Über 20 Jahre ist es nun her, seitdem Björn Reinhardt Berlin gegen Oberwischau/Vișeu de Sus getauscht hat. In all diesen Jahren entstand ein beeindruckendes Arsenal an Werken, Dokumentationen, Büchern, Fotografien und Zeichnungen. Wie einst schon vor über einem Jahrzehnt, dreht Björn Reinhardt nun erneut eine Dokumentation über die Oberwischauer Zipser, die das eine Auge zum Lachen bringt und das andere zum Weinen. Tiefere Einblicke liefert das Gespräch mit Alfred Fellner.
Herr Reinhardt, wenn man Ihren Namen in die Google Suchleiste eingibt, findet man sofort eine Menge Informationen über Sie. Es ist vielen bekannt, nachdem sie Ihre Filme, Fotografien und Bücher gesehen oder gelesen haben, dass Sie ursprünglich aus Berlin stammen und vor über 20 Jahren eine neue Heimat in Oberwischau gefunden haben. Heutzutage könnte man sagen, dass Sie ein Multitalent sind, mit über 50 Dokumentarfilmen, einem umfangreichen Buch mit Fotos und Kurzgeschichten, vier Romanen und vielen Zeichnungen. Können Sie uns bitte erzählen, wer Sie sind und was genau Sie tun?
In erster Linie bin ich wohl jemand, der sich nicht gerne auf eine Antwort festlegen lässt. Erst recht nicht, weil es für mich keine einfachen Antworten geben kann. Manchmal fehlen mir sogar gänzlich die Worte für eine Antwort. Aber Sie haben mit Ihrer Frage recht: Wer bin ich überhaupt? Höchstwahrscheinlich kann ich Ihnen die Frage nicht zufriedenstellend beantworten, jedenfalls nicht im herkömmlichen Sinn. Vielleicht bin ich einfach nur ein gut reflektierendes Spiegelbild meiner Umwelt. Wenn etwas meine Aufmerksamkeit erregt, stehen meine Chancen gut, die am besten dazu passende Ausdrucksform zu finden.
Drehen wir die Zeit doch etwas zurück: Alles begann mit meiner Begeisterung für Malen und Zeichnen. Nach meinem Studium der Szenografie an der Berliner Kunsthochschule Weißensee arbeitete ich einige Jahre als Bühnenbildner, zunächst als festes Ensemblemitglied an einem ostdeutschen Theater. Nach der Wende arbeitete ich dann ein paar Jahre freiberuflich und hatte auch die Möglichkeit, als Gastbühnenbildner am Deutschen Staatstheater Temeswar (DSTT) zu arbeiten. Diese Erfahrungen erlaubten mir, künstlerische Freiheit zu erfahren. Ein zweijähriger beruflicher Abstecher als Produktionsleiter in einer Film- und Fernsehproduktionsfirma konnten mich da nur bestärken. Davor hatte ich bereits meinen ersten Dokumentarfilm gedreht, der in Siebenbürgen, Rumänien, spielte und noch heute zeitlos bleibt. Der prämierte Film erlangte auch Aufmerksamkeit im rumänischen Fernsehen.
Nach meiner Übersiedlung in die Maramure{ im Jahr 2002 begann ich, weitere Dokumentarfilme zu drehen. Über die Jahre hinweg produzierte ich mehr als 50 Filme, die auf knapp 50 Filmfestivals gezeigt wurden und ein Dutzend Filmpreise gewannen. Einige Filme entstanden auch in Albanien, Griechenland, Kreta und Georgien. Da ich auch gerne fotografiere und die Kameraarbeit selbst übernehme, entschied ich mich, aus einer Vielzahl von Fotografien einen Fotobildband über die Maramure{ zu erstellen. Da ich mich daran erinnerte, gelegentlich gute Kurzgeschichten geschrieben zu haben, und mein erster Roman gerade fertig war, entschied ich mich, die beiden Ausdrucksformen zu kombinieren. Die Buchidee war geboren und der Schiller Verlag in Hermannstadt mit dem leider zu früh verstorbenen Verleger war schnell begeistert. Die Leser zeigten auch schnell Interesse. Seitdem habe ich drei weitere Romane geschrieben, die alle mit Rumänien zu tun haben.
