Ein kleiner Schritt für Europa, ein großer Schritt für die Roma? Falsch. Integrationsstrategien sind in den EU-Staaten schon längst entwickelt, die Fonds dazu auch bereitgestellt. Nur der politische Wille schwänzt mal wieder die Runde. Das letzte Jahr brachte nur geringe positive Entwicklungen für die Integration der Roma und Sinti in Deutschland. Experten meiden es, von „Fortschritten“ zu reden. „Die EU-Mittel gibt es schon längst, das Problem ist, dass sie nicht in dem Maße von den jeweiligen Staaten abgerufen werden, wie es möglich wäre“, erklärt Herbert Heuss, der leitende wissenschaftliche Mitarbeiter des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland.
In Rumänien, einem der vermeintlichen „Hauptlieferanten“ für Roma und Sinti in die westliche EU, meldet die Menschenrechtsorganisation „Amnesty International“ auch für das Jahr 2010 schwerwiegende Vorfälle. Abfällige Äußerungen zu Roma machten um die rumänische Politiksphäre keinen Bogen: Lange ist es nicht her, dass Präsident Traian Băsescu bei einem Staatsbesuch in Slowenien die Roma als „Delinquenten“, „schwer zu integrieren“ und „arbeitsunwillig“ bezeichnete. In der Bevölkerung genießt diese Ansicht eine breite Zustimmung.
Nach Angaben des „Rumänischen Instituts für Evaluierung und Strategie zur Wahrnehmung der Roma in der Öffentlichkeit“, würden 67 Prozent der Rumänen keinen Roma in ihrer Familie akzeptieren. „15 bis 18 Prozent der Roma in Rumänien haben eine gute bis sehr gute Situation, sie haben gelernt, sich an die neuesten politischen Entwicklungen anzupassen“, präzisiert Dr. Vasile Burtea vom Fachbereich für Soziologie und Sozialassistenz an der Uni Bukarest, selber Mitglied der Roma-Gemeinde. Für die meisten allerdings sei die Lage schlecht bis verzweifelt. Der größte Teil der Arbeitsplätze für nicht-qualifizierte Roma sei mit dem Zerfall des Kommunismus 1989 verschwunden, sodass illegale Beschäftigungen, wie etwa der Vertrieb von Schmuggelware im Dienst der rumänischen Polizei, mehr und mehr zu einer Zwangsoption wurde, so Burtea. Die Machenschaften der Roma seien aber nicht ansatzweise eins der größten Probleme Rumäniens, dazu müsse man in die höheren Ränge der Politik und Verwaltung hineinschauen. Aber dies ganz nebenbei.
Zwangsräumungen, Schulverbot und soziale Marginalisierung sind in Rumänien längst nicht aus dem Alltag der Roma verbannt. In Miercurea Ciuc in Siebenbürgen leben seit knapp sechs Jahren 75 Roma in überbelegten, schlecht isolierten Metallcontainern, ohne Zugang zu sauberen Sanitäranlagen, in unmittelbarer Nähe einer Kläranlage am Rande der Stadt. Eines von vielen Beispielen der „Şatre“ (rumänisch für Roma-Großfamilien), die ohne angebotenen Ersatzwohnraum zwangsumgesiedelt werden und von Regierung und Öffentlichkeit vergessen werden.
„Die EU könnte damit anfangen, dass sie Rumänien ermutigt, etwas für diese Leute zu machen. Ansonsten bleibt es bei leeren Versprechungen und peinlicher Wahlpropaganda“, sagt Dr. Burtea. Eine konkrete Maßnahme ergäbe sich ja schon aus den Tausenden Hektar unbebautem Land in Rumänien. EU-Unternehmen könnten diese kaufen und zu nützlichen Zwecken bebauen lassen – mitunter durch die Beschäftigung von arbeitslosen Roma. Außerdem könne die EU festlegen, dass in jedem EU-finanzierten Projekt in Rumänien ein gewisser Prozentsatz der Beschäftigten aus Roma-Gemeinden stammen muss.
Angesichts der bitteren Wahrheiten ist es naheliegend, dass viele Roma den westeuropäischen Traum träumen. Dort geht allerdings ein ganz anderer Kampf los. Das Motto lautet „Wer sich an die Regeln hält, darf bleiben“, sagt Arnold Mengelkoch, der Migrationsbeauftragte im Berliner Bezirk Neukölln. Wer die feste Absicht hat zu bleiben, der bekomme auch Unterstützung. Andererseits könne Deutschland aber auch nicht „der Reparaturbetrieb für Rumänien und Bulgarien“ sein, meint Mengelkoch. Gerade um Reparatur und Verantwortung geht es aber, meint Dr. Burtea. „Die EU macht einen großen Fehler, indem sie diese Menschen eben nicht wie Asylbewerber behandelt, denn sie sind es: Sie fliehen vor der massiven Diskriminierung in ihren Ländern, die ihnen das Leben unmöglich macht“, erläutert Dr. Burtea. Auch auf deutscher Ebene könne man von einer unverhältnismäßigen Ablehnung gegenüber Roma und Sinti reden, so Heuss. „Zumindest hat sich in Deutschland institutionell einiges gebessert. Massive, rassistisch gefärbte Vorurteile gibt es dennoch genügend, unabhängig davon, ob sie manifest werden oder nicht“, erläutert er.
