Knapp ein Viertel der Kandidaten sind Frauen

Ein Fokus des Expert Forums zu den Kommunalwahlen  vom kommenden Sonntag

Das Expert Forum ist ein Bukarester Thinktank, bestehend, laut Selbstdefinition, aus Experten für öffentliche Politik und Verwaltungsreform, der sich um Bereiche kümmert wie Reform der Verwaltung, Integrität, Dezentralisierung, öffentliche Finanzen, Justizreform, Antikorruptionspolitik, Energie-, Verkehrs- und Gesundheitswesen, Wahlen, Aktivsein im Sozialleben, Bekämpfung von Fake News und Desinformation. Der Kern des Expert Forums besteht aus sechs Frauen und drei Herren. Bekanntester Vertreter des Expert Forums ist der Soziologe und Politologe Sorin Ioniță.

Das Expert Forum analysierte die Kandidaturen für die Kommunalwahlen in 3187 Wahlkreisen – das ist die offizielle Zahl der am kommenden Sonntag aktiven Wahlkreise, wie sie von der Ständigen Wahlbehörde (AEP) angegeben wurde. Unter anderen untersuchte das Expert Forum die Kandidaturen für die Bürgermeisterposten, etwa, ob amtierende Bürgermeister wieder antreten, ob sie das für dieselbe oder eine andere Funktion tun, ob in demselben oder einem anderen Wahlkreis - zumal Kandidaturen an einen festen Wohnsitz gebunden sind.  

Ethik, Fairness und persönliche Interessen

Laut Expert Forum gibt es rumänienweit 377 Bürgermeister, die nicht mehr antreten. Das sind 12 Prozent aller amtierenden Bürgermeister. 415 Bürgermeister (13 Prozent) haben zwecks der Wahlen vom kommenden Sonntag während ihres Mandats (die meisten in den Vorwahlmonaten 2023-24) die Partei gewechselt, sind also Wendehälse. Was aufgrund eines umstrittenen Parlamentsbeschlusses, den Präsident Johannis durch seine Unterschrift validiert hat, durchaus möglich und leider auch legal ist. 91 Prozent dieser Wendehälse sind Gemeindebürgermeister (was auch darauf zurückzuführen ist, dass nahezu alle ländlichen Kommunen Rumäniens auf Geld „von oben“ angewiesen sind, weil sie ihr Personal samt Amtsverpflichtungen unmöglich aus eigenem Einkommen finanzieren können – ein Wink auch in Richtung Notwendigkeit einer Verwaltungsreform (die alle Politiker fürchten), implizite in Richtung Auflösung der Landeskreise, Bildung größerer Verwaltungseinheiten und Zusammenlegung von Kommunen bis zu einer finanziell vernünftig zu verwaltenden Einwohnerzahl - 3000-5000 Bewohner). Drei Prozent der Wendehälse sind Munizipalbürgermeister, sechs Prozent Stadtbürgermeister.

Nettogewinner der ideologischen und ethisch-moralischen Schwäche der Parteienwechsler ist die PSD (ein Wechsel der Partei während eines Mandats ist eindeutig ein Verrat gegenüber der Wählerschaft, ein Vertrauensbruch, insofern an der Wahlurne für eine Person als Vertreter einer bestimmten Partei gestimmt wurde). Zur PSD „migrierten“ im abgelaufenen Jahr 279 Bürgermeister. Die meisten der Neu-PSDler kommen von deren Regierungs- und Allianzpartner PNL (174). Weit abgeschlagen folgen Bürgermeister aus den Reihen der PMP (27), die auch vom Ex-Präsidenten Traian Băsescu, der sie gründete, faktisch sitzengelassen wurde.  Die PSD selber liegt auf Rang zwei der parteiwechselnden Bürgermeister, mit 48 Wegläufern. Die Rechtsextremen von AUR verloren neun Bürgermeister an andere Parteien, davon drei im Landeskreis Bacău. Allerdings ist AUR nur bedingt in diesem Kontext relevant, denn die Rechtsextremen existierten bis 2020 (den für das laufende Mandat abgehaltenen Wahlen) in keiner Statistik.

Zur PNL wechselten 99 Kandidaten vor den Wahlen vom kommenden Sonntag, 39 von der PSD. Zur PNL kam eine relativ hohe Zahl von Kandidaten, die 2020 als parteilose Kandidaten zu Bürgermeistern gewählt wurden – 21. Trotz diesem Zuwachs: insgesamt verlor die PNL im Vorwahljahr 2023-24 188 auf ihren Listen gewählte Bürgermeister. Geradezu tragisch ist die Lage der als Reformpartei angetretenen USR: sie verlor 26 Bürgermeister (mehrheitlich an die PSD) und „gewann“ nur einen dazu: von der PNL. 

Unterentwicklung und Wendehalsigkeit

Den Rekord an Wendehälsen hält einer der politisch, wirtschaftlich und bildungsmäßig umstrittendsten Landeskreise Rumäniens, Teleorman (man erinnere sich an die Verwaltungskatastrophe, die seinerzeit PSD-Chef Liviu Dragnea durch die Invasion von hohen Regierungsbeamten und Ministern – inklusive Innenministerin und Regierungschefin – auslöste, die er mehrheitlich aus dem unterentwickelten Teleorman re-krutierte…): 25 Bürgermeister wechselten die Partei. Rang zwei nimmt Vâlcea ein, mit 21 Wendehälsen, gefolgt von Buz˛u, dem Her- und Hochkommenskreis des Regierungs- und PSD-Chefs Ion Marcel Ciolacu, mit 20 Prinzipienlosen. Auf Rang vier und fünf folgen die früher mal einen ganz anderen Ruf genießenden Landeskreise Karasch-Severin und Temesch, die „Banater“, mit je 19 Wendehälsen.

