Playlist für das Ende der Welt?

Ein musikalischer Spiegel der Wahlen

Symbolfotos: Pixabay

2016 veröffentlichte Mihnea Blidariu sein „Playlist pentru sfârșitul lumii“ (Playlist für das Ende der Welt). In dem Buch versucht er, von Liedern ausgehend, seine Gefühle und Erlebnisse im Laufe ungefähr eines Jahres festzuhalten. Der Titel des Buches fiel mir erneut am 24. November 2024 ein. An dem Montag wachte Rumänien in Folge der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen mit Călin Georgescu als Listenerster auf - und die Welt im Donau-Karpaten-Raum war, wenigstens für einen Teil der einheimischen Bevölkerung, aus den Fugen geraten. 

Rumänien fand sich am Anfang des „Highway to Hell“ oder am Fuße der „Stairway to Heaven“ wieder. Ein Volk zerrissen zwischen Apokalypse und Parusie. Und so entstand eine unbeabsichtigte Liederliste. 

Boomtown Rats & Metallica & Luna Amară

Mit den Resten des vom Sandmännchen am Vorabend gestreuten Sand auf den Augenlidern wurde einem so langsam klar, was am 23. November 2024 bei dem ersten Urnengang der Wahlen für das Präsidentenamt in Rumänien geschehen war. Entgegengesetzt aller Prognosen hatte sich wie aus dem Nichts, welches aber kein Nichts war, wie sich in den nächsten Tagen zeigen sollte, ein gewisser grauhaariger Herr als Favorit der rumänischen Wählerschaft entpuppt. Nicht der von manchen als Gefahr und von den anderen als Lieblingsgegner gesehene AUR-Vertreter George Simion, nicht die alteingesessenen Vertreter der traditionellen Parteien PSD und PNL, nicht die Möchtegern-Progressisten der USR, sondern der aus dem Netz kommende „unabhängige“ Călin Georgescu hatte mit über 300.000 Stimmen die Nase vorn. 

Während die Neuronen sich bei Morgenkaffee und Zigarette ihren Weg in die ihnen vorbestimmten Bahnen zu finden begannen, leuchtete mir langsam ein, was geschehen war. Und Boomtown Rats mit ihrem „I Don´t Like Mondays“ begannen sich in meinem inneren Musikplayer zum Ohrwurm hochzuarbeiten. Dabei blieb die eine Zeile immer wieder hängen: „He can see no reasons/ Cause there are no reasons.“ Die Suche nach Gründen für die Wahlergebnisse sollte die nächsten zwei Wochen bestimmen. 

Genau wie ein großer Teil der rumänischen Bevölkerung begann ich erst nach den Wahlen, Tante Google nach Călin Georgescu zu befragen. Die Tante ließ nicht mit Antworten auf sich warten. Und ich erfuhr, dass es keinen Westen und keinen Osten gibt, sondern nur Rumänien, dass nach Jesus Mihai Eminescu die gefährlichste Person der Weltgeschichte gewesen war und dass sich das rumänische Volk mit beiden aussöhnen müsse; dass unter dem Bucegi Gebrige ein Energiestrom fließt, dass Frauen unfähig sind, einen Staat zu leiten, da dieses nicht ihre gesellschaftliche Aufgabe sei, von Begegnungen mit Außerirdischen, von der Gottesverbindung, die durch die Nabelschnur läuft und die von einem Kaiserschnitt unterbrochen wird und so manches mehr. Inzwischen hatte sich in meinem Kopf „Somekind Of Monster“ von Metallica breit gemacht. Der als Verszeile immer wiederkehrende Liedtitel in Wechsel mit dem Bridge „We the people/Are we the people?“ drückten zeitgleich die Verwunderung und das Unverständnis in mir aus. 