Die Bundeshauptstadt registrierte im Juni im Bezirk Neukölln 540 Roma-Neuanmeldungen. Das gravierendste Problem, das Roma bei der Zuwanderung nach Berlin begegnet, ist der schwierige Zugang zur Bildung, selbstverschuldet durch mangelnde Sprachkenntnisse, aber auch von staatlicher Seite erschwert. Josephine Neumann, eine aus Rumänien stammende pensionierte Lehrerin, die nun ehrenamtlich zugezogene Roma-Kinder in Neukölln in Deutsch unterrichtet, erzählt den Fall eines kompletten Roma-Dorfes, das samt Prediger aus Rumänien wegzog. „In Rumänien ging es ihnen schlecht, manche blicken jetzt aber zurück und denken: Vielleicht war es doch gar nicht so schlimm. Sie leben hier in einem Ghetto, werden mit Wucherpreisen bei den Mieten ausgebeutet. Da ist es nicht so überraschend, dass sie keinen Anschluss finden und dass ein Weg in die Kriminalität geebnet ist“, sagt Neumann.
Objektiv gesehen bietet Berlin aber bessere Möglichkeiten: Kindergeld für eine Familie, die bei acht Kindern anfängt, kann schon hilfreich sein. Und einen Weg, mit einem Gewerbeschein um die Arbeitserlaubnis zu kommen, haben sie auch gefunden. „Dass sie, genau wie alle anderen hier, die deutschen Gesetzeslücken langsam entdecken, kann man ihnen nicht verübeln“, so Mengelkoch. Dr. Burtea meint, man müsse gerade bei den Arbeitsplätzen anfangen, nur so gäbe es die Möglichkeit der Öffnung der anderen Bereiche, wie Bildung, Sozialhilfe und medizinische Versorgung.
Die Hauptvoraussetzung für eine tatsächlich wirksame Integration ist auch die deutsche Sprache. Das fängt bei dem Schaffen kostenfreier Kindergartenplätze für Roma-Kinder an, geht über die Betreuung über die Schulzeit, sodass die Kinder nicht der Versuchung verfallen, die Schule aufzugeben, und reicht bis hin zu Deutschkursen für Erwachsene, unter denen ein sehr hoher Anteil der Frauen Analphabeten sind. „Deutschland ekelt diese Menschen weniger mit Rassismus als mit der Bürokratie raus“, argumentiert Neumann, die den ganzen Sommer über für freie Kindergartenplätze für Roma gekämpft hat. Sich in einem sozialen Umfeld einzufinden und zu integrieren, scheint bei aller Bereitwilligkeit, die die 300 Menschen starke Pfingstler-Roma-Gemeinde in Neukölln aufbringt, nicht möglich. „Die Roma sind die unterste Schicht, sie sind schlecht organisiert und haben zudem kein gefestigtes Identitätsgefühl. Die Kinder fallen dem Mobbing und der Gewalt der türkischen und arabischen Jugendlichen zum Opfer, denn es herrscht auch ein Neidgefühl gegenüber den Roma, dass sie sozusagen per Zufall Europa-Bürger sind, im Gegensatz zu den Türken, die sich schon seit Jahren drum bemühen“, klärt Mengelkoch auf.
Am Ende bleiben die Meinungen gespalten. Der Zentralrat der Roma und Sinti in Deutschland lehnt es ab, eine dauerhafte Migration dieser Menschen nach West-Europa zu ermöglichen. Außerdem sei Migration ein allgemeines Phänomen unseres Zeitalters, die Zahlen belegen, dass nicht die Roma und Sinti die große Masse der Migranten in Europa ausmacht, so Heuss. Nicht bei Weitem. Neuköllns Migrationsbeauftragter scheint aber von der positiven Auswirkung dieser Migration überzeugt zu sein: „Sie sind ein Glücksfall für Deutschland, denn so kann die Regierung sehen, welche Systeme noch nicht richtig greifen, sei es Gesundheit, Sozialhilfe, so kann man eine Verbesserung erst anpacken“.
Ob dahinter ehrlicher politischer Wille steckt, wird sich noch zeigen. „Roma haben keinen Mutterstaat, der sie beschützt, sie werden es vermutlich nie auf die Prioritätenliste der Staaten schaffen, denn keiner interessiert sich so richtig. Da ist es doch klar, dass selbst die Flüchtlinge aus Afrika mehr Aufmerksamkeit genießen als die Roma. In die arabischen Länder hat sich die EU aufgrund von schwersten wirtschaftlichen und politischen Interessen eingemischt und nun muss sie unter dem Deckblatt humanitärer Hilfe dafür geradestehen“, meint Dr. Burtea. Eine Unterstützung, in deren Genuss Roma wohl nie kommen werden.