Wer hätte damals gedacht, dass es so knapp ausgehen würde für die Republik Moldau? Am 20. Oktober fand dort der erste Wahlgang statt, bei dem die pro-europäische Kandidatin Maia Sandu die absolute Mehrheit mit 42,45 Prozent der Stimmen verfehlte. Parallel dazu wurde ein Referendum durchgeführt, mit dessen Hilfe das Ziel eines EU-Beitritts in der Verfassung verankert werden sollte. Die Republik ist seit Juni 2022 EU-Beitrittskandidat. Sehr knapp erreichte das Referendum mit 50,46 Prozent eine Mehrheit. Hier eine Rückschau auf Einflussnahme, Manipulation und Stimmenkauf, die aufzeigt, wie weit der Arm Russlands reicht. Ein Spiel mit der Armut, das die Reichen und Einflussreichen mit der einfachen und verarmten Bevölkerung spielen. Ein Lehrstück?
Nach der Stichwahl Anfang November die Gewissheit: Maia Sandu hat die Wahl mit 55,37 Prozent der Stimmen gewonnen. Damit unterlag der Gegenkandidat Alexander Stoianoglu von der Sozialistischen Partei des Ex-Präsidenten Igor Dodon. Sowohl das Referendum als auch die Stichwahl wurden jedoch vor allem mit den Stimmen der moldauischen Diaspora entschieden. Mit 82,78 Prozent der Stimmen für Sandu waren die Wählerinnen und Wähler im Ausland das Zünglein an der Waage.
Als Maia Sandu kurz nach Mitternacht vor die Presse tritt, hält sie ihre Rede auf Rumänisch und Russisch. Sie bedankt sich bei allen Wählerinnen und Wählern „unabhängig davon, wie Sie gewählt haben und für wen sie gestimmt haben“. Sandu ruft zum Zusammenhalt auf: „Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit haben gesiegt“, sagt sie.
Hinter der Präsidentin und ihrem Land liegen schwere Monate. Monate der Polarisierung. Der Wahlkampf war angespannt, die Gesellschaft gespalten. Denn seit Jahren geht es immer wieder um den Kurs des Landes, der zwischen dem ehemaligen Großen Bruder Russland und der europäischen Integration oszilliert.
Einflussnahme und Manipulation von außen
Die Einflussnahmen Russlands auf die Wahlen waren mehr denn je zu spüren: So postete der nationale Sicherheitsberater der Präsidentin, Stanislav Secrieru, Anfang November auf der Plattform X mehrere Meldungen zu organisierten Wählertransporten aus Transnistrien. Kurz vor dem zweiten Wahlgang wurden mehrere Mitglieder der Wahlkommissionen ausgetauscht, weil man ihnen Einflussnahme zugunsten Russlands vorwarf. Auch online finden Desinformationskampagnen im großen Umfang statt: So verstärkten die flüchtigen moldauischen Oligarchen Ilan Șor und Veaceslav Platon mit Unterstützung des Kremls offenbar ihre Online-Desinformationskampagnen kurz vor den Wahlen. Laut dem moldauischen Think-Tank „Watch-Dog“ beliefen sich die Ausgaben der beiden Oligarchen für Online-Anzeigen allein im Monat August auf 33.300 Euro. Diese wurden hauptsächlich auf Facebook oder Google geschaltet. Dadurch sollte die öffentliche Meinung gezielt vor den Präsidentschaftswahlen und vor dem Referendum manipuliert werden.
Laut Berichten der ARD wurden außerdem bis zu 200.000 Stimmen gekauft – vermutlich waren es jedoch mehr, weil sich auch Freunde und Verwandte derjenigen, die ihre Stimme gegen Geld verkauft hatten, oftmals mit überzeugen ließen. Maia Sandu sprach nach dem ersten Wahlgang von 300.000 gekauften Stimmen. Genaue Zahlen lassen sich nicht rekonstruieren.
Stimmenkauf – eine Investigativ-Recherche deckt auf
Dass es im diesjährigen Wahlkampf weniger um die inneren Probleme des Landes als um die geopolitische Ausrichtung ging, bestätigt auch die Journalistin Natalia Zaharescu von der moldauischen Investigativ-Zeitung Ziarul de Gardă (ZdG). Wie lang der Arm Russlands reicht, wissen sie bei ZdG schon lange. Bereits im Jahr 2022 hatte die Zeitung die Machenschaften um gekaufte Demonstranten in der Hauptstadt Chișinău aufgedeckt, die gegen Präsidentin Sandu demonstrierten und konzertiert mit Bussen in die Hauptstadt gekarrt wurden. Auch damals führte die Recherche zum Netzwerk des prorussischen Oligarchen Ilan Șor. Er gilt als Drahtzieher des Verschwindens von etwa einer Milliarde Dollar aus dem Staatshaushalt der Republik im November 2014. Șor wurde in der Republik zu einer Haftstrafe verurteilt, hält sich aber gegenwärtig in Moskau auf.
