„In vielem, was ich hier getan habe, war ich zehn Jahre zu früh“, resümiert Jim Turnbull. Die Registrierkasse im Keller rattert und wir packen unseren Holundergin, den Mini-Sixpack Tonic und eine Handvoll Prospekte ein. Es ist bereits dunkel draußen, Lastwägen donnern auf der Hauptstraße vorbei. Bevor wir von den mit Marmeladen- und Chutneygläschen gefüllten Regalen der „Pivnița Bunicii“ auf der Schotterstraße zur „Pension Keisd“ zurücktappen, lädt Jim uns auf einen Absacker ein. Wir queren das weitläufige Gelände, auf dem tagsüber 14 Angestellte tonnenweise Sirup pressen, Gin destillieren und elektrisch tanken können. Betreten die schlicht-rustikale Wohnküche eines traditionellen Sachsenhauses, das er mit seiner Ehefrau Sally bewohnt. Siebenbürgen kennt der gebürtige Schotte, der 50 Jahre überall auf der Welt in der landwirtschaftlichen Entwicklung gearbeitet hat – „es war mein Job, kleinen Gemeinschaften beizubringen, wie man überlebt“ – seit 2002. Kurz danach ist er in Keisd kleben geblieben wie ein Schmetterling an den Wildblumen Transsylvaniens, von denen ihm eine Gruppe Wissenschaftler so begeistert erzählt hatte...
Eineinhalb Stunden vorher. Im Halbdunkel stapfen wir in umgekehrter Richtung die Häuserfront entlang, die nicht so recht verrät, ob sie bewohnt ist oder verlassen. Zwischen Idylle und Verfall kommt ein Hüne von Mann auf uns zu. Blauweiß kariertes Hemd, graumeliertes Haar, offener Blick hinter feinen Brillenrändern. „I want your story“, begrüße ich ihn entwaffnend auf Englisch und strecke ihm in deutscher Manier die Hand entgegen. Wir steigen Treppen hinunter. Dort unten: bemalte Regale, schmucke Einmachgläschen und offene Truhen, in denen Flaschen wie kostbare Schätze in Strohbetten ruhen. Köstliche Einfachheit des Landes, edel in Szene gesetzt. Die Kamera klackt, das Aufzeichnungsgerät surrt, Lichter gehen an, und im urig-schummrig Kellerladen der „rumänischen Großeltern“ – tatsächlich dem der ausgewanderten Sachsenfamilie Kaspers – beginnt der Schotte zu erzählen...
...wie er vor 22 Jahren in Konstanza, wo er am Aufbau einer Sojabohnen-Produktion und in der Hafenentwicklung tätig war, erstmals von „Transilvania“ hörte. „Die Leute, mit denen ich arbeitete meinten, ich müsse unbedingt die Wildblumen sehen.“ So reiste er nach Siebenbürgen und lernte eine Gruppe britischer Wissenschaftler kennen, die soeben das Ausmaß der Bedeutung der Biodiversität blühender Blumenwiesen auf globaler Ebene entdeckt hatten. „Sie waren ganz euphorisch“, erinnert sich Turnbull. „Und ich sagte ihnen gleich: Wenn ihr die lokale Bevölkerung nicht einbindet, werdet ihr eine Pleite erleben. Niemand wird daran interessiert sein, eure kostbaren Blumen zu schützen.“ Die Forscher guckten erstaunt: „Was soll das heißen? Wir sind doch Wissenschaftler.“ So hatte alles begonnen. 2004 gründete Turnbull zusammen mit zwei Partnern in Keisd/Saschiz die Stiftung Adept, mit dem Ziel, die nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung der Region zu fördern.
Bloß einfache Bauernkost...
Den Tourismus zu entwickeln schien ihm damals am vielversprechendsten. Und die ersten Besucher fragten: Was können wir als Souvenir nach Hause mitbringen? „Nichts“, erkannte Turnbull ernüchtert. „Denn da gab es nichts“. Also begann Adept, Marmelade in hübschen Gläschen mit netten Etiketten anzubieten. 2005 machte er dann die internationale Slow-Food Bewegung in Rumänien bekannt. 2006 brachte er die ersten lokalen Marmelade-Produzenten zu einer großen Slow-Food Messe nach Turin. „Die Welt sollte verstehen: Hier schmeckst du die Frucht und nicht den Zucker!“, eingekocht nach traditionellen sächsischen Rezepten. „Aber wir haben sie nicht gestohlen, da war ja nichts zu stehlen bei nur Frucht mit ganz wenig Zucker, oder sogar ohne“. Als nächstes Produkt folgte Käse – mit Nüssen, mit Edelschimmel, mit Gewürzen. Bald sprach sich auf der Turiner Messe herum, man müsse unbedingt nach „Transilvania“ reisen, da gäbe es die großartigsten Köstlichkeiten. „Und die Ladies mit ihren Marmeladen staunten“, schmunzelt Jim Turbull breit. Sie hatten gedacht, das sei „just peasant food“ – einfache Bauernkost.
