Kleinscheuern/Șura Mică, eine Gemeinde in Siebenbürgen: 700 stolze Jahre alt ist sie 2023 seit ihrer ersten urkundlichen Erwähnung geworden. Ansonsten ein Dorf von vielen in der Provinz um Hermannstadt/Sibiu, gegründet von überwiegend fränkischen Siedlern, die zwischen 1142-62 vom ungarischen König Geza II. aus dem Deutschen Reich herbeigerufen wurden. Im Lauf seiner Geschichte siebenmal überfallen, geplündert, gebrandschatzt, zerstört, zweimal von Seuchen dezimiert. Im 17. Jahrhundert siedelten sich die ersten Rumänen an, im 19. Jh. kamen die Roma hinzu. In all der Zeit bewegte man sich zwischen Heuernte und Fasching, Nachbarschaftspflichten und Kirchensitzordnung... Das lange Ende der sächsischen Ära läutete dann im August 1944 der Frontwechsel Rumäniens ein: Am 13. Januar 1945 verließen auch 223 Kleinscheuerner zwischen 17 und 45 Jahren das Dorf in eisiger Kälte auf offenen Wagen... Endstation: Donbass.
Was macht nun die deutsch-rumänische Monografie „Kleinscheuern. Eine Gemeinde in Siebenbürgen“, herausgegeben von Martin Rill zum Anlass der 700 Jahrfeier seines Geburts- und ehemaligen Heimatortes, die dort vom 12. bis 15. August festlich begangen wird, so besonders?
Der Historiker, Herausgeber und Autor zahlreicher Siebenbürgenbücher versteht es auch in diesem Band, das Kleine mit dem Großen anschaulich zu verknüpfen und die bekannte Sachsengeschichte zwischen Einwanderung, Türken- und Tatarenüberfällen, Reformation, Deportation, Kommunismus und Exodus auf mehreren Ebenen darzustellen und mit Leben zu füllen. Betrachtet wird zunächst das Dorf als Einheit: Demografie, Verwaltung, Organisation – wieviele Höfe, Richter, Notare gab es in welchen Jahren, einschließlich Namenslisten. Dann folgt die Ebene von Institutionen: Schule, Kirche, Vereine usw. im Wandel der Zeit. Dazwischen immer wieder der Alltag: Bau der Viehtränke, Ritual des Brot- und Kuchenbackens, Änderung der kirchlichen Sitzordnung am Muttertag... Dann die Trachten, die Sprache, der Dialekt.
Deutsche, Rumänen und Roma
Dabei steht nicht nur das sächsische Kleinscheuern im Fokus der Betrachtung, sondern auch das Șura Mică der Rumänen, gegen Ende des 17. Jh. aus Sibiel, Cacova, Salzburg/Ocna Sibiului, Glămboaca und Porumbac zugewandert. Sie verdingten sich als Hirten und „gehörten nicht der wohlhabenden rumänischen Bevölkerung an“, wie Rill vermerkt. „Für sie war es schwer, Ackerland zu erwerben.“ Beleuchtet wird der gegenseitige Einfluss, das vorsichtige Annähern der zunächst distanzierten Parallelgesellschaften, in denen Mischehen beiderseits als Schande galten, dann der Weg zur Mehrsprachlichkeit bis hin zu beispielhaften Einzelschicksalen, etwa dem der angeheirateten rumänischen Suzana Opriș ins Haus Salmen, aus der nie „eine Susanne“ werden sollte, offenbar subtiles Zeichen einer lebenslänglich verbliebenen Restdistanz.
