Die Linie auf dem Boden ist keine rote, und sie soll möglichst oft übertreten werden, wenn es nach den Organisatoren der Kulturhauptstadt „GO! 2025“ geht, denn sie soll nicht mehr trennen, sondern zusammenführen: Die Linie markiert am Vorplatz des Bahnhofs Transalpina den Verlauf der Grenze zwischen Nova Gorica (Slowenien) und Gorizia (Italien). Noch unterstreichen die Namen des Platzes aber eher das Trennende: Piazza Transalpina heißt die italienische Seite, Trg Evrope (Europaplatz) die slowenische.
Dass heute die Grenzlinie nur noch sichtbar, aber nicht mehr spürbar ist, darauf wollen die Macher von „GO! 2025“ aufbauen. Und sie brennen für ihr Anliegen. Vesna Humar, die Staatssekretärin im Ministerium für Slowenen im Ausland, wollen gar die Tränen nicht mehr versiegen, als sie über die Freude berichtet, die sie empfand, als man den Zuschlag als Europäische Kulturhauptstadt 2025 (neben Chemnitz) erhielt. Humar ist im Brotberuf Journalistin und war ebenso von Anfang an bei der Initiative dabei wie die künstlerische Beraterin Neda Rusjan Bric. Diese betont, dass man sofort, als in Nova Gorica die Idee für die Bewerbung als Kulturhauptstadt aufkam, den Vorschlag machte, den italienischen Nachbarn dazuzuholen, denn es war klar, dass nur solch eine grenzüberschreitende Idee eine Chance hätte.
„GO! Borderless“ heißt das Motto des vielfältigen und bunten kulturellen Programms der Kulturhauptstadt, und seine türkise Farbe ist allgegenwärtig in den beiden Städten: Auf Plakaten am Straßenrand, auf Veranstaltungshinweisen und sogar auf den städtischen Bussen. „GO!“ kann man als englische Aufforderung für „Los geht‘s!“ interpretieren, aber es steht auch für die Anfangsbuchstaben der beiden Zwillingsstädte; beide tragen GO auch auf den Autokennzeichen.
Grenzen-los sollen Gorizia/Gorica und Nova Gorica also verbunden sein, wiewohl sie einiges trennt, nicht nur die Grenze. So kann der italienische Zwilling auf eine lange Geschichte verweisen: Im Jahr 1001 wurde die Stadt erstmals urkundlich erwähnt. Über Jahrhunderte hinweg war Mehrsprachigkeit Alltag: Italiener, Slowenen, Juden, Friauler und Deutsche lebten in der Stadt, die slowenisch Gorica und deutsch Görz heißt. Nova Gorica dagegen entstand erst nach 1947, als die Alliierten mit dem Lineal die neue Grenze zogen, den überwiegenden Teil der Stadt bei Italien ließen, den Bahnhof der Ferrovia Transalpina – der noch unter Österreich gebauten Wocheiner bzw. Karstbahn – aber an Jugoslawien gaben. Östlich davon wurde – unter sozialistischen Vorzeichen – das heutige Nova Gorica aus dem Boden gestampft.
Dessen Bewohner – heute sind es rund 13.000 – empfanden 1991 die Unabhängigkeit von Jugoslawien als Befreiung, und sie suchten die Nähe zu Europa und zum Nachbarn Italien. Doch Ewiggestrige gibt es immer, die das Zusammenrücken Europas stören wollen, das zeigt der Berg Sabotin (italienisch Sabotino), der im Norden auf die Doppelstadt herabblickt. Er war einer der Schauplätze der blutigen Schlachten, die im Ersten Weltkrieg zwischen Österreich-Ungarn und Italien an den Ufern des Flusses geschlagen wurden, den die Italiener Isonzo und die Slowenen Soca nennen. In der sechsten dieser Schlachten konnte Italien den Berg erobern. Heute mäandert oben auf dem Rücken des Berges die Grenzlinie zwischen Italien und Slowenien in oftmals absurden Wirrungen.
