Jugend in unsicheren Zeiten

Ausgewählte Ergebnisse einer aufschlussreichen Studie

Jugendliche Teilnehmer der Pride-Parade in Bukarest 2024. Laut Befragung ist der Anteil der jungen Leute, die die Rechte für LGBTQ-Personen für unzureichend halten, von 19 Prozent in 2019 auf 31 Prozent in 2024 gestiegen. Foto: pixabay

Selbstverwirklichung als Ideal, wirtschaftlicher Überlebenskampf und Angst vor dem Gesundheitswesen im Alltag. Wachsende Toleranz gegenüber dem „Anderen“, aber bleibende Skepsis bei bestimmten Gruppen. Eine zunehmende Abkehr von der Religion, insbesondere bei den Teenagern. Fehlende politische Repräsentanz gleich geringes politisches Interesse? Eine Studie der Friedrich Ebert Stiftung (FES) Rumänien bringt interessante Erkenntnisse – und neue Fragen – über die junge Generation Rumäniens hervor.

Es ist bezeichnend, wenn zu der Vorstellung einer wissenschaftlichen Studie am Freitagabend (18. Oktober, Hotel Novotel in Bukarest) über hundert Personen erscheinen. Eventuell deutet es darauf hin, dass die FES mit dem Thema „Einstellungen, Ängste und Hoffnungen der Jugend in einem Rumänien der sozialen Ungleichheiten“ einen Nerv getroffen hat. Oder hat es damit zu tun, dass, wie einer der Autoren anmerkte, in Rumänien viel zu wenige Untersuchungen und Daten über gesellschaftlich relevante Themen existieren, weil die Regierung kein Geld in die Hand nimmt, um diese zu finanzieren?

Was die Zuhörer präsentiert bekamen, war in jedem Fall ein differenziertes Bild über die Generation der heute 14-29-Jährigen. 1150 Personen diesen Alters wurden in Rumänien befragt. Die Ergebnisse können mit denen aus  elf weiteren Ländern der Region Südosteuropa (inklusive Türkei) verglichen werden, sowie mit denen aus der Vorgängerstudie der FES aus dem Jahr 2018. Die Befragungsergebnisse lassen selten eindeutige Aussagen zu. Vielfach zeigen sie, wie Projektkoordinatorin Tudorina Mihai von der FES in ihrem Fazit unterstrich, Polarisierungen auf. Denn: Die Jugend spricht nicht mit einer Stimme. Deutliche Unterschiede verlaufen häufig entlang der Kategorien Wohnort – ländlich, städtisch – und Geschlecht.

Wohlstand und Bildungsniveau sind häufig prekär

Eine Grundannahme der Autoren, die Wissenschaftler Gabriel B²descu, Radu Umbre{, M²lina Voicu und Claudiu Tufi{, lautet, dass die Einstellungen der jungen Menschen maßgeblich durch ihre materielle Situation beeinflusst werden. Diese wiederum ist von höheren Armuts- und Ungleichheitsraten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung geprägt. Die prekäre Situation von Jugendlichen spiegelt sich unter anderem in der Aussage von 53 Prozent der Befragten wieder, die sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Situation gelegentlich oder häufig diskriminiert fühlen.

Auch Bildung spielt eine Rolle bei der Frage, wie Menschen die Welt sehen. Diesbezüglich präsentierten die Forscher beunruhigende Daten. Die Schulabbruchquote ist mit 16 Prozent die höchste in der EU, alarmierend ist jedoch vor allem der Wert für den ländlichen Raum, dort liegt sie bei 31 Prozent, im Vergleich zu fünf Prozent in den Städten. Der Anteil an jungen Menschen mit Hochschulabschluss (22 Prozent) ist signifikant niedriger als in allen anderen EU-Ländern sowie in weiteren Ländern aus der Vergleichsstudie (z.B. Serbien und Türkei). Diese Daten korrelieren mit einer vergleichsweise hohen Unzufriedenheit mit der Qualität der Bildung in Rumänien unter Jugendlichen und der Annahme, dass Korruption im Bildungswesen verbreitet ist, wovon 57 Prozent der Befragten ausgehen.

Postmaterielle Werte treffen auf existenzielle Ängste

Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen zeigen die persönlichen Prioritäten der Befragten eine Dominanz sogenannter postmaterieller Werte. Als besonders wichtig erachten Jugendliche in Rumänien: Verantwortung zu übernehmen (69 Prozent, „wichtig“ oder „sehr wichtig“), selbstständig zu sein (69 Prozent) und eine erfolgreiche Karriere zu haben (65 Prozent). Das ist durchaus überraschend, da gemäß der soziologischen Theorie solche Werte der Selbstverwirklichung eigentlich erst dann an erster Stelle stehen, wenn die materiellen Bedürfnisse angemessen erfüllt sind. Doch die Jugend tickt halt manchmal ein wenig anders, zumal die Bukarester Professorin M²lina Voicu darauf hinwies, dass die rumänische Jugend in hohem Maße den Werten und Vorstellungen der westlichen, ökonomisch stärker entwickelten Ländern ausgesetzt ist.

