Die 1600 Kilometer von Mexiko-Stadt entfernt in den Tropen liegende Halbinsel Yucatan ist das Tor zu den Maya-Stätten Mexikos. Laut neuesten Erkundungen mit Hilfe von Satellitenaufnahmen liegen auf Yucatan - mit 140.000 Quadratkilometern etwa so groß wie Ungarn und die Schweiz zusammen bzw. etwas größer als Griechenland - zirka 1000 Maya-Pyramiden, teils noch von Urwald bedeckt, die natürlich zum Großteil nicht freigelegt werden können.
4. Oktober: Die Condor-Maschine aus Frankfurt nähert sich nach elf Flugstunden dem Rollfeld des Flughafens Cancun, der jungen, erst Anfang der 1970er Jahre aus dem Nichts gestampften Touristenmetropole Nummer eins in Mexiko. Im Süden das Karibische Meer, auf der Landzunge Cancun und nördlich davon die endlose, blickentgleitende Urwaldfläche, von langen weißen schnurgeraden Streifen, den Autopistas segmentiert, ein Mittelding zwischen Schnell- und Bundesstraßen, denn hin und wieder kann man auf die durch einen mittels Rasen getrennten Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn gelangen: „Retorno a 2 km“ als Hinweis. In jeder Fahrtrichtung zwei Spuren und ein allerdings schmaler Pannenstreifen, auf dem Dreirad-Rikschas unterwegs sind: Diese „Tricicletes“ leisten Taxi-Dienste, befördern aber auch Waren. Vorne die beiden Räder, die eine Zweisitzerbank einschließen und hinten der Fahrer, so gesehen also eine „verkehrte“ Rikscha.
Drei mexikanische Bundesstaaten erstrecken sich auf der Halbinsel Yucatan: Campeche mit der gleichnamigen Hauptstadt, Yucatan mit der Hauptstadt Merida und Quintana Roo mit Chetumal als Hauptstadt. Entlang der 300 Kilometer langen Autopista Cancun-Merida gibt es wiederholt polizeiliche Checkpoints mit Straßensperren: Besonders PKW werden von den bis an die Zähne bewaffneten Uniformierten genau kontrolliert, Touritenbusse hingegen durchgewunken. Tourismus- Einnahmen bringen Mexiko täglich 15 Millionen Dollar - nach der Erdölförderung ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.
Auf halbem Weg zwischen Cancun und Merida liegt etwas abseits von der Autopista das aus der Kolonialzeit stammende und von dieser geprägte Städtchen Vallaolid, das ab dem 16. Jahrhundert wiederholt Schauplatz von Aufständen der einheimischen Maya-Nachkommen - den Indigenas - gegen die spanischen Conquistadores war.
Begegnung mit dem Schlangengott
Weiter nördlich liegt direkt an dieser Nationalstraße MEX 180 die bedeutendste und wohl bekannteste Maya-Ruinenstätte Yucatans: Chichén Itza, mit deren berühmtester Pyramide des Kukulkán, auch Tempel der gefiederten Schlange genannt. Während der Tages- und Nachgleiche (span.: equínoccio) am 21. März bzw. 23.September offenbaren sich in hohem Maße die astronomischen Kenntnisse der Mayas: Im Licht-Schattenspiel kriecht an diesen Tagen nachmittags scheinbar der Schlangengott Kukulkán die Pyramidenstufen hinab bzw. hinan, ein unvergessliches Schauspiel.
Von den zehn bedeutenden Bauten Chichén Itzas hat der Ballspielplatz (Juego de Pelota) gleich hinter dem Eingang nördlich gelegen, magische Bedeutung angenommen: Der um 864 angelegte 168 Meter lange und 36 Meter breite Spielplatz, beiderseits von Mauern begrenzt, weisen an deren Mitte jeweils einen Steinring mit einem Durchmesser von 50 Zentimetern auf, durch den der Ball ohne Beteiligung von Händen und Füßen durchgespielt werden mußte. Unklar ist bis heute, ob die ganze Verlierermannschaft – jeweils sieben Personen - oder nur deren Mannschaftsführer durch Köpfen geopfert wurde. Für die Geopferten war es im religiösen Verständnis der Maya eine Ehre, so rasch und so nahe zur jeweiligen Gottheit gelangen zu dürfen.
Auf den Spuren der Conquistadores
Zirka 50 Kilometer von Chichén Itza, östlich der MEX 180, liegt eine weitere koloniale Kleinstadt von Bedeutung: die 15.000 Einwohner-Stadt Izamal, die - so die Legende - vom obersten Maya-Gott Zamná gegründet wurde. Deshalb haben die Spanier im 16. Jahrhundert von hier aus ihren Missionierungsfeldzug begonnen, auf dem Diego de Landa (1524-1579), Franziskanermissionar und später Bischof, eine unrühmliche Rolle spielte: Er ließ 1553 die Maya-Tempel abtragen, um mit diesen Steinen das erste und größte Franziskanerkloster Yucatans erbauen zu lassen, dessen von 75 Arkadenbögen umgebene, 8000 Quadratmeter große Rasen-Atrium das zweitgrößte der Welt sein soll. Bescheiden wirkt hingegen die schmucklose Klosterkirche klassischer Kirchenarchitektur jener Zeit mit ihren vier Kapellen.
