Hermannstadt – George Enescu, der als Jungstudent in Wien auf der Geige erste Orchestererfahrungen unter dem Dirigat von Johannes Brahms gesammelt hatte, soll sie vom Klavier aus stets auswendig begleitet, ihr sängerisches Können in höchsten Tönen gelobt und ihr zum Studium in Paris geraten haben, erzählte am Montagabend, dem 30. September, im Altbau-Festsaal der Astra-Bibliothek Musikwissenschaftlerin und TVR-Fernsehredakteurin Ivona Cristescu aus Bukarest. Tatsächlich ging Veturia Ghibu, ab 1911 mit Onisifor Ghibu verheiratet und Mutter von vier Kindern, Mitte der 20er-Jahre des vorigen Jahrhunderts für einige Zeit nach Lyon und Paris, wo ihr gar angeboten wurde, in der Opéra Garnier Wagner-Rollen zu singen. Die vor dem Ersten Weltkrieg in Erfurt, Göttingen, Eisenach und Jena künstlerisch wie literarisch studierte Ehefrau von Pädagoge und Volksmann Onisifor Ghibu aber musste in der französischen Hauptstadt dem Druck auf ihre Rückkehr nach Rumänien Rechnung tragen und trat keine internationale Laufbahn an. Auch zuhause in Klausenburg/Cluj, wo sie von Ende des Ersten Weltkriegs bis 1940 wohnte, blieb es nur bei einem einzigen Auftritt als Elsa von Brabant in einer „Lohengrin“-Vorstellung der Oper, an deren Eröffnung 1920 sie planerisch entscheidend beteiligt gewesen war. Und noch just während der Anfangszeit der Musikhochschule Klausenburg, deren allererster Rektor Weggefährte Gheorghe Dima war, schaltete sich erneut Familienvater Onisifor Ghibu unkend als derjenige ein, der seiner dazu aufgeforderten Gattin das vertraglich geregelte Unterrichten nicht erlaubte. Dass Sängerin Veturia Ghibu erst im Alter von 35 Jahren in Rumänien öffentlich debütierte, was in Hermannstadt Forscher Corneliu Beldiman aus Bukarest beinah auf den Tag genau als hundertjähriges Jubiläum nannte, überrascht nicht.
Dennoch wurde während des Lesekonzerts in der Astra-Bibliothek zwecks Hommage an Veturia Ghibu das vor grauer Zeit überbetont Patriarchalische der orthodoxen Gesellschaftsnormen in Rumänien nicht an den Pranger gestellt, und auch der aufsässige Feminismus, der Frauen im 21. Jahrhundert nicht strengst einhellig aus der Seele spricht und teils mit Cancel-Culture-Weltbildern verwoben scheint, blieb im nasskalt verregneten Hermannstadt am letzten September-Abend außen vor. Obschon die Programmgestaltung mehrheitlich Frauenhänden gehorchte: Ivona Cristescu und die aus Bukarest mit angereiste Moderatorin Bianca Manoleanu, sehr erfahrene Sängerin im Konzert- und Oratorienfach, blieben historiografisch ohne harte Worte bei der Sache. Einzig zur Einführung in die Vortragsstunde gönnte sich Bianca Manoleanu zum Vergleich einen Fingerzeig auf den längst weit verbreiteten Konsum von Kulturangeboten durch die inhaltlich stark verkürzende „TikTok“-Smartphone-App, was „keine profunden, keine wirklichen Emotionen“ fördere. Beerdigt wurde Veturia Ghibu, die das Alter von 70 Jahren erreichte, 1959 am Hermannstädter Zentralfriedhof.
Das Sängerische des Abends im leider fast gänzlich vom Publikum vergessenen Jugendstil-Festsaal der Astra-Bibliothek bestritt Tochter Stanca Manoleanu mit einer Lieder-Auswahl entsprechend der Repertoire-Vorlieben von Veturia Ghibu. Brahms, der bei ihrem Klavierpartner Enescu unnachgiebig hoch im Kurs gestanden habe, war zwar nicht dabei, doch wagte sich Stanca Manoleanu an den „Mignon“ von Goethe in seiner Vertonung durch Spätromantiker Hugo Wolf und gleich zu Beginn an den ebenso goetheschen „Erlkönig“ von Lied-Dichter Franz Schubert heran. Größtmögliche Sauberkeit über den gesamten Umfang ihrer Stimme war gegeben, nur mangelte es deutlichst an einer markigen Aussprache einschließlich geeigneter Tonfärbung, zumal Veturia Ghibu selbst das Deutsche sängerisch einwandfrei beherrscht haben muss. Als Vortragende dreier Lieder von ihrem komponierenden Klavierbegleiter Mihai Murariu, einem nicht weniger zeitgenössischen Lied von Dan Dediu sowie je einem Charakterstück von Gabriel Fauré, Henri Duparc und nicht zuletzt Jules Massenet fühlte sich Stanca Manoleanu wohler und stilistisch viel passender aufgehoben.
Im Übrigen versprühte die seriöse Veranstaltung einen ungefähren Eindruck von genau dem, was Veturia Ghibu der Schlussfolgerung von Corneliu Beldiman nach zeitlebens gelang: „Sie traf überall, wo sie hinkam, binnen kürzester Zeit auf Sympathie!“ 1933 gab sie das Singen wegen eines Herzleidens auf, das aller Wahrscheinlichkeit nach auf den Tod eines ihrer vier Kinder zurückzuführen war, hielt aber bis zu ihrem Lebensende dem Klavier die Treue. Und richtete 1941, als Rumänien in den Zweiten Weltkrieg eintrat, ein Fest zum 60. Geburtstag von George Enescu in Hermannstadt aus, das leider in Bukarest nicht mehr hatte gefeiert werden können. Und ein Fest für Veturia Ghibu? Der Tonkünstler-Verband Rumäniens (UCIMR) hat es nebst Hermannstadt auch in Klausenburg, Kronstadt/Brașov und Sinaia öffentlich zu feiern angeboten und allein im Königlichen Peleș-Schloss etwas mehr als traurigst klein aufgestelltes Publikum begrüßt. Donnerstag, am 10. Oktober, wird es zum vorläufig letzten Mal um 19 Uhr im Opernstudio und multimedialen Konzertsaal der Musikhochschule Bukarest zele-briert. Ein Plus an Aufmerksamkeit wäre verdient.