In diesem Sinne trifft es sich nicht schlecht, dass in Deutschland kürzlich die neue Shell-Jugendstudie erschienen ist, die ganz ähnlichen Fragen nachgeht, wenn auch mit einer anderen Altersdefinition (12-25 Jahre). Ein direkter Vergleich ist somit zwar nicht möglich und doch kann sie auf der Suche nach gewissen Übereinstimmungen und Unterschieden herangezogen werden.

Die Jugendstudie der FES hat ihre Zielgruppe nach Sorgen und Ängsten befragt. An erster Stelle tauchen hier einerseits die Angst vor Krieg, andererseits Sorgen in Bezug auf die schlechte Qualität des rumänischen Gesundheitswesens auf (jeweils 59 Prozent der Befragten). Beides wird von einem Großteil der Jugendlichen offenbar als Bedrohung für das eigene (Über-) Leben gesehen. Die Angst vor einer schweren Krankheit teilen ebenfalls 53 Prozent. Die weit verbreitete Sorge unter jungen Menschen, einem dysfunktionalen Gesundheitswesen ausgeliefert zu sein, ist an sich bemerkenswert und formuliert einen klaren Auftrag an die Politik, für Abhilfe zu sorgen – zumal der Wunsch nach besseren Lebensbedingungen (worunter sicher auch der Bereich Gesundheit fällt) das Hauptmotiv junger Auswanderungswilliger darstellt, wie die Untersuchung an anderer Stelle zeigt.

Ebenfalls interessant: Die Angst vor Arbeitslosigkeit ist nach wie vor stark ausgeprägt (57 Prozent), vor einer wachsenden Anzahl an Migranten im Land fürchten sich dagegen weniger als ein Drittel. Dazwischen (bei 40-50 Prozent) liegen einige weitere Sorgen, wie die vor den Auswirkungen des Klimawandels oder die, Opfer von Gewalt zu werden, wobei letztere eine stark geschlechterspezifische Komponente hat: Weibliche Jugendliche haben wesentlich häufiger Angst vor physischer, sexueller oder häuslicher Gewalt. Eine Diskrepanz, die die Autoren einerseits mit der rumänischen Sozialisierung von Frauen, diese Ängste stärker zu internalisieren als Männer, und vor allem mit der statistischen Tatsache, dass Frauen überproportional häufig Opfer von Gewalt werden, erklären. Im internationalen Vergleich liegen die jungen Rumänen in Bezug auf die Angst vor Gewalt ziemlich weit vorne.

Zunehmende Toleranz, abnehmende Religiösität

Ein weiterer Komplex der Studie widmet sich dem Thema Toleranz von Minderheiten bzw. von von der „Norm“ abweichendem Verhalten. Heraus sticht die Beobachtung, dass die Akzeptanz von Abtreibungen und Homosexualität zwischen 2018 und 2024 deutlich angestiegen ist. Auf einer Skala von 1 (totale Ablehnung) bis 10 (komplette Zustimmung) bewegen sich die rumänischen Jugendlichen im Schnitt bei 5,8 (Abtreibungen) bzw. 5,3 (Homosexualität). Im 12-Länder-Vergleich befinden sich die jungen Rumänen damit in der Spitzengruppe (hinter Griechenland und Slowenien).

Über eine andere Frage wurde die Einstellung zu ethnischen Minderheiten bzw. Angehörigen anderer Glaubensrichtungen erforscht - mit differenzierten Ergebnissen. Nehmen wir die Gruppe der Roma als Beispiel: Unter den Befragten äußern 32 Prozent Ablehnung, 40 Prozent nehmen eine neutrale Haltung ein und 28 Prozent signalisieren Akezeptanz. Deutlich höhere Akzeptanzwerte gibt es gegenüber Juden und Muslimen. Rassistische oder antisemitische Stereotype werden zwar nur von einem geringen Anteil befürwortet (13 Prozent), jedoch ist der Anteil derjenigen, die sich dazu nicht klar positionieren wollen/können teilweise ziemlich hoch, z.B. 40 Prozent in Bezug auf die Aussage: „Es gibt eine natürliche Hierarchie zwischen weißen und schwarzen Menschen“. Männliche Jugendliche aus ländlichen Regionen sind insgesamt erheblich intoleranter gegenüber Minderheiten und Migranten als weibliche bzw. in der Stadt wohnende.