Das Einzoomen auf einzelne Personen erweckt die Geschichte zum Leben: Der Gemeinderichter und Bürgermeister Georg Rill (1889-1958), der die Erneuerungsbewegung in Kleinscheuern, die bald auch nach der Leitung der Vereine griff, mit Sorge beobachtet, aber auch das schnelle Verfliegen der anfänglichen Euphorie nach dem Eintreffen der ersten Lehrtruppen der Wehrmacht. „Auch Zivilcourage war ihm nicht fremd“, heißt es weiter. „Als in der Nazizeit die wenigen Zigeuner des Dorfes nach Russland verschleppt werden sollten, erklärte er der Obrigkeit, solange er Bürgermeister der Gemeinde Kleinscheuern sei, werde kein einziger Mensch verschleppt.“
Auf die Beziehungen zwischen Sachsen, Rumänen, Roma und Ungarn geht Rill immer wieder ein: So wusste man trotz der Abgrenzung der ethnischen Gruppen im Dorf bestens übereinander Bescheid. „Es kam vor, dass in schwierigen Lagen Sachsen manchmal Hilfe bei Rumänen suchten“; bei kranken Kindern oder krankem Vieh, wandte man sich gern an rumänische „Zauberinnen“. Eher am Rand der Gesellschaft lebten die Roma. Erst nach der Auswanderung der Sachsen zogen sie aus der Ziganie ins Dorf. Davor verdienten sie sich ihren Unterhalt durch Betteln oder Arbeit bei den Sachsen, entlohnt wurden sie in Naturalien. Einige Höfe hielten sich einen „Hauszigeuner“, der oft die sächsische Mundart sprach.
Aufbau und Rückschläge
Einen guten Überblick über das bewegte Schicksal des Dorfs und seiner Bewohner liefert die Zeittafel im letzten Teil des Buches. Wichtige Eckpunkte: 1224 erhielten die deutschen Einwanderer der Hermannstädter Provinz mit dem Goldenen Freibrief des ungarischen Königs Andreas II. (sog. „Andreanum“) das Recht auf Selbstverwaltung mit selbstgewählten Richtern und Pfarrern, eigener Gerichtsbarkeit und Kirche – die wichtigste Verfassungsurkunde der Siebenbürger Sachsen, so Rill.
Jede Ortschaft war damals in Zehntschaften eingeteilt, aus denen sich später im 17. Jh. die Nachbarschaften entwickelten. Die Teilnahme an der Selbstverwaltung setzte das Bürgerrecht voraus, das an den Besitz von Haus und Hof gebunden war. Diese sogenannten Wirte wählten den Hannen, den Dorfvorsteher, und vier Geschworene, dazu gab es noch den Rat der Alten (Altschaft); eine Struktur, die bis ins 19. Jh. erhalten blieb.
Feindliche Raubzüge bedrohen den Überlebenskampf der Siedler immer wieder: 1432 wird Kleinscheuern erstmals von den Osmanen geplündert, fünf Jahre später erneut heimgesucht. Ein raues Leben - und doch gelingt es den Dorfbewohnern, Studenten an die Universitäten von Wien und Krakau zu schicken, wie an zwei Beispielen im Jahr 1460 dokumentiert. 1468 zählte Kleinscheuern gerade mal 58 Häuser, was aus Steuerunterlagen hervorgeht. 1493 wird es erneut von den Türken in Schutt und Asche gelegt. So mancher Bewohner mag alle drei Überfälle miterlebt haben. Dokumente verraten: die Dorfbevölkerung war danach um die Hälfte geschrumpft.
Weiter geht es im Stakkato weniger Jahre: 1529 brennen die Truppen von Johann Szapolyai den Ort nieder, 1600 die von Michael dem Tapferen. 1690 rauben Emmerich Thökölys Soldaten die Kirche aus, dann plündern 1706 die Kurutzen das Dorf. 1710 fordert die Pest 113 Todesopfer. 1871 sterben 47 Bewohner am „Kalten Fieber“, Malaria. 1910 folgt die Zwangsevakuierung der Deutschen aus Kleinscheuern und die Flucht nach Bulkesch/Bălcaciu. 1945 werden 223 Kleinscheuerner nach Großscheuern gebracht und von dort in Viehwaggons 18 Tage lang in die heutige Ukraine deportiert. In Dnjepopetrowsk, im Donbass, werden sie auf sieben Arbeitslager verteilt, um die russische Kohle- und Schwermetallindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauen zu helfen. Bis zur Rückkehr 1949 sind 18 von ihnen dort verstorben.