Noch absurder sind die Botschaften, die am Sabotin zu sehen sind und die neben der Grenze für manche auch die sprichwörtliche rote Linie überschreiten: Auf einer Lichtung ist dort auf slowenischer Seite der Schriftzug „Tito“ zu erkennen. Die 25 Meter großen Buchstaben wurden 1978 aus Steinen gebildet und dienten Propagandazwecken. Nach 1992 wurde die Inschrift mehrfach verändert, seit 2014 steht aber wieder „Tito“ am Berg. Sozusagen als Kontrapunkt erstrahlt nachts an einer nur wenige Meter davon entfernt gelegenen italienischen Kaserne grün-weiß-rot die Trikolore.
„Tito“ ist nicht zu übersehen, und der Schriftzug ist für viele auf italienischer Seite ein ständiges Ärgernis. Nun wollen die lokalen „Fratelli d’Italia“ von Regierungschefin Meloni neben der Trikolore ebenfalls aus Steinen einen Schriftzug bilden lassen, der die Worte „Viva l’Italia“ zeigt. „Tito“ provoziert so sehr, dass sich vor Kurzem auch der renommierte Journalist Gian Antonio Stella im „Corriere della Sera“ mit dem Thema beschäftigte und betonte, dass die Kulturhauptstadt diese Inschrift nicht verdient habe und sie entfernt werden sollte
Stella wies aber zugleich darauf hin, dass auch auf italienischer Seite ein historisches Ärgernis getilgt werden müsse, das – nicht nur für die Slowenen – die Überschreitung einer rote Linie darstellt: Seit 100 und einem Jahr ist der „Duce“ Mussolini nun schon Ehrenbürger von Gorizia, und er bleibt es auch weiterhin, denn einen Antrag auf Löschung hat der Gemeinderat am 11. November 2024 mit den Stimmen einer Koalition abgelehnt, der neben der Forza Italia von Bürgermeister Rodolfo Ziberna auch die „Fratelli d’Italia“ und die Lega des Vize-Regierungschefs Matteo Salvini angehören.
Die Grenze sei heute eine große Chance für die Zusammenarbeit, vor 100 Jahren hätten sich in dem Gebiet noch schreckliche Tragödien abgespielt, sagt Ziberna nun zum Thema grenzüberschreitende Kulturhauptstadt. Er spricht sich für Mehrsprachigkeit aus: Zumindest passiv sollte jeder die Sprache des anderen beherrschen, gibt Ziberna als Ziel aus. Er selbst spricht ein paar Worte Slowenisch.
Da ist Samo Turel, der Bürgermeister von Nova Gorica, schon weiter: Wie viele seiner Gemeindebürger spricht er ein fast perfektes Italienisch. Das lernt man in Nova Gorica nicht etwa in der Schule, sondern aus dem Fernsehen des Nachbarn. Turels Ziel ist es, die beiden Städte so weit wie irgend möglich zusammenzuführen. Die Kulturhauptstadt sei erst der Beginn, sagt er; Kultur kenne keine Grenzen und könne dabei helfen, das Zusammenwachsen auch auf wirtschaftliche und soziale Bereiche auszudehnen.
Bis die passive Sprachkompetenz Wirklichkeit werde, sei noch viel zu tun, sagt Turel. Bisweilen sind die Bürger schon weiter als die Politik: Weil in den Schulen in Nova Gorica eben kein Italienisch gelehrt wird, schicken manche slowenische Familien ihre Kinder über die Grenze in italienische Schulen. Ebenfalls die Mehrsprachigkeit im Sinn haben jene italienischen Familien in Gorizia, die ihre Kinder in eine slowenische Minderheitenschule einschreiben. Das allerdings geht auf Kosten des muttersprachlichen Unterrichts und bereitet der Minderheit nicht geringe Sorgen.
Fortsetzung morgen