Etwas, das ich hier noch erwähnen möchte, ist, dass meine Fotografien, insbe-sondere Porträts von Bauern und Bäuerinnen der Maramure{, mich inspirierten, diese starken Charaktere auch zu zeichnen. Inzwischen habe ich viele Kohlezeichnungen von Porträts angefertigt, die gerade in Deutschland ausgestellt werden. Hier schließt sich vielleicht der Kreis meines künstlerischen Schaffens. Da ich jede Ausdrucksform mag, springe ich seit ein paar Jahren mit großer Freude zwischen den verschiedenen künstlerischen Sparten hin und her. Eines ergibt sich immer aus dem anderen. Also, kaum dass ich Anfang dieses Jahres einen Film fertig gedreht hatte, saß ich auch schon an einem neuen Roman. Es würde mich nicht überraschen, wenn ich nächste Woche mit ein paar Zeichnungen beginne. Das Schöne daran ist, dass ich selbst nicht immer sagen kann, was als Nächstes geschieht. Aber es wird sicherlich etwas passieren.
Immer wieder Rumänien, dann Griechenland, Albanien, Georgien. In Ihren Filmen zeigen Sie Ausschnitte aus dem Leben einfacher, aber dennoch bewundernswerter Menschen, Ausschnitte aus einem Leben, das man meist übersieht. Ihre und meine Heimatstadt Oberwischau war öfters Kulisse Ihrer Filme. 2004 erschien Ihre erste Dokumentation über die in Oberwischau lebende Zipsergemeinde. Was bewegte Sie nach 20 Jahren erneut, die Zipser zum Thema einer Doku zu machen?
Die mich beschäftigenden Themen drehen sich meist um die Einfachheit und Schlichtheit des täglichen Lebens einiger weniger Menschen. Nach meiner Meinung lassen sich so am ehesten meine Vorstellungen von anzustrebender Klarheit und Anspruchslosigkeit ausdrücken. Wer wie sie am Rande der Gesellschaft leben muss, sozusagen an der Peripherie des Lebens, besitzt oft einen unverstellten Blick auf das Leben selbst. Beim Filmen begegne ich überwiegend offenen und aufgeschlossenen Menschen. Sie wirken authentisch, natürlich und sind mit ihrer zugänglichen Ausstrahlungskraft im eigentlichen Wortsinn „Filmhelden“.
Diese Menschen versuche ich mit meinen Filmen zu Wort kommen zu lassen, denn dank ihrer großen Lebenserfahrung haben sie viel zu erzählen, und das nicht zwingend mit vielen Worten. Der Zuschauer und ich können aus ihrem Erfahrungsschatz viel lernen. Obwohl sie viel über das Leben wissen, werden sie niemals belehrend oder gar verbittert. Wenn ich mich auf sie einlasse, ihnen aufmerksam zuhöre und sie filmisch ein Stück ihres Weges begleite, kann ich gar nicht anders handeln, als sie wenigstens mit den Mitteln des Films aus ihren viel zu häufig erdrückenden Problemen herauszuheben. Ich versuche dann, mit einem fesselnden und ästhetisch ansprechenden Film Interesse, Verständnis und Mitgefühl für sie zu wecken. Mein Gespür für starke Filmcharaktere hat sich mit den Jahren in der Maramureș herausgebildet, fällt aber auch in Albanien, Georgien und eigentlich überall dort, wo ich solchen Menschen begegne, auf fruchtbaren Boden.