Die PSD hatte die „erfolgreichsten Abwerber“ in den Landeskreisen Teleorman (23 Neuzugänge von anderen Parteien) und Vâlcea (20), während die PNL in den Landeskreisen Suceava (9) und Giurgiu (8) Bürgermeister zum Parteienwechsel bewegen konnte, bzw. Zulauf von Wendehälsen bekam.

Sämtliche Daten, die Expert Forum analysierte, beinhalten auch die Ergebnisse der einzigen Teilwahlen der vergangenen vier Jahre, jener von 2021. Nicht enthalten sind mehrere Dutzend Kommunen, die aus diversen Gründen ohne Bürgermeister geblieben sind, weil keine Teilwahlen mehr organisiert wurden, also niemand nachrückte. Expert Forum veröffentlichte auch eine interaktive Karte Rumäniens, wo man per Mausklick sehen kann, wie das jeweils gewählte Ortsoberhaupt heißt, das die Wahloption seiner Wählerschaft von 2020 ignoriert hat, indem es die Partei wechselte, und zu welcher Partei die Person übergetreten ist. Da es in diesem Jahr zwischen dem Stichtag der Wahlen – 9. Juni – und dem Datum der Validierung der Gewählten eine ziemlich lange Zeitspanne gibt, musste das Parlament eine Klausel ins Wahlgesetz einbauen, um in dieser Zeitspanne zwischen Wahltag und Bestätigung der Wahl keine Migration mehr zu ermöglichen. Das geschah auch: weder Bürgermeister noch Ratsherrn jeder Ebene (Gemeinde, Stadt, Munizipium, Landeskreis) können in dieser Zeitspanne die Partei wechseln, auf deren Liste sie am 9. Juni gewählt worden sind. Danach allerdings: jeder nach seinem ureigensten Interesse… Und in absoluter Ignorierung der Wählermeinung, denn und unter normalen Umständen: vier Jahre lang kann der Wähler nicht mehr aktiv werden und Vertrauensbruch sanktionieren.

Gibt es den „Elena-Ceaușescu-Effekt“?

Ein weiterer interessanter Aspekt, den das Expert Forum hervorstreicht, ist der Anteil von Frauen auf den Kandidatenlisten. 

Insgesamt sind für die Wahlen vom Sonntag 207.390 Kandidaten und Kandidatinnen auf den Listen. Die meisten hat landesweit die PSD aufgestellt, wie um auch dadurch zu beweisen, dass sie die mitgliederstärkste Partei Rumäniens ist: 52.048 Personen kandidieren für sie. Auf Platz zwei folgen die PNL-Kandidaten (51.373). Rang drei nimmt die rechtsextreme AUR ein, die 2020 von den Umfrageinstituten gar nicht in Betracht gezogen wurde: 33.729 Kandidaten. Die USR bringt es auf 13.328 Kandidaten, die PMP immerhin noch auf 10.014 und der Ungarnverband UDMR 8147 Kandidaten. Der Frauenanteil unter den Kandidaten entspricht immer noch einer Art „Elena-Ceaușescu-Effekt“: wenn im Nationalkommunismus Nicolae Ceau{escus seine unterdurchschnittlich gebildete Frau zur „ADI“ (Academician-Doctor-Inginer) hochstilisierte und sie mit internationalen Ehrendoktorwürden überhäuft wurde (was eine heute noch existierende peinliche Zurückhaltung gegenüber Frauen in Führungspositionen auslöste), kommt auch mehr als 30 Jahre danach immer noch eher der rumänische Macho zum Zug: nur 24 Prozent aller Kandidaten sind Kandidatinnen. Die meisten hat die ultrarechte und russophile Dampfwalze der rumänischen Politik auf den Listen ihrer Partei SOS România, die parteilose Senatorin und ewig polternde Rechtsanwältin Diana [o{oac˛: 55 Prozent. Pro România hat 30 Prozent Kandidatinnen, gefolgt von Forța Dreptei (28), AUR (26), PSD (22) und PNL (21). Der Ungarnverband stellt sich mit 25 Prozent Frauen den Wahlen. 17 Prozent der Kandidaten, die „unabhängig“, also als Parteilose auftreten, sind Frauen. Der Prozentsatz ist auch aufschlussreich für das Selbstvertrauen der Frauen Rumäniens, in der Politik reüssieren zu können. 

107 Parteien, Unabhängige und 24 Allianzen treten an. 2024 treten um fast ein Fünftel weniger Kandidaten an als 2020 (2016 waren es sogar 267.242 Kandidaten, 2020 waren es 256.036). Auch wenn am Sonntag weniger als ein Viertel der Kandidaten Frauen sind, ist deren Anteil an der Gesamtzahl der Antretenden in diesem Jahr um zwei Prozent höher als bei den vorangegangenen Wahlen.