Beflügelt vom Erfolg gründete er mit Adept 2007 auf der Bukarester Piața Amzei den ersten Bauernmarkt Rumänens. Marmeladen, Fleisch, Käse, Honig... alles direkt vom Hersteller! Kontrolliert, hygienisch verpackt und hübsch präsentiert, erfreuten sich die ruralen Erzeugnisse eines überwältigenden Erfolgs: „Den Andrang von bis zu 10.000 Personen musste die Polizei regeln.“ Sieben Jahre später wurde der Markt von der internationalen Slow-Food- Bewegung als einer der wenigen globalen „Earth Markets“ anerkannt. „Der dreizehnte weltweit – wir erfüllten als wenige die Regeln von Qualität, fairem Preis und Hygiene.“
Klickt man heute auf die Plattform, ist Rumänien nicht mehr auf der Karte... Politiker hätten die Idee „gekidnappt“, bedauert Turnbull, und in ganz Bukarest sogenannte Bauernmärkte verbreitet, die bald an Hygiene und Qualität zu wünschen übrig ließen...
Vom Sirup zum Gin: Frau Holle lässt grüßen
2008 erkannte er im Zuge der Weltwirtschaftskrise, dass die Stiftung nicht mit seinen Ideen von Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit vereinbar war. So trennte er sich von Adept und gründete ein soziales Unternehmen. „Das war wie mit dem Earth-Market – auch davon hatte noch keiner in Rumänien je gehört“. Die Idee dahinter: nachhaltiges Wirtschaften und sozialer Fortschritt für die lokale Gemeinschaft. „Meine Entscheidungen sind nicht getrieben von Shareholder Dividenden“, erklärt er, „sondern von Investoren, die auf die Wirkung für die Umwelt und im sozialen Bereich Wert legen.“ Die Firma wuchs konstant und ist heute mit 14 fest Angestellten und 20 Saisonarbeitern zur Holunderblüten-Erntezeit der größte Arbeitgeber in Keisd.
Frau Holle – Holla, die germanische Schutz- und Heilungsgöttin – lässt grüßen: 75 Prozent seines Umsatzes beruht auf der Verarbeitung von Holunderblüten. Gesammelt wird ausschließlich von Wildpflanzen. Holunder wächst üppig in Siebenbürgen und man kann auf lokale Sammler zurückgreifen, 50.000 bis 200.000 jede Saison. „Im ersten Jahr wurden 20 Tonnen Blüten gesammelt, heuer waren es 110 Tonnen. Davon haben wir 170.000 Liter Sirup produziert, von dem wir das meiste an eine britische Getränkefirma verkaufen.“ Für die meisten sei das Holunderblütenpflücken die einzige Bargeldquelle, fügt er an, „und wir zahlen einen fairen Preis.“
Innerhalb von 24 Stunden wird die Ernte in seiner Anlage in Saft verwandelt. Das Abfallprodukt, die süßen Blüten, nahmen anfangs die Angestellten zum Schnapsbrennen mit nach Hause. Doch warum wegschenken, was profitabel verwertet werden könnte, dachte sich, typisch schottisch, der Schotte. Und begann 2014 mit der Produktion von „Kaspers Gin“. „In Rumänien trinken die Leute nur Pflaumenschnaps, aber in England hatte Gin gerade ein großes Comeback erlebt und man war sehr interessiert an Holundergin“, erklärt er. Fügt an, dass Gin im Gegensatz zu Schnaps, der einfach nur gebrannt wird, mindestens zehn Kräuter und Beeren enthält, typischerweise vor allem Wacholderbeeren.
Weil der erste Eigenversuch ein Fehlschlag war, wandte er sich an die Heriot-Watt University in Edinburgh, wo ihm ein Doktorand der Destillerei ein Rezept entwickelte. Das „International Taste Institute“ in Brüssel bewertete das Endprodukt mit 89,1 Prozentpunkten – „einer mehr und wir hätten drei Sterne“, doch auch zwei seien ein schönes Ergebnis, frohlockt Jim Turnbull.