Auf dem Marktplatz herrscht reges Treiben. Es ist Mittagszeit, hungrige Mäuler müssen gestopft werden. Unter einem länglichen Glassturz offenbaren sich die geschwärzten bzw. gekochten oder gebratenen Fleischangebote: Geflügel jeglicher Art, aufgeschnittene Leguane und Agutis (eine Nagetiergattung). An langen Holztischen wird die Mahlzeit ohne Besteck mit Reis oder Brot eingenommen.
Wir gelangen in die Weiße Stadt: die 1542 gegründete, heute 1,2 Millionen Metropole Meridá, Hauptstadt der Halbinsel, gilt als Kultur-, Wirtschafts- und Handelszentrum Yucatans. Der Beiname Weiße Stadt ist bisher unklar: Sind es die weißen Kleider der Maya-Frauen, die weiß gehaltenen Bauten oder - wahrscheinlicher - die weiße europäische Bevölkerung, die sich von den anderen ethnischen Gruppen: Mestizens, Indígenas, Mulatten und Schwarzen abheben wollte. Um die Plaza Grande reihen sich repräsentative Bauten: Casa e Montejo (1549), das Wohnhaus des Stadtgründers Francisco de Montejo - heute erinnert eine Biersorte an ihn, die Catedral San Ildefonso (1561-98) zweitürmig und dreischiffig mit 90 Meter langem Hauptschiff.
Pilger hoffen auf Wunder vor der schwarzen Christusfigur (Cristo de las Ampollas oder Christus der Brandblasen), aus einem vom Blitz getroffenen Baum geschnitzt, der eine Nacht lang loderte, ohne Brandspuren zu hinterlassen. Die Figur überstand ein zweites Feuer, daher der spanische Name… Westseitig des Platzes der aus 1892 stammende Gouverneurspalast (Palacio de Gobierno), dessen Wandgemälde an der Nordseite sowie die expressionistischen Szenen im Stiegenhaus und im Festsaal von Castro Pacheco 1971 geschaffen wurden und den Leidensweg der Maya von der Eroberung bis in die Gegenwart versinnbildlichen.
Meridas Straßen - wie auch die anderen Yucatan-Städte - sind am Reißbrett angelegt: die West-Ost verlaufenden haben ungerade Nummern, die in Nord-Süd- Richtung weisen gerade Nummern auf, was die Orientierung vereinfacht. Erst 1950 erreichte die Eisenbahn Meridá und 1970 die erste Straße von Villahermosa aus.
Eldorado für allerlei Forscher
Südwestlich von Merida gelangen wir nach einstündiger Fahrt nach Uxmal, einst eine der bedeutendsten Maya-Metropolen. Uxmal, Copán (Honduras) und Palenque erweckten im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit der europäischen Ruinenforscher.
Beeindruckend in Uxmal: Der Palast des Gouverneurs (Palacio del Gobernador) aus dem elften Jahrhundert mit einer Länge von etwa 100 Metern. Die Fassade, von zwei Kragbögen unterteilt, weist kunstvolle Verzierungen auf, sowie Chaac-Masken, die durch ihre Anordnung eine Schlange darstellen. In ihrer Einzigartigkeit fällt besonders die Pyramide des Zauberers (Pirámida del Adivino) mit ihren 35 Metern Höhe auf, die fünfmal überbaut wurde. Dabei bedeutet Uxmal eigentlich „dreimal überbaut“.
Im Reich der Maya finden Historiker, Soziologen, Kunsthistoriker, Astronomen, Mathematiker, Sprachwissenschaftler, Architekten und andere ein reiches Betätigungsfeld.
Der komplexe Maya-Kalender beruht z.B. auf einem zyklischen Zeitablauf, in dem jeder Tag einer Gottheit gewidmet wird. Diese zahnradartig ineinandergreifenden Zyklen beginnen mit dem Tag der Erschaffung der Welt am 13. 8. 3114 vor Christus. Mond und Planetenbewegung sowie die Bewegung der Sternbilder bestimmen die Zyklen. Heute sind die Nachfahren der Maya katholisiert, doch alte Riten und Bräuche leben fort: So mixt der Schamane auf dem Lande seine Kräuterelixiere, während daneben der Priester die Kommunionshostien austeilt.
Das Leben in den Dörfern ist karg: Bohnen, Kürbis und Mais bilden die Hauptnahrungsmittel, ergänzt von Geflügel-, Leguan- und Schweinefleisch. Vitaminspender sind die zahlreichen Früchte aller Art, die überall zu finden sind. Die bescheidenen Hütten aus mit kühlendem Lehm „gekachelten“ Holzflechtwänden weisen keine Fenster auf; lediglich Türöffnungen dienen zur Belüftung. Die Dächer aus in Vollmondnächten – dann sind sie resistenter – geernteten Palmblättern müssen allmählich den Blechdächern weichen, weil die Nachfrage an Palmwedeln für die Tourismusbauten an der Paya del Carmen groß ist. Und diese Hotelanlagen an der Playa Maya bzw. Playa del Carmen – großzügig angelegt und strengstens bewacht – sind nicht nur der Stolz Yucatans, sondern des ganzen Landes.
Grüßt man auf Maya beim Abschied mit tin bim (Auf Wiedersehen), kann man als Erwiderung mitunter ein tan bim vernehmen, denn bei 52 Dialekten und keiner Einheitssprache ist hier für den Dialektologen noch ein breites Forschungsfeld offen.