Langsam fanden neue Worte im rumänischen Sprachgebrauch ihren Platz: „Antisystem-Wahl“, „souveranistische Politik“, „TikTok-Allgorithmen“ usw. Überall suchte man nach Erklärungen und schüttelte den Kopf. Mit dem voranschreiten der Stunden gewann der unscheinbare Schatten Călin Georgescus immer mehr an Gestalt und rückte aus der virtuellen Welt in die harte Wirklichkeit. Ein anders, aber existierendes, Rumänien zeigte sein Gesicht, ein Gesicht welches in meiner Info-Blase als eventuell möglich galt, aber dessen konkrete Existenz nicht wahrscheinlicher war als der bluttrinkende Graf mit dem unser Land immer wieder in Verbindung gebracht wird. 

Und während am Abend „Focuri“ von Luna Amar˛ seinen Platz als Ohrwurm eingenommen hatte, wurden die schlimmsten Bilder der letzten fünfunddreißig Jahre rumänischer Geschichte in mir wach: die Bergarbeiter mit ihren brutalen Auftritten in den Neunzigern, Iliescus originelle Demokratie, der Dringlichkeitserlass Nr. 13, die Demonstration am 10. August 2018, in Folge derer die Klausenburger Rockband auch ihr Lied geschrieben hatte. Und während Blidariu in meinem Kopf aggresiv, radikal-demokratisch und unmissverständlich „Vom pune focuri în loc de lumânări“ (Wir werden Feuer legen an Stelle von Kerzen) schrie, musste ich mir selber eingestehen, dass für wenigstens 2,1 Millionen Rumänen Nicolae Furdui-Iancu mit seinem Lied „Noi suntem români“ (Wir sind Rumänen) zu den Versen des kommunistischen Hofdichters Păunescu in einer feierlichen Endlosschleife lief. 

Alice Cooper & Type O Negative

Die Woche zwischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hatte für viele Rumänen, auch für mich, eine in gewissem Maße augenöffnende Wirkung. Die eigene Filterblase wurde selten so bewusst hinterfragt. Es gibt ein anderes Rumänien. Es ist vielleicht im Alltag eher still, meldete sich aber bei der Wahl zu Wort. Es fühlt sich benachteiligt, missverstanden und ignoriert. Aber genau wie wir, in unserer Blase „die Guten“, hofft es auf eine bessere Zukunft, nur sieht sie diese auf einem anderen Weg verwirklicht. Ein Rumänien, welches aber immer da war. Es zieht sich wie ein roter Faden aus der Zeit der Legion in der Zwischenkriegszeit, durch den Nationalkommunismus unter Ceaușescu, über die nationalistischen Tendenzen nach der Wende, in extremistischen Bewegungen in manchen kirchlichen Kreisen heutzutage bis in die eben abgehaltenen Wahlen durch. Es ist wie eine toxische Liebesgeschichte zwischen dem Volk und dessen Zukunftsvorstellungen, aus der man nicht ausbrechen kann. Und dabei lief „Poison“ von Alice Cooper immer wieder in meiner Kopf-Playlist: „I wanna love you, but I better not touch (…) You´re poison running through my veins“. Das 1989 vom dem Rock-Urgestein veröffentlichte Liebeslied brachte beide Seiten meiner Beziehung zum Land zum Ausdruck: das Nicht-Losreißen-Wollen von Rumänien, doch auch das manchmal bis zur Verzweiflung treibende Gefühl der Kraftlosigkeit. 

Je mehr aber nach Antworten gesucht wurde, je mehr Erklärungen für das Aufkommen Georgescus aus dem Hut gezaubert wurden, desto mehr wurde die immer wieder  hervorkommende Schwäche des rumänischen Volkes für einen rettenden Helden offensichtlicher. Und ein Blick in die Geschichte ließ bei allen Gestalten, die sich als solche wahrnahmen, von Zelea-Codreanu bis Georgescu, eine Gemeinsamkeit erkennen: sie trugen/tragen in ihren eigenen Augen und in den Augen ihrer Anhänger die Aura eines Erlösers. Und wie aus dem Nichts drängte sich die dunkle Stimme des verstorbenen Peter Steel von Type O Neagtive auf. Das Lied „Christian Woman“ erzählt von der Sehnsucht nach Erlösung und endet in einer fünfminutigen Wiederholung einer einzigen Verszeile: „Jesus Christ looks like me“. Es tat weh, Georgescus Bild über das Lied und den Vers zu legen, doch trennen konnte ich sie voneinander nicht mehr. 

