köche, Tanzgruppen, Handwerker, Musiker und handarbeitende Frauen aus multiethnischen Dörfern ein.“ Oder Vertreter von Berufen, die es kaum noch gibt. Es geht darum, das Ungleichgewicht zwischen ruralen und urbanen Chancen ein wenig auszugleichen. Die Besucher staunen, kommunizieren und lernen. „Wir sind die Plattform, der Vermittler“, erklärt sie die Rolle des Museums.
Vom 12.-15. Juli fand dort das größte Ereignis des Jahres statt, Astra-Multikultural, eine Art Festival der Ethnien mit über 350 Handwerkern, Künstlern, Musikern und Tänzern aus allen Teilen des Landes. Man konnte an Koch- oder Bastelworkshops teilnehmen, organisiert von Ukrainern aus Mahmudia (Dobrudscha), Walachen aus Timok in Serbien, Tataren, Sachsen, Serben, Ungarn, Lipowanern, Aromunen oder Rudariern aus Poiana Peli{ani. Letztere gehören der Roma-Ethnie an und sind auch mit einem kleinen Hof im Museum vertreten. In dessen Zentrum steht ein mit lebendem Gras gedecktes, schlichtes Häuschen, das sowohl zum Wohnen wie als Werkstatt diente. Durch die Bewahrung dieser Vielfalt will man das Bewusstsein dafür wecken, dass Diversität und Zusammenleben natürlich ist, erklärt Iancu. „Viele versuchen, ethnische Gruppen getrennt zu zeigen – aber die Ethnien haben niemals in Enklaven gelebt, es gab immer ein Miteinander. Ganz Rumänien ist ein multikultureller Raum.“
Synthese dörflichen Wissens
Eine Woche darauf fand das zehnte Ferienlager für traditionelles Handwerk statt, das sich speziell an Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen richtet. 260 Teilnehmer aus 32 Kreisen und sogar aus dem Ausland – Mexiko, Bulgarien, Moldau und China – erlernten Weben, Sticken, Trachten nähen, Opinci schustern, Masken basteln, Strohflechten, Schmieden, Töpfern und vieles mehr.
Das Museum muss leben. Man kann aber auch im Museum leben. Unzählige Rentner aus Hermannstadt tun dies im Sommer nur zu gerne - und legen sich vor dem Häuschen, das sie bewohnen und pflegen, einen Garten an. „Die meisten sind ohnehin auf dem Land aufgewachsen, wissen noch, wie man mit der Sense umgeht“, freut sich Mirela Iancu. Eine Gewinnsituation für beide Seiten. Im Sommer besteht fast die ganze Mannschaft, die auf dem Gelände arbeitet, aus Senioren, die sich so ihre Rente aufbessern. Die ungarische Korbflechter-Familie hilft zum Beispiel auch bei einem Projekt, traditionelle Samen wie Einkorn wieder anzubauen und zu verarbeiten. „Vom Säen über das korrekte Schneiden bis zum Flechten der Hutschnur kennen sie noch alle Geheimnisse“, erklärt Iancu. „Auch die jüngste Tochter weiß, wie man Strohbündel bindet und das Material zum Flechten vorbereitet.“
Wer Gefallen an traditioneller Baukunst findet, kann Anfang August den Hausmarkt (târg de case) besuchen. Nein, die schmucken Bauernhäuser des Museums werden nicht versteigert – aber man kann sich Rat von jenen holen, die noch wissen, wie man ein Strohdach deckt, Wände mit Sand und Kalk verputzt oder Schindeln spaltet. Altes Wissen geht viel zu schnell verloren - doch der Trend zum ökologischen Bauen könnte einiges retten helfen. Wer seine Kinder als kleine Hobby-Schreiner erleben oder selbst Hand an den Hobel legen möchte - auch hierfür gibt es Workshops. Über das Programm informiert Facebook und bald auch die Webseite, die modernisiert werden soll.