Die Studie konstatiert, was die Themen LGBTQ (zusammengefasst: von der traditionellen „Norm“ abweichende Geschlechts- identitäten und sexuelle Orientierungen), Frauenrechte und ethnische Minderheiten angeht, eine Tendenz der Polarisierung im Vergleich zur Vorgängerstudie. Bei den Antworten auf die Frage, ob diese Gruppen zu wenig, ausreichend oder zu viele Rechte hätten, nimmt der Anteil „ausreichend“ - die Mitte – signifikant ab, gleichzeitig steigt der Prozentsatz derjenigen, die von „zu wenig“ Rechten ausgehen, erheblich an. Man kann also insgesamt eine zunehmende Sensibilierung für die Belange bestimmter Gruppen, die von Benachteiligungen oder Diskriminierung betroffen sind, beobachten.
Einen klaren Trend kann die FES-Studie in Bezug auf die erklärte Religiösität der befragten Jugend feststellen. Im Vergleich zur letzten Erhebung 2018 hat diese deutlich abgenommen. Immerhin 14 Prozent gaben 2024 an, keiner Religion anzugehören, 2018 lag dieser Wert noch bei 1,8 Prozent. Der Anteil, derjenigen, die mindestens einmal im Monat in die Kirche gehen, sank im selben Zeitraum von 29 Prozent auf 20 Prozent. Die jüngeren Befragten (14-18 Jahre) gehen dabei noch seltener zum Gottesdienst als die „älteren“ Befragten (19-29 Jahre). Spannend wäre zu ergründen, wie weit sich die Jugend diesbezüglich gerade von der Gesamtbevölkerung entfernt.

Politisches Interesse wächst, auf niedrigem Niveau

Der letzte, umfangreichste Abschnitt der Studie ergründet die politischen Werte und Einstellungen der Jugend. Ernüchternd sind dabei folgende Ergebnisse: Nur 18 Prozent der Befragten gaben an, sich für Politik zu interessieren (männliche Jugendliche zu fünf Prozent häufiger als weibliche), gegenüber 45 Prozent, die ausdrücklich kein Interesse haben. Allerdings ist die Entwicklung positiv, im Vergleich zu 2018 hat sich der erste Wert verdoppelt.
Dennoch scheint in Rumänien derzeit keine umfangreiche Politisierung der Jugend stattzufinden, wie sie in anderen Ländern beobachtet wird. Laut Shell-Jugendstudie bezeichneten sich inzwischen 55 Prozent der Jugendlichen in Deutschland als politisch interessiert. Dazu passt auch die Erkenntnis, dass 43 Prozent der befragten Rumänen bisher an keinerlei politischen Aktivitäten teilgenommen haben (Demonstration, On-line-Petition, Engagement in einer NGO oder Partei etc.).
Die Mehrheit der Jugendlichen ist der Meinung, dass ihre Interessen in der Politik nicht repräsentiert sind. Dabei ist zu bedenken: Der politische Einfluss der jungen Generation ist schon rein demografisch äußerst begrenzt. Der Anteil an Wahlberechtigten im Alter von 18-29 Jahren an der Gesamtzahl aller Wahlberechtigten beträgt lediglich neun Prozent. Das politische System sollte dringend Wege finden, um Jugendliche und deren Belange stärker in die Institutionen zu integrieren. Anderer-seits droht sich der Anteil derjenigen, die sich nicht gehört fühlen und aus dem politischen Leben zurückziehen, zumindest weiter zu verfestigen (Stichwort: Politikverdrossenheit). Auch ein verstärktes Hinwenden zu extremen („Anti-System-“)Parteien kann die Folge sein.

Und, was hätten Sie gedacht, sehen die jungen Rumänen als größtes Problem, mit dem die Politik in den kommenden zehn Jahren konfrontiert sein wird? Richtig: Korruption, von 72 Prozent der Befragten genannt - häufiger als in allen anderen Vergleichsländern. Angesichts der vielen offensichtlichen Probleme, sei es die öffentliche Infrastruktur, das Bildungssystem oder der Arbeitsmarkt, eine durchaus bemerkenswerte Wahl. Autor und Universitätsdozent Claudiu Tufi{ sprach halb ernst, halb im Scherz von einer vorherrschenden „Obsession, dass Rumänen die korruptesten Menschen überhaupt sind“, um dann erklärend anzufügen, dass für viele all diese anderen Problemfelder mit dem Thema Korruption verknüpft sind. Die jungen Rumänen sehen, nach dieser Lesart, Korruption als eine Art Grundübel der Gesellschaft. Echter Fortschritt ist demnach nicht möglich, solange diese nicht besiegt ist.


Die Studie kann in englischer und rumänischer Sprache aufa der Webseite der FES heruntergeladen werden: romania.fes.de/ro
Die Ergebnisse der Shell-Jugendstudie sind hier zu finden: www.shell.de/ueber-uns/initiativen/shell-jugendstudie-2024.html