The Who & Altar

Dann kam der 1. Dezember. Nationalfeiertag. Parlamentswahlen. Playlisterweiterung. Im Zeichen der Parlamentswahlen ging der Nationalfeiertag unter. Wer daran aber unbedingt erinnern wollte, war Alexander Dugin (die entsprechende Botschaft erschien auf einem ihm zugeordneten Konto in den Onlinemedien, obwohl von so mancher Seite Zweifel an dessen Authenzität laut wurde): „So vorhersehbar! Während Rumänien gestern stolz den Tag der Vereinigung feierte, werden wir daran erinnert, dass Russland diese (die Vereinigung m. Anm.) nicht anerkannt hat.“. Am Vortag war meine Generation, die Bürger zwischen 30 und 55, wählen gegangen. Seit 2000 waren diese meistens den Wahlen ferngeblieben. Seit The Who 1965 das Lied „My Generation“ veröffentlicht hat, hat sich dieses als eines der Protestlieder aller Generationen etabliert. Zur „Kampfparole“ erkoren, wurde das „Talking ´bout my generation“ von Generation zu Generation weitergegeben und übernommen. Doch als die Ergebnisse der Wahlen abends auf dem Bildschirm aufflimmerten, wollte ich eigentlich nichts mehr von meiner Generation wissen. Oder bedeutete das „People try to put us down“ im besagten Lied der britischen Band für den größten Teil meiner Generation so etwas grundverschieden anderes als für mich, dass es in dem Einzug von drei nationalistischen Parteien ins rumänische Parlament zum Ausdruck gekommen war? War diese Wahl das große Aufbäumen der jüngeren Generationen im Jahr 2024? 

Inzwischen hatte das Verfassungsgericht die Wahlzettel der ersten Runde der Präsidentschaftswahl neu zählen lassen, die traditionellen Parteien hatten sich von dem ersten Schock erholt und begonnen so zu tun, als ob sie interne Reformbewegungen eingeleitet hätten, ja sogar Klaus Johannis hatte so etwas wie eine Entschuldigung für seine Amtszeiten formuliert. Sprich: man machte einfach weiter. Man schrie und schreit lauthals in die Welt wie böse die Anderen sind, zugleich hält man die eigenen Karten bedeckt, weil man sich alle Türen offen halten will, um an der Macht bleiben zu können. 

Und in die Playlist hielt auf fast natürliche Weise Altar Einzug. „Ich hoffe, ich habe dich überzeugt/Dass ich alles tun werde, was ich gesagt habe/Und dass ich auf deiner Seite bin/Also nimm meine Hand!/Denn ich will Präsident werden!“. „Vreau să fiu președinte“ (Ich will Präsident werden) und „S.O.S.“ (hat nichts mit der gleichnamigen Partei zu tun) bringen das Grundgefühl der letzten Tage am besten zum Ausdruck. Ein Grundgefühl zwischen zwei Extremen: wir retten die demokratische Zukunft Rumäniens einerseits, dabei muss man in Kauf nehmen, dass sich, ausgehend von der Zusammensetzung des Parlaments, nicht wirklich etwas in der rumänischen Politik ändern wird, und wir räumen mit dem System auf andererseits, wobei man sich fragen muss, ob diese Neugestaltung Rumäniens den sogenannten „souveranistischen Parteien“ anvertraut werden sollte. 

Am Sonntag wird sich Rumänien zwischen zwei DJ´s entscheiden. Welche Musik auf der Party der nächsten fünf Jahre aufgelegt wird, ist nicht abzusehen. In wie weit diese Musik Übereinstimmungen mit den Playlisten der Bürger aufweist, wird sich noch zeigen. Dass sich diese harmonisieren werden, darf ich weiterhin bezweifeln. Dafür sind und belieben sie zu unterschiedlich. „În umbra marelui urs“ (Im Schatten des großen Bären) von Phoenix findet schwer seinen Platz neben „Mor dușmanii mei“ (Meine Feinde sterben) von Bairam.