Nichts los in Straßburg? Von wegen!

Europäisch hat eine Kleinstadt Siebenbürgens besonders kräftig vorgelegt

Dieses Bild hat vor Augen, wer vom Sportplatz des Bethlen-Gábor-Gymnasiums zurückkehrt.

Denkmal für ungarische Studenten, die 1704 von habsburgischen Soldaten ermordet wurden

Die schwersten Kreuze im kommunistischen Rumänien mussten all jene tragen, die ihr Leben in seinen Gefängnissen ließen. Daran lässt das „Calvarul Aiudului“ null Zweifel aufkommen.

Seit dem 350. Jubiläum des Bethlen-Gábor-Gymnasiums im Jahr 1972 überragt sein Wappen das Pausengeschehen im Schulhof.

Es gibt große Städte in Siebenbürgen, deren seit Epochen etablierte Gymnasien das von Fürst Bethlen Gábor gestiftete im kleinen Aiud nicht zu toppen vermögen.

Es liegt nicht am Rhein, kann sich keiner EU-Behörden rühmen und ist im Einwohner-Vergleich auch knapp vierzehnmal kleiner als die elsässische Hauptstadt. Und obwohl einer von Rumäniens längsten Flüssen es streift, ist es mangels Hafen oder befestigter Anlegestelle auf dem Wasserweg öffentlich für niemanden erreichbar. Vergessener Ort auf der Durchfahrt im Kreis Alba? Nein, überhaupt nicht. Denn Aiud zeigt vor, was eine Kleinstadt mit europäischen Fördermitteln an sich selbst zaubern kann. 

Stimmt, die Litfaßsäulen hier haben im Kräftemessen mit Karlsburg/Alba Iulia und dem noch viel feiner schillernden Klausenburg/Cluj-Napoca klar das Nachsehen. Kinoabende, Ausstellungen und Konzerte besonders von Klavierschülern aber gibt es öfters auch in Aiud zu erleben. Nagyenyed heißt es unter Magyaren, da statistisch immerhin zwölf Prozent der Einheimischen Messen in der römisch-katholischen Kirche der Heiligen Elisabeth von Ungarn feiern und in der mittelalterlichen Burg mit ihren neun Türmen Gottesdienste nach reformierter Ordnung. Straßburg am Mieresch lässt sich nicht lumpen.

Möchten auch Sie in erstklassigen Schuhen durchs Leben gehen? Unter den jährlich 900.000 Paar Tretern für jedes Wetter und jede Jahreszeit, die von 850 einheimischen Arbeitnehmern in der Fabrikhalle der GmbH Galway Sport an der Ausfahrt nach Karlsburg hergestellt werden, findet sich für Stadt, Land und Gebirge etwas sportlich bestimmt Passendes: im Verkaufsladen der italienischen Marke „Lytos“ im Ortszentrum gehen weder Damen mit Größe 42 noch Herren leer aus, die auf 48er angewiesen sind. Preislich mittleres Niveau für eine Qualität, die ruhig das Doppelte wert sein könnte. Zumal in Rumänien, wo Menschen mit Übergröße es nicht immer sehr leicht haben. Bei der Gore-Tex-Offerte von „Lytos“ in Aiud ist Scheitern nahezu ausgeschlossen.

Naturforscher und Expeditionsfahrer Sámuel Fenichel, Ende August 1868 in Nagyenyed geboren, dürfte hingegen ziemlich genau gewusst haben, dass ihn das Reisen in die Tropen sein Leben kosten könnte. Ganz zu schweigen von allen bitter nötigen Stiefeln, Sandalen und Schuhen für unterwegs, die das Straßburg Siebenbürgens seinerzeit wohl kaum auf Lager hatte; doch der transsylvanische Kompagnon von Albert Grubauer aus dem erzkatholischen Bayern war trotz der wirtschaftlichen Bescheidenheit seines jüdischen und kinderreichen Elternhauses am christlich-reformierten Bethlen-Gábor-Gymnasium zur Schule gegangen und brachte es binnen 14 Monaten Aufenthalt in Papua-Neuguinea als Sammler von fast 25.000 Insekten zu posthumer Berühmtheit. Das klimatisch Außergewöhnliche der südwestpazifischen Inseln zu überleben war Sámuel Fenichel nicht geschenkt – dem Naturwissenschaftlichen Museum in einem Flügel des Bethlen-Gábor-Gymnasiums dagegen ist es irgendwie geglückt, sich ein paar Fundstücke von ihm zu sichern. Auch wenn das Gros im Ungarischen Nationalmuseum gehütet wird, hat Budapest nicht das Monopol über den Nachlass von Pionier Sámuel Fenichel, der fünf Monate vor seinem 25. Geburtstag starb. Und das im Jahr 1796 eröffnete Naturwissenschaftliche Museum von Straßburg am Mieresch? Inhaltlich ebenso reichhaltig wie der weltumspannende Parcours Fenichels vom Nordseehafen Hamburg über den Atlantik, das Mittelmeer, das Rote Meer und den Indischen Ozean bis in den Pazifik!