Der Weg zum kommerziellen Erfolg erwies sich dennoch als steinig. Weil sich bei den rumänischen Behörden niemand mit Gin auskannte, dauerte es dreieinhalb Jahre, eine Herstellerlizenz zu erhalten. 2019 war es endlich so weit, als der Brexit den Exportplänen einen Strich durch die Rechnung machte. „Doch inzwischen haben die rumänischen Ladies Gin Tonic als Partydrink entdeckt...“ Verkauft wird „Kaspers Gin“ online, in Duty Free Läden auf Flughäfen oder in spezialisierten Weinläden. Kaspers – der Markenname erinnert an die Sachsenfamilie, die hier 1853 nach dem großen Brand ihr Haus über dem mit Ziegeln gemauerten Keller wieder aufgebaut hatte: „Pivnița Bunicii“. Beim Restaurieren der Fassade 2015 fand Turnbull dort eine Inschrift auf Deutsch: „Geduld, Vernunft und Zeit macht möglich die Unmöglichkeit. (Simon Dach, 1605-1659)“. Sein Leitspruch. Seelenverwandt.
Rhabarberlikör und sächsisches Chutney
Ständig auf der Suche nach Ideen, was man auch außerhalb der Holunderblütensaison produzieren könnte, begann Turnbull, auch Edelschnäpse aus Äpfeln und Birnen zu brennen und entwickelte extra für das Keisder Rhabarberfest einen grünen Rhabarberlikör. Beim Essen von Schweinebraten im Winter – „ich mag den nicht so trocken und überlegte, was da dazu passen könnte“ – kam ihm der Einfall, Chutneys herzustellen. „Der Name kommt aus Indien und ich dachte, ich hätte hier was ganz Neues eingeführt – aber Sie werden staunen, die Sachsen in Schäßburg aßen früher Chutney und nannten es auch so!“ Schäßburg sei als Handelsknotenpunkt einst ein großer Umschlagplatz für Gewürze aus Asien gewesen. „Wir machen Pflaumen-Knoblauch-Chutney und sächsisches Tomaten-Chutney mit vielen Gewürzen und rumänischen Tomaten, das hat sogar die Slow-Food-Bewegung als gefährdetes Rezept anerkannt.“ Lachend erinnert er sich an den Besuch eines rumänischen Fernsehteams, das sich schüttelte bei dem Gedanken, Pflaumenmus mit Knoblauch zu verspeisen, bis der Kameramann es mutig probierte und lautstark goutierte...
Verkauft wird an Restaurants oder Supermärkte, die Bereiche für lokale Produkte in kleineren Mengen eingerichtet haben. Eines Tages habe eine Kette angefragt, ob man nicht Zacusca herstellen könne, erzählt Turnbull, doch der gebotene Preis deckte nicht einmal die Kosten der Zutaten. „Könnt ihr nicht billiger produzieren, haben sie gefragt, und ich antwortete: Nein, wir sind auf Qualität spezialisiert.“
ESG-Compliance und Kohlenstoffneutralität
Stolz ist Jim Turnbull nicht nur auf die „ESG-Compliance“ seines Unternehmens, – eingeführt auf Verlangen der ausländischen Investoren und Kunden, – E für „environmental impact“, also Umweltverträglichkeit, S für sozialen Effekt und G für „governance“, transparente Unternehmensführung also –, sondern auch auf die Kohlenstoffneutralität aller Produkte. „Als ich das einmal einem rumänischen Kunden erzählte, meinte der erstaunt: Habt ihr denn vorher Kohle in die Marmelade gegeben?“
„In vielem, was ich hier getan habe, war ich zehn Jahre zu früh“, resümiert Jim Turnbull die letzten 20 Jahre. „Ich wollte den Menschen helfen, zu überleben, aber ich sehe das als Unternehmen. Man hilft ihnen nicht mit Almosen, sondern nur, in dem man bezahlte Arbeitsplätze schafft. Das habe ich über viele Jahre beobachtet.“ Oft habe er fremde Regierungen beraten, Armutsbekämpfungsstrategien, Nahrungssicherheit, „und du hast eine technische Lösung, du weißt, sie würde funktionieren, aber die lokale Bevölkerung kann nicht, weil sie in der Armutsfalle steckt – und die Politiker wollen nicht, weil sie korrupt sind und aus der Armut und dem Chaos Profit schlagen.“ Von international gesponserten Geberprojekten hat er deshalb die Nase gestrichen voll. „So habe ich mein eigenes soziales Unternehmen begonnen.“
„Macht mich das zum Idealisten?“, reflektiert er meine Frage, antwortet mit einem entschlossenen „ich glaube nicht.“ Und straft sich selber Lügen. „Ich mache das, um den Menschen aus der Armut zu helfen.“