In der Bundesliga gibt es die Borussen von Dortmund und Mön-chengladbach. Aber wer weiß, dass damit Preußen gemeint ist? Bei Preußen Münster – nun Regionalliga – ist es klar. Auch dass die übliche Farbkombination unserer Nationalkicker schwarz-weiß ist, wissen kundige Fans. Und warum? Das sind die Farben von Preußen.
Ein Land, das weit weg ist, das mit dem Kontrollratsgesetz Nr. 46 im Jahre 1947 aufgelöst wurde, weil es „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland“ gewesen sei. Und doch lebt es weiter, ist fast das 17. Bundesland, unsichtbar. Ein Stück „Geheimes Deutschland“? Besser nicht, denn das klingt nach zu viel Poesie, nach Stefan George, auch wenn die Brüder Stauffenberg zum Kreis um diesen Dichter gehörten und dann Claus v. Stauffenberg am 20. Juli 1944 auch so handelte: Wort und Tat wurden eins.
Für Polen ist Preußen der sy-nonyme Begriff für Deutschland. Kein Wunder, denn nach Niederwerfung der baltischen Prußen durch den Deutschen Orden im Gebiet des historischen Ostpreußens entstand zusammen mit Pommerellen der Ordensstaat Preußen. Im zweiten Frieden von Thorn 1466 wurde es geteilt und unterstand dem polnischen König. Das neue Herzogtum Preußen fiel 1618 an die Kurfürsten von Brandenburg.
„Wir stehen zu Preußen“?
2020 wurde an staatliche Vereinigung der DDR mit Bundesrepublik vor 30 Jahren gedacht. Oft wird von der Wiedervereinigung geredet, was aber völkerrechtlich und historisch falsch ist, denn die im Jahr 1949 entstandene Bundesrepublik Deutschland war Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reiches. In diese völkerrechtliche Nachfolge wurde nun auch rechtlich die ehemalige DDR einbezogen. Das Deutsche Reich wurde ja weder von Großadmiral Dönitz noch von den Besatzungsmächten aufgelöst. Aber Preußen war untergegangen und Königsberg, wo 1701 der erste preußische König gekrönt wurde, heißt nun Kaliningrad und ist russisch. Als nach dem 3. Oktober 1991 auch das Bundesland Brandenburg entstand, sagte dessen sozialdemokratischer Ministerpräsident Manfred Stolpe: „Wir stehen zu Preußen, denn es ist ein Teil brandenburgischer und deutscher und europäischer Geschichte.“ Was ist von diesem politischen Versprechen geblieben?
Das Problem mit den Hohenzollern
Das Land Brandenburg will die Familie Hohenzollern, die sich gerne „das Haus Preußen“ nennt, politisch und juristisch auf Distanz halten. Und Georg Friedrich Prinz v. Preußen wehrt sich, als Bürger. Es geht um den Rückerwerb von mobilem und immobilem Kulturgut der Familie von gesamtstaatlichem Wert. Dieses wurde vom SED-Staat enteignet. Die Restitution ist aber rechtlich unmöglich, wenn nachgewiesen ist, dass der letzte Kronprinz Willhelm von Preußen dem NS-Staat durch sein Verhalten politisch geholfen, wenn er diesem „erheblich Vorschub“ geleistet hat. So steht es im Ausgleichsleistungsgesetz von 1994. Damit sind Juristen befasst und wohl dann die Gerichte. Beachtliche historische Gutachten, die sich in zwei Lehrmeinungen splitten, liegen dazu vor und seit 2021 die umfassende 700-Seiten-Studie von Stephan Malinowski „Die Hohenzollern und die Nazis“. Preußen und der nationalsozialistische Staat standen staatstheoretisch in einem absoluten Gegensatz, denn für Preußen habe die Hoheit des am Gemeinwohl orientierten Staates gestanden, meint der weltbekannte Historiker Christopher Clark.
Aber ein Mitglied der Familie v. Preußen, Kronprinz Wilhelm, hatte sich den Nazis angedient, er wollte die kaiserliche Monarchie zurück und setzte auf die neuen Herren des NSDAP-SA- und SS-Staates. Der Preußenprinz hatte indes nicht die Legitimation, die Staatsidee Preußens aufzukündigen, er hatte ohnehin nicht das geistige Profil dazu, an Bildung und Charakter fehlte ihm viel. Er hatte nur eines, den Erbe-Namen: Preußen. Ob er dem NS-Terrorregime „erheblichen Vorschub“ (ein bisher in Gesetzen unbekannter unbestimmter Rechtsbegriff) geleistet hat, wird seit Jahren hin- und hergewendet, ob die grundsätzlich gegebene Rückerstattungspflicht des Staates durch das Ausgleichsleistungsgesetz zu Fall zu bringen ist. Die Landesregierung in Potsdam hat den Rechtsstreit einige Zeit auf Eis gelegt, um Konsensverhandlungen zu ermöglichen.
Aber hat der Bundesgesetzgeber sich und uns nicht einen Bärendienst erwiesen, die Erfassung, Erhellung und Deutung von Geschichte zu verrechtlichen, vor allem zu personalisieren, um so die Geschichte von Preußen und speziell die des NS-Staates den Gerichten vor die Füße zu werfen? Wie defensiv und letztlich die Justiz missbrauchend. Das Ausmaß der historischen Expertisen und Recherchen erweisen doch, dass sich Geschichte nicht juristisch bändigen lässt, dass die Ressource Recht eben begrenzt ist und oft zum Rechtsfrieden nicht beträgt, zum gesellschaftlichen Ausgleich erst recht nicht.
