Eine geopolitische Katastrophe war für Putin der Untergang der Sowjetunion, das Verschwinden der UdSSR als Völkerrechtssubjekt im Jahr 1991.
In diesem Riesenreich lebten nach neueren ethnologischen Erkenntnissen etwa 140 Völker, die sich in 130 gesprochenen Sprachen äußerten: ein Vielvölkerstaat von 287 Millionen Menschen in 15 Unionsrepubliken. Das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker führte dazu, dass sich mit dem Untergang des Kommunismus’ 14 neue Staaten bildeten. Die Bevölkerungszahl der neu entstandenen Russischen Föderation sank auf 143 Millionen. Der Vielvölkerstaat blieb, entschwunden war jedoch die politische Illusion des „Sowjetmenschen“. Also wandte sich Putin nationalen Ideologien zu und so einer Reichsidee, die jener des NS-Staatsdenkers Carl Schmitt nahe ist. Russischsprachig sind 80 Prozent der Bevölkerung in Putins Staatsgebiet. Und wo russisch gesprochen wird, da ist Russland, es ist die Herrschaftsnation über andere Ethnien – eine Ideologie, die seit 1926 bestimmend ist. Wer nach Autonomie strebte, wurde umgesiedelt. Stalin machte es so und nun Putin.
Die russischzentrierte Weltsicht gilt auch in Belarus und besonders in der Ukraine. Und zwar nicht nur im Donezbecken. Dem Mythos des Russischen als Herrschaftsnation über andere ist die Vorstellung vorgelagert, das Quellgebiet allen Russischen sei Kiew, sie sei die „Mutter aller russischen Städte“, das „Jerusalem des Ostens“ und – nach dem zweiten Weltkrieg – die „Heldenstadt“.
Putin spricht gern von „Altrussland“, wenn er die Ukraine meint, auch wenn nur etwa 13 Prozent Russen in diesem Staat leben. Der Truppenaufmarsch ist von Putin geschichtspolitisch basiert, es geht ihm nicht primär um die NATO und herbeischwadronierte Einkreisungen. Er will ein Reich der Russen, der Dominanznation. Der deutsche Ex-Kanzler Schröder verkehrt das alles und sagt, die Ukrainer sollten das „Säbelrasseln“ lassen. Die Bundesregierung schickt keine Waffen (lässt auch nicht DDR-Bestände aus Litauen zu). Und auch sie bezieht sich auf die Geschichte, auf jene Soldaten von Wehrmacht und Waffen-SS, die erobernd vernichteten: 27 Millionen Opfer. Aber eben nicht 27 Millionen Russen gleich Sowjetmenschen, sondern auch Millionen Ukrainer.
Putin fürchtet sich militärisch vor niemandem, und das aus gutem Grund, seine Armee ist modern und stark. Vor Angriffen muss er sich kaum schützen. Er meint, die Geschichte habe gezeigt, dass niemand Russland erobern könne, aber es könne implodieren, so wie 1917 oder eben auch 1991.
Bei 600 bis 700 Milliarden Euro Rücklagen würde er mit 130.000 oder 200.000 Soldaten die Ukraine zwar zerstören, aber nicht erfolgreich besetzen und politisch auf Moskau ausrichten. Das wird er nicht tun, militärisch nicht und auch nicht finanzpolitisch. Gefahr droht durch das demokratische Modell der Ukraine. Der EU-Beitritt der Ukraine ist ihm gefährlicher als der zur NATO. Das Nation Building der Ukrainer hat er durch seine Truppen befestigt. Die Ausschaltung der nichtstaatlichen Geschichtskommission MEMORIAL sowie das Wegsperren und Erschießen von Menschen wie Nawalny und Nemzow zeigen, dass er in Panik ist. Ein Vizeadmiral der Bundeswehr ist offensichtlich überfordert, Geschichte und Politik zu „lesen“. Kanzler Scholz verharrt immer noch in der Parole „Wandel durch Annäherung“. Hier geht es aber um die Konsequenzen aus der Geschichtswahrnehmung – im Kreml und in Berlin. Deutschland will sich wieder heraushalten und sich wegen Kursk (der verheerenden Panzerschlacht 1943 unter dem Codewort „Unternehmen Zitadelle“) und dem Völkermord von Babyn Jar mit nach Kiew geschickten 5000 Helmen (jenen der Wehrmacht sehr ähnlich) in die Furche legen.
Es geht aber um die staatlichen Mythen der Völker – in Russland, der Ukraine und besonders bei uns, dem Deutschland, das sich seit 1991 selbst ausweicht und von Werten spricht, denen keine Taten folgen. Der Bundestag ist gefordert, ebenso die 16 Länder. Mourir pro Kiew? Was sagen sie dem Volk, den 82 Millionen Staatsbürgern?