Was die Zipser in Oberwischau angeht, konnte ich aufgrund meiner deutschen Identität sehr schnell Zugang zu dieser Volksgruppe finden. Mein erster Film in Rumänien beschäftigte sich nicht zufällig mit der Auswanderung der Siebenbürger Sachsen. Schon in den Achtzigern knüpfte ich mit einem einfachen Fotoapparat erste Kontakte zu den Zipsern. Mich faszinierten die Geschichte ihrer Ansiedlung und ihre geradezu archaische Arbeitswelt als Holzfäller und Flößer. Dass ich die von ihnen erzählten Geschichten, ihre sagenhaften Mära und Kasska, damals zum Teil noch selbst erleben konnte, empfand ich als außergewöhnlich. Wo ließ sich etwas mit dieser Intensität Vergleichbares noch selbst erleben? Aus diesem Grund habe ich zu Beginn meiner Arbeit als Filmemacher in der Maramure{ einen Film über die Zipser gedreht. Das Problem ist inzwischen, dass es immer weniger starke Zeitzeugen gibt, die gefilmt werden können. Ich habe den Vergleich zu früher. Beim ersten Film über die Zipser konnte ich eine fast hundertjährige Zipserin filmen, die sich detailliert an alles erinnerte und fesselnd erzählen konnte. Solch eine Gelegenheit wird sich nicht so schnell wieder ergeben.
Der vorerst letzte Film über die Zipser entstand über einen längeren Zeitraum, was einem Film ja immer guttut. Zeit wird sichtbar und die Protagonisten bekommen genügend Raum, sich zu entfalten. Der Beweggrund, den Film „Die letzten ihrer Art“ zu drehen, lässt sich schon im Titel ablesen. Ihre Dezimierung von einst fünftausend auf heute fünfhundert Zipser deutet schon an, dass sie mit der ablaufenden Zeit auch ihren angestammten Lebensraum verlassen werden. Doch wenn die Einheit von Zeit und Raum nicht mehr gegeben ist, bleiben nur die Erinnerungen. Und weil sich die stark überalterte Volksgruppe der Zipser in Oberwischau auf so gut wie keinen Nachwuchs, der sich einmal erinnern wird, verlassen kann, möchte ich diesen Film mit in die Waagschale legen.
Damals lautete der Titel „Süße Heimat Zipserei“, heute „Zipser. Die letzten ihrer Art“. Was ist in all den Jahren mit der „süßen Heimat“ geschehen, dass Sie sich im Untertitel die Frage stellen: Wie lange wird es die Zipserei noch geben?
Die „süße Heimat“ ist eine Illusion. Selbst die bestickten Tücher in Siebenbürgen, auf denen die Heimat in den süßesten Tönen beschworen wird, illustrieren nur diese Illusionen. Interessant in diesem Zusammenhang ist, dass ich in Oberwischau nie ein Tuch mit einer „Süße-Heimat“-Stickerei gefunden habe. Falls es doch eines gibt, würde ich mich über eine Nachricht freuen. Was seitdem geschehen ist, habe ich kurz erzählt. Was die Zukunft der Zipserei betrifft, glaube ich, vor einer rein mathematischen Rechenaufgabe zu stehen.
Versuchen Sie mit dem Film, im übertragenen Sinn, dagegen zu steuern? Ist es Ihre Art von Solidarität den Zipsern gegenüber, zu zeigen, was noch festzuhalten ist? So habe ich es verstanden.
Kein Film wird irgendetwas aufhalten können. Ein Film kann, genau wie Sie sagen, nur etwas festhalten. Was meinen Film betrifft, glaube ich, dass er etwas wie mit Stolz gestärkten Trost spenden kann. Im Film ist ein kleiner Zipser Junge zu erleben, der vielleicht einer der „letzten seiner Art“ in der Diaspora lebenden Zipser sein könnte. In seiner Haut möchte ich ehrlich gesagt nicht stecken. Deshalb habe ich ihm auch den größten Gefühlsraum im Film gegeben. Er symbolisiert für mich das „Prinzip Hoffnung“. Ich wünsche ihm von ganzem Herzen, dass auch in seinem schwierigen Anfang weiterhin „ein Zauber innewohnt“.
Sie gehen oft sehr nah an die Protagonisten heran, wenn Sie mit Ihrer Kamera arbeiten. Das wirkt für den Zuschauer sehr persönlich und ehrlich. Wie fühlen Sie sich, wenn Menschen – viele von ihnen im fortgeschrittenen Alter – Sie mit der Kamera so nah in ihr eigenes Zuhause lassen und so offen über ihr Schicksal sprechen? Was macht das mit einem nach so vielen Jahren Erfahrung?