Demografie und Bildung
Demografische Daten reflektieren die obigen Ereignisse zum Teil: 1468 zählte man in Kleinscheuern 58 Häuser, 1488 „47 Hauswirte und zwei Hirten“. 1493 ist die Bevölkerung nach drei Türkeneinfällen um 50 Prozent geschrumpft. 1536 und 1572 zählt sie wieder 50 Hauswirte. 1695 werden 18 verlassene Höfe erwähnt, trotzdem wird 1715 eine Schule gebaut.
Über das Schulwesen wird ausführlich berichtet: In vorreformatorischer Zeit den Jungen vorbehalten, lernte man „Gebete, Singen, Lesen und Schreiben in lateinischer Sprache“. Nach der Reformation sah die Kirchenordnung der Deutschen in Siebenbürgen (1547) dann auch Unterricht in deutscher Sprache vor. Anfangs wurde der Schulbesuch lediglich „empfohlen“, fand nur mündlich ohne Bücher statt und beschränkte sich auf die Wintermonate. Erst 1722 wurde die allgemeine Schulpflicht für beiderlei Geschlecht eingeführt, allerdings getrennt. Ab dem 19. Jh. gab es ganzjährigen Unterricht. Eingeführt wurden auch neue Fächer wie Sittlichkeit, Aufsatzschreiben, Anatomie und Geschichte, nur für Mädchen beschränkte sich der Lehrstoff auf Lesen und Handarbeiten.
1930 leben in Kleinscheuern bereits 1236 Sachsen – und 274 Rumänen, 114 Roma, 6 „andere“ und 3 Ungarn. 1977 sind von 2706 Einwohnern nur noch 1380 Deutsche. 1989: 580 Deutsche. 1992: 2132 Einwohner, 124 Deutsche; im selben Jahr gründen die ausgewanderten Sachsen die Heimatortsgesellschaft Kleinscheuern. 2003 leben im Ort noch 7 „evangelische Seelen“, erstmals wird dort das Treffen der ausgewanderten Sachsen organisiert.
20 Jahre später begehen die Kleinscheuerner Sachsen und Rumänen gemeinsam die Feier zum 700. Jubiläum seit der ersten Erwähnung ihrer Gemeinde. Zu diesem Anlass wird im August die vorliegende Monografie präsentiert und eine begleitende Paneele-Ausstellung von Martin Rill gezeigt.
Der größere Rahmen
Interessant ist der Ansatz des Herausgebers Rill, die Geschichte des Dorfes in den viel größeren Rahmen der Erdgeschichte einzubetten, beginnend mit dem Tertiär vor 65 Millionen Jahren: Damals lag das heutige Siebenbürgen noch auf dem Grund des Thetys-Meeres. Erst durch den Zusammenstoß der afrikanischen mit der euroasiatischen Platte falteten sich die Gebirge des Atlas, der Alpen, der Karpaten und des Kaukasus auf. Am Innenrand der Karpaten entstand mit der Zeit durch Erosion die Zibinssenke, in der das heutige Kleinscheuern liegt.
Salzlagerstätten, die bis an die Oberfläche reichen, sorgten dort schon in der Steinzeit für günstige Lebensbedingungen. So gibt es archäologische Spuren von Siedlungen in und um Kleinscheuern von der Jungsteinzeit bis zum Frühmittelalter. Grubenhäuser und Tonscherben werden der Coțofeni-Kultur und der Noua-Kultur zugeordnet, Keramik der Wietenberg-Kultur. Aus dakischer Zeit gibt es Funde von Behausungen mit Töpferwerkstätten und Vorratsgruben, die vom 2. Jh. vor Christus bis ins 2. Jh. danach kontinuierlich in Gebrauch waren. Damit lassen sich 700 Jahre sächsische Siedlungsgeschichte in Kleinscheuern locker messen. Doch macht der Vergleich auch bewusst: das Rad der Geschichte dreht sich weiter.