„Das Museum ist eine Synthese dörflicher Genialität aus dem ganzen Land“, definiert Mirela Iancu. Doch warum ist altes Wissen wert, am Leben erhalten zu werden? Weil man daraus wieder lernen kann, illustriert sie am Beispiel des Recyclings: „Natur und Tradition sind eng verbunden. Der Bauer hat den Stoffkreislauf stets perfekt geschlossen, er hat das Ideal ‘Zero-Waste’, das wir heute wiederzufinden versuchen, erfüllt. Was wir etwa bei allen Ethnien finden, ist der Flickenteppich aus alten Stoffen. Nichts wurde weggeworfen! Wenn der kaputt war, landete er immer noch in der Hütte eines Hundes.“
Entdeckungsreise in die Vergangenheit
Auch Geschichte lebt, wenn man sie spannend aufbereitet. Was hat das Freiluftmuseum mit der Front des Ersten Weltkriegs zu tun? „Zum hundertsten Jubiläum der Gründung Großrumäniens 1918 illustrierten wir, wie die Bauern die Front im Ersten Weltkrieg unterstützten“, erklärt Mirela Iancu. Die Ausstellung zeigte, wie das Leben im Dorf ohne die Männer, die eingerückt waren, gemeistert wurde. Frauen, Kinder und Alte mussten im Hof und auf dem Feld ihren Mann stehen. Darüber hinaus unterstützten die Dörfer mit ihrer Arbeit, durch Spenden von Heu, Nahrungsmitteln und Rohstoffen die rumänische Armee an der Front.
Kindern Geschichten erzählen und sie dann auf Entdeckungsreise schicken – so will man die Jugend ins Museum locken. Zehn Themen bilden den Kondensationskeim, um den sich einfache, aber charmante Erzählungen ranken. Iancu nennt als Beispiel die Blume, die sich als Symbolik durch viele Bereiche zieht: „Wie der Strohflechter von eben, der die Blume als Dekorelement verwendet, kennt auch der Schmied den Begriff der Blume – so heißt der Kopf des Nagels in der Fachsprache. Und wenn Metall altert und Werkzeuge sich aufbiegen, sagt man, es blüht aus“, fährt die Direktorin fort. „Wir machen Broschüren, die solche Geschichten auf ansprechende Weise erzählen, mit Fragen und Rätseln, denn man kann ja nicht Millionen Info-Paneele aufstellen.“ Das Ziel: Die Kinder sollen Spaß haben – und wiederkommen, um beim nächsten Mal andere Themen zu entdecken. Die Broschüren sind gratis, es gibt sie in vier Sprachen: Rumänisch, Englisch, Ungarisch und Deutsch. Auch Interaktivität ist wichtig, um Kinder zu begeistern. In einer Anlage kann man Miniaturen von wasserbetriebenen Installationen studieren: Mühlen, Erz-Mahlwerke, Pressen, einen Wasserrad-betriebenen Schmiedehammer. Auf der Wiese vor der Schule laden Wippen mit hölzernen Pferdeköpfen zum Schaukeln ein.
Eine Geschichte wert ist auch die Geschichte des Museums, das sich heute mit über 400 Gebäuden aus ganz Rumänien über 132 Hektar erstreckt: Bauernhöfe, Wasser- und Windmühlen, ein Keramikhaus mit einer Ausstellung bemalter Kacheln oder technische Installationen wie Wirbelkörbe und Weinpressen erzählen von einer fast verschwundenen Welt. Ein erster Versuch, Objekte sächsischen, ungarischen und szeklerischen Ursprungs aus Siebenbürgen für die Nachwelt zu bewahren, mündete 1905 in die Gründung des Museums ASTRA. 1960 schuf der Ethnologe Cornel Irimie - ein Schüler des Initiators des Bukarester Bauernmuseums Dimitrie Gusti – ein Museum für vorindustrielle ländliche Technik. Über 5000 Objekte aus ganz Rumänien waren hierfür seit den 50er Jahren zusammengetragen worden. 1967 öffnete es seine Tore für die Öffentlichkeit.
Etwa 100.000 Besucher jährlich, davon ca. 35.000 aus dem Ausland, zählt das Museum, das man auch per Elektroroller, Pferdewagen oder -schlitten durchstreifen kann, heute. „Wir haben sehr gute Bewertungen und Kommentare auf TripAdvisor und Facebook“, freut sich die Direktorin. Ein ausgedehnter See und zwei traditionelle Restaurants laden zum Entspannen ein. Tiere laufen frei herum oder beleben die Höfe. Eine Erlebniswelt, nicht nur für Kinder. Die Philosophie des Museums fasst Mirela Iancu pittoresk zusammen: „Wir sind kein Reliquienschrein - sondern ein Ort des Werdens.“