Sicherlich kann die Nähe zu den Protagonisten in meinen Filmen suggestiv auf den Zuschauer wirken. Einige von ihnen könnten auch von mir zu emotional beeinflusst worden sein. Es gibt jedoch eine klare Basis zwischen mir und meinen Protagonisten: Vertrauen und Verantwortung. Wäre es anders, wären meine Filme nicht das, was sie sind, und würden sich nicht von anderen unterscheiden. Hat es mich persönlich verändert? Sicher, aber hoffentlich nicht zum Schlechten.
Was hat Sie in dieser Dokumentation über die „letzten ihrer Art“ am meisten berührt? Gibt es ein Erlebnis oder eine Geschichte, die in Ihrem Kopf geblieben ist?
Menschen, die ihre Gedanken und Gefühle öffnen, berühren mich immer. Ich versuche, meine eigenen Emotionen in meinem Film zu vermitteln. Vieles lässt sich durch den Filmschnitt erreichen. Man kann viel Filmmaterial drehen, aber wenn man es nicht richtig schneidet, fehlt die Tiefe und alles wird schnell bedeutungslos. Ich denke, besonders der erwähnte kleine Junge und seine Großmutter haben mich beeindruckt, weil sie ihm nach dem Kindergarten Geschichten erzählt. Ich würde gerne der Großmutter einmal zuhören, wenn sie Geschichten erzählt.
Im Sport sagt man „nach dem Spiel ist vor dem Spiel“. Gibt es in der Dokumentarfilmbranche einen ähnlichen Ausdruck, „nach dem Film ist vor dem Film“? Was können wir als nächstes von Ihnen erwarten? Was kommt als nächstes unter dem Namen Björn Reinhardt?
Bei meinen Filmen entsteht nicht wirklich das Gefühl „nach dem Film“. Ich lebe in der – wenn auch kleinen – Welt meiner Protagonisten. Ich treffe sie immer wieder, wenn sie nicht gestorben sind. Ich reise nicht mit einem zusammengewürfelten Filmteam an, um dann mit einer knappen Zeitvorgabe klarzukommen. Wenn man wie ich vor Ort filmt, wo man auch lebt, dann entsteht alles wie das Wetter, und es endet nicht einfach mit dem Regen.
Man könnte natürlich denken, dass sich nach über 50 Filmen die Themen langsam erschöpfen würden. Aber dem ist nicht so. Was sich ändert, ist das soziale Gefüge in Maramure{ und darüber hinaus. Das traditionelle Gemeinschaftsgefühl löst sich seit ein paar Jahren auf. Gerade darauf muss meiner Meinung nach auch filmisch reagiert werden. Deshalb plane ich einen Film, der diesen Verlust aufzeigt und – hier habe ich noch etwas Hoffnung – die Menschen dazu bringt, von selbst gegenzusteuern.
Glauben Sie, dass es in Zukunft eine weitere Dokumentation über die Zipser geben wird? Vielleicht in zwanzig Jahren? Was werden wir Ihrer Meinung nach dann zu sehen bekommen?
Ich denke schon, dass es eine weitere Dokumentation geben wird. Ob ich in zwanzig Jahren noch mit dabei sein werde, wird sich zeigen. Was wir dann sehen werden, hängt von vielen Faktoren ab, aber ich denke, dass es wichtig ist, dass jeder Mensch und jede Gemeinschaft einzigartig ist und dass eine neue Dokumentation über die Zipser ihre Einzigartigkeit zum Ausdruck bringen sollte. Vielleicht wird es eine rein archäologische Dokumentation? (Der Filmemacher lacht mit einem weinenden Auge.) Wenn alles schief geht, würde der Plural aus dem Filmtitel verschwunden sein.
Aber im Ernst. Jeder Mensch ist doch einzigartig und wenn das in einem neuen Film über die Zipser zum Ausdruck käme, hätte er seine Berechtigung. Es wäre ohne Frage sinnvoll, ihn auch mit nur einem Zipser zu drehen. Ich würde aber keinen Film drehen wollen, der mit „Es war einmal...“ beginnt. Mein Credo lautet: Nichts kann das Leben glaubwürdiger widerspiegeln als das Leben selbst.