Deshalb sollte Bundeskanzler Scholz diese Angelegenheit an sich ziehen und eine außergerichtliche Einigung auf den Weg bringen. Das wäre der Historie angemessen, sie braucht staatliches Handeln und keine Urteile von Verwaltungsgerichten. Im neuen Kulturausschuss des Bundestages sollte dies politisch mitgetragen werden. Dass der deutsche Historiker-Verband (VHD) eine außergerichtliche Einigung öffentlich bekämpft und meint, damit werde „der gesellschaftliche Zusammenhalt“ unterlaufen, ist eine unwissenschaftliche und politisch anmaßende Zurechtweisung, beleuchtet aber zugleich einen tiefer liegenden Befund.
Eine offene Wunde
Dieser liegt in den historischen Traumata des Nationalsozialismus, im KZ-Staat Deutsches Reich und so in fast allen deutschen Familienbiographien. Traumata verändern ein Menschenleben, sind aber nicht beendet mit dem Tod. Diese werden nämlich – wie die Neurologie feststellt – vererbt, bis ins vierte Glied. Wir Deutschen sollten uns klar machen, dass wir weiterhin traumatisiert sind von dem Zivilisations- und Kulturbruch zwischen 1933 und 1945, den eben nicht eine kleine Regierungsclique zu verantworten hatte, sondern wohl 90 Prozent der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland – durch Mitmachen, Wegschauen, nicht Wahrhaben und Ignoranz. Die KZ-Überlebenden sind bald alle verstorben und so auch die letzten KZ-Wächter. Aber die offene Wunde, die sich mit dem Namen Deutschland verbindet, wird damit nicht geschlossen.
Als 1976 Christa Wolf den Roman „Kindheitsmuster“ über Flucht und Vertreibung schrieb, fügte sie die von William Faulkner stammende Erkenntnis ein: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“ Und das tun wir weiterhin und versuchen, die historisch und mental auf uns lastenden Traumata zu entsorgen. So auf Preußen, auf „die“ Preußen, auf „den“ Adel, auf vergangene Staaten wie die DDR sowie – im Kern und zumeist – auf unsere Lebenszeit, nämlich die spätere Geburt. Wir kommen aber aus dem Haftungsverbund der Geschichte nicht heraus.
Die häufige Umgehung des Namens „Deutschland“ für die Ampelisten und durch die Merkel-Union ist auch tiefenpsychologisch zu deuten, es ist das nachwirkende Trauma, welches 1991 in der Parole des „Nie-wieder-Deutschland“ (Claudia Roth, nunmehr Kulturstaatsministerin im Kanzleramt) zum Ausdruck kommt. Verdrängung kann aber nicht politisch lindern und die Seelen befreien.
Mut zum Demos
Die von der Merkel-Regierung erwogene Auflösung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) gehört in diesen Zusammenhang. Preußen ist ein Fremdwort, zu fern, zu belastend. Was uns die Seele beschwert, ohne es zu wissen oder ohne, dass wir den Mut zu haben, es zu ergründen, wird fremdgestellt, gehört nicht zu uns, sind die anderen, die Hölle, die uns nicht meint. Die Trauma-Forschung hat festgestellt, dass sich Traumata tatsächlich vererben und ins Erbgut, in die Zellstrukturen eindringen. Wenn dem so ist, sollten wir die Courage haben, auf unsere mentalen Abgründe zuzugehen, sie nicht zu vernebeln, sondern zu benennen und als Teil der Persönlichkeit und der Struktur der Deutschen, also des deutschen Volkes, zu erfassen.
Daraus könnte ein neues kollektives Selbst, also ein Selbstbewusstsein entstehen, vor dem andere Nationen sich nicht fürchten und wodurch wir uns als Nation wiederfinden oder vielleicht neu erfinden. Denn die angeblich vergangene Phase des „Nationalen“ und des Nationalstaates kann man nicht wegbeschwören, sie ist eben nicht vorbei, weder in Deutschland noch in den EU-Staaten. Dies in Parlamenten und Regierungen von Bund und Ländern zu erkennen und auszufüllen, würde uns alle spiegeln und mental erhellen. Demos (aus nun 150 Ethnien) sein zu wollen ist nichts Erschreckendes, sondern Grundformel des demokratischen Rechtsstaates, in dem nach dem Grundgesetz jede und jeder Abgeordnete(r) „Vertreter des ganzen Volkes“ ist.
Ohne Preußen, ohne die Staatsgründung von 1871 in Versailles gäbe es die Bundesrepublik Deutschland nicht, ohne die beiden Weltkriege auch nicht, und auch nicht ohne das Heilige Römische Reich deutscher Nation, das 1806 unterging und nachwirkt wie alle Geschichte. Insofern ist Preußen das unsichtbare 17. Bundesland einer Republik, wo es keine Fürsten- „Häuser“ gibt, sondern nur Bürgerinnen und Bürger. Für alle gelten Recht und Gesetz. „Und wenn ich die Wahl habe zwischen den Nichts und dem Schmerz, dann wähle ich den Schmerz“. Sollte diese Erkenntnis des US-Amerikaners Faulkner nicht in unsere nationalen Gefühle hineinleuchten?
Deutschland schmerzt, aber es gehört zu uns.