Parallel zum Wahlkampf und zu den beiden Wahlgängen führte ZdG erneut eine Recherche durch, die den Stimmenkauf mit Geldern aus Russland aufdeckte. Bereits im Juni begannen Zaharescu und ihre Kollegin Mariuța Nistor mit den Recherchen: Dabei entdecken sie ein ganzes Netzwerk von Menschen, die den Stimmenkauf gegen die pro-europäische Präsidentin und das Referendum organisieren. Die Spur führt zu einem prorussischen Netzwerk, dem „Blocul Victorie“ („Block des Sieges“), im April 2024 gegründet von Ilan Șor.
Beide Journalistinnen schleusen sich ein und sprechen mit verschiedenen Kontaktpersonen: Rekrutiert werden Sympathisanten, dann Aktivisten. Die Arbeit ist stark hierarchisiert. Aber: Jeder ist hier irgendwie Chef. Auch das scheint das Netzwerk attraktiv zu machen. Je nach Anzahl der gesammelten Sympathisanten kann man zum Aktivisten aufsteigen. Für die Rekrutierung von Sympathisanten werden „Boni“ gezahlt, die über die russische Bank „Promswjasbank“ (PSB) zu den Begünstigten gelangen.
„Wichtig ist, dass ihr beim Referendum für NEIN stimmt“
Es ist eine Geschichte voller konspirativer Treffen, voller Absprachen, Anweisungen und Zwänge von oben. Die Sympathisanten und Aktivisten sollen sich selbst fotografieren: bei der Teilnahme an Protesten, beim Flyer verteilen, Plakate aufhängen – als Beweis für die zuständigen Sektorenchefs. Meist handelt es sich um ältere Menschen, überwiegend russischsprachig.
Man trifft sich in immer wieder neu eröffneten Büros, um nicht aufzufliegen. Bizarre Szenen spielen sich ab, weil die älteren Menschen oft nicht mit dem Handy und dem Chatbot auf Telegram umgehen können. Die mitgebrachten Papierlisten potenzieller Anhänger missfallen den Sektorenchefs.
Natalia Zaharescu soll zehn Sympathisanten sammeln. Eine Kontaktperson des Netzwerks sagt ihr, wie: „Wenn Sie zum Beispiel drei Personen haben, können die Ihnen Personen aus ihrem Familienkreis empfehlen. Da kommen schnell zehn Leute zusammen. Zehn ist nicht viel.“ In einer anderen Szene fragt die Journalistin, was sie den Menschen bei der Rekrutierung sagen soll. Die Antwort: „Wir sind die, die gegen die Europäische Union, gegen Maia Sandu und für eine Vereinigung mit Russland sind.“ Klarer geht es nicht.
Kurz vor den jeweiligen Wahlgängen ergehen Weisungen an Sympathisanten und Aktivisten: Man könne wählen, was man wolle, nur nicht Maia Sandu. Und beim Referendum solle man in jedem Fall für NEIN stimmen. Die beiden Reportagen dokumentieren akribisch, wie Armut dazu führt, dass Menschen manipulierbar werden – so weit, dass sie ihre Stimme für etwas hergeben, das dem großen Ganzen schadet. Oft mit den besten Absichten: Denn die Menschen sind überzeugt davon, dass von der EU Unheil droht: Dass bei einer Annahme des Referendums der Krieg ins Land kommt, ein Ausverkauf des Landes stattfindet, Homosexualität beworben wird.
Für jede Dienstleistung werden „Boni“ bezahlt. Auch kleine Geschenke gibt das Netzwerk heraus. Eines entpackt Zaharescu im Zuge ihrer Recherche: Es enthält einen Zitronentee, ein Glas Honig und einen abgepackten Kuchen. Klar ist am Schluss: Es ist ein Spiel mit der Armut, das die Reichen und Einflussreichen mit der einfachen und verarmten Bevölkerung spielen.
Die weiteren Aussichten – unklar bis frostig?
Nach dem knappen Ergebnis wurde das Referendum Ende Oktober durch das moldauische Verfassungsgericht bestätigt. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte im Vorfeld der Wahlen eine Unterstützung von 1,8 Millionen Euro versprochen. Der französische Präsident Emmanuel Macron und Präsidentin Maia Sandu unterzeichneten im März dieses Jahres ein Verteidigungsabkommen.
Im nächsten Jahr finden in der Republik Parlamentswahlen statt. Dazu sagt eine Kontaktdame der Journalistin Zaharescu am Telefon, dass die Arbeit nicht zu Ende sei. Der „Block“ wird ungestört weiterarbeiten, Russland weiter Einfluss nehmen. Die rechtsstaatlichen Reformen, die Maia Sandu will, lassen sich jedoch nur umsetzen, wenn sie weiterhin die Mehrheit im Parlament hinter sich hat.
Verhindert werden müsste, dass das kleine Land ausgepresst wird. Die Wirtschaft müsste gestärkt und die Abwanderung gestoppt werden. Damit Menschen ihre Stimme nicht mehr verkaufen – für ein Glas Honig, einen Kuchen und einen Zitronentee.
Beide Investigativ-Reportagen zum Stimmenkauf sind abrufbar unter zdg.md