Im wirklich großen Hof und den herrschaftlichen Treppenhäusern des Bethlen-Gábor-Gymnasiums, das alle pädagogischen Stationen von der Kindertagesstätte und dem Kindergarten bis zur 12. Klasse auf Ungarisch als Mutter- und Bildungssprache abdeckt, fühlt man sich fast schon wie an einem akademischen Haus, und in der Tat ist die 1622 gegründete Einrichtung es bis 1895 auch gewesen. Wer an Reinkarnation glaubt, ertappt sich hier mitunter bei dem Gedanken, im nächsten Leben unbedingt in einen Körper und die Konditionen der magyarischen Bewohner Siebenbürgens hineingeboren werden zu wollen: der überragende Altbau, sein Sportplatz in bester Hang-Lage mit Aussicht auf Straßburg am Mieresch und der weiträumige Campus sind auf Kosten der EU so vorbildlich renoviert worden, dass man vor lauter Staunen einfach nicht anders kann, als sich noch einmal in die eigene Schulzeit zurückzuwünschen – dann aber bitte unter Bedingungen, wie sie das Gymnasium in Nagyenyed hergibt, und sei es als Internats-Zimmer-Bewohner. Die Reputation der Bildungsstätte, 1622 von Fürst Bethlen Gábor zunächst in Karlsburg eröffnet, dreieinhalb Jahrzehnte später wegen des zerstörerischen Einfallens von Türken und Tataren nach Klausenburg verlegt und ab 1662 dauerhaft in Aiud etabliert, muss schließlich ihre satten Gründe haben. Auf das ungarische „Bethlen Gábor“ im übersichtlichen Aiud schicken sogar Eltern von weither ihre Kinder. 

Weil es im kleinen Straßburg am Mieresch trotzdem jede Menge zu lernen gibt. Angefangen vom über 200 Jahre alten Stadtpark in nur wenigen Minuten Entfernung zu Fuß von der reformierten Schule, den die nach Szekler und Bauernaufstands-Anführer Dózsa  György aus dem frühen 16. Jahrhundert benannte Straße eingrenzt. Was im Park genutzt werden kann? Ein Kinderspielplatz, Fitness-Geräte für das Training unter freiem Himmel, ein Fußballplatz natürlich sowie zwei Tennisplätze zum Aufschlagen, Schneiden und Punkte-Zählen auf Sand. So weit, so gut. Schön eigentlich ins Ambiente eingepasst auch das an der Schwelle vom 19. in das 20. Jahrhundert errichtete Studenten-Denkmal zwecks ehrenvoller Erinnerung an die jungen Herren aus den Bänken des Kollegiums nebenan, denen niemand aus dem habsburgischen Heer 1704 das Leben zu schenken bereit war. Ob an den Denkmal-Zaun geknotete Trauerkranz-Fahnen in den ungarischen Nationalfarben die beste aller Antworten darauf sind? Fortwehen kann sie weder der Herbst-, Winter-, Frühlings- noch der Sommerwind, und gesellschaftlich sich verschärfender umso weniger.

Aber auch das Nicht-Hinschauen ist keine Lösung. Besonders in Aiud, dessen Gefängnis seine tieftraurige Tradition hat und vom kommunistischen Regime auf Anwendung schrecklichster Härte getrimmt wurde. Soll man das 1999 am Stadtrand artistisch über dem Häftlings-Friedhofs fertiggestellte „Calvarul Aiudului“, das den Abhang monumental krönt, auf Deutsch als das „Kalvarium von Aiud“ führen dürfen? Na ja, die Sache reimt sich – wenn ihr gesamtes Ausmaß berücksichtigt sein will – dann wohl doch nur auf Rumänisch. Man kann ja auf der Straßenkarte auch nicht das „Strasbourg pe Mureș“ erkennen, oder? Partikuläres widerstrebt jeder Anpassung.

Genauso, wie es seine einengende Härte verliert, wenn man von ihm aktuell Bescheid weiß. Die Häufigkeit von Gottesdiensten in der evangelischen Kirche der Burg, viel kleiner und später als ihr reformiertes Pendant ungarischer Verkündigungssprache erbaut, dürfte vor gut einem halben Jahrhundert vermutlich kräftiger als heute gestanden haben. Tut aber nichts zur Sache, wo das Projekt zur Renovierung der Burg von Straßburg am Mieresch auf Basis von EU-Fördermitteln auch der Kirche der Siebenbürger Sachsen gilt und sie gleichermaßen vor Regen, Wind und Wetter schützen wird. Nicht um letzte Zuckungen geht es hier, sondern um finale Arbeitsschritte, die laut Informationstafel schon Ende Dezember abgeschlossen worden sein sollten. Und selbst wenn nicht, kann es beim Harren auf die Wieder-Öffnung der Burg von Aiud für ihre Besucher nur noch auf Wochen oder Monate ankommen. Rundum ausgeglichen hat Nagyenyed seit zu langen Jahren nicht mehr überzeugt.