„Wir sind die einzigen östlichen Deutschen, die als Volksgruppe nicht vertrieben worden sind. Wir hätten noch weitere Jahrhunderte hier friedlich mit den anderen 19 Völkerschaften Himmel und Erde teilen können. Man liegt sich nicht dauernd in den Armen und fällt sich nicht jeden Tag um den Hals, aber man achtet jeden in seiner Andersartigkeit und Sprache, Brauch und Glauben. Dieser andere Zungenschlag gehört zu meiner Selbstverordnung dazu, seine mir gebieterisch zugesprochene Bestätigung als Siebenbürger Sachse, als Deutscher. Erst indem der andere dazugehört, bin ich, was ich bin,“ schreibt der heute 88-Jährige in seinem letzten Werk „Wasserzeichen“ (2018). „Schöner, einprägsamer und europäischer kann man die plurikulturelle Vielfalt Rumäniens nicht beschreiben“, bekennt der deutsche Botschafter Cord Meier-Klodt. Toleranz und gegenseitiger Respekt zwischen den Kulturen und Ethnien prägen das Lebenswerk von Eginald Schlattner, wie auch Zivilcourage und das Eintreten für die historische Wahrheit. Schonungslos widmete sich Schlattner in seinen Büchern der Aufarbeitung der Geschichte, einschließlich seiner eigenen Rolle, die er schließlich in seiner Aufgabe als Pfarrer und Seelsorger in Rothberg/Roșia besiegelt, wo er seine schützende Hand liebevoll über die kleine Roma-Gemeinschaft hält.
Am 30. März dieses Jahres wurde der siebenbürgisch-sächsische Schriftsteller für sein Werk und Wirken vom deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland geehrt. Die hohe Auszeichnung übergab Botschafter Cord Meier-Klodt am 24. Juni in einer feierlichen Zeremonie im Garten des deutschen Konsulats in Hermannstadt/Sibiu.
„Ich glaube, nicht fehlzugehen, wenn ich meine, dass diese Ehrenerweisung am Ende einer langen Biografie nicht nur die sporadischen Meriten des Erwählten benennt, sondern die Lebensgeschichte als Ganzes, das Geschehene in seinem Widerspruch ermisst. Bestimmt haben sich die Gutachter nicht an Erfolg oder Großtaten orientiert, sondern eines mit im Auge behalten: das Verfehlte“, bekennt Schlattner. Damit beinhalte die Auszeichnung mehr als eine formelle Ehrung einer Person: „Theologisch gesehen geschieht, was Gottesforscher Paul Tillich anmahnt als tägliche Übung: Die Transzendierung jeglichen Tatbestands hin in die Dimension der Tiefe, wo er meint, dass Gott zu suchen sei.“
Alte Schatten
Eginald Schlattners Biografie reflektiert die Irrungen, Wirren und das Leid eines fast ganzen Jahrhunderts, wie er selbst in seiner Rede vor Augen führt. 1933 in eine bürgerliche siebenbürgisch sächsische Familie hineingeboren, wuchs der kleine Eginald mit „guten Ratschlägen“ wie „mit Klassenkindern macht man sich nicht gemein“ oder „das ist kein Umgang für dich“ auf.
Es folgte eine „Verengung auf das Reindeutsche“, die 1943 im Eid des Zehnjährigen im Braunhemd auf den Führer in Berlin kulminierte. Noch Jahre danach beschäftigte ihn der Nationalsozialismus. Mit 19 ackerte er Alfred Rosenbergs sogenannte Nazibibel, „Der Mythos des 20. Jahrhunderts“ durch, bis Bischofsvikar Alfred Hermann mit dem Übernamen Roter Bischof den ruhelosen Studenten „von der Begehbarkeit des Kommunismus als Muster einer universalen Gerechtigkeit“ überzeugte: Kein Mensch hungere, kein Kind weine mehr vor Kälte in dieser Welt.
„Wir waren knapp 400.000 Deutsche im damaligen Rumänien auf dem Weg zum Kommunismus.“ An der Spitze dieser Deutschen wähnten sich die Siebenbürger Sachsen, „seit Jahrhunderten geeicht als Kollektiv gemeinnütziger Erfahrungen“, erinnert Schlattner seine Zeitgenossen, von denen noch so mancher anwesend war. Und auch daran, dass man in Klausenburg kühne Gedanken gehegt hatte, etwa an die Auswanderung nach Sibirien zur Gründung einer autonomen siebenbürgisch-sächsischen Sowjetrepublik.
Am 28. Dezember 1957, auf dem Weg ins Parteibüro um sich dort einzuschreiben, wurde der Student der Hydrologie Eginald Schlattner plötzlich festgenommen. Brüsk und unerwartet hatte sich das Schicksalsblatt gewendet. Der Rest ging in die Geschichte als Kronstädter Schriftstellerprozess von 1959 ein. Man warf ihm Verrat vor und gab ihm die Schuld an den jahrelangen Haftstrafen der anderen. Das Stigma verfolgte ihn ein Leben lang wie ein düsterer Schatten.
Neues Licht
Trotz zig veröffentlichter Bücher, in unzählige Sprachen übersetzt, hat der zu Weltruhm gelangte Schriftsteller bisher keinen Literaturpreis erhalten. Die Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Babe{-Bolyai-Universität Klausenburg 2018 war die letzte große Ehrung des heute 88-Jährigen. Der Instanzenweg vom Ministerium ins Bundespräsidialamt sei nicht leicht gewesen, bekennt auch Botschafter Meier-Klodt im bilateralen Gespräch. „Immer wieder gab es ein ‚aber, da war doch was...‘, und dann mussten wir wieder begründen: ‚Ja, da war was... und deshalb sind wir zu diesem Schluss gekommen.‘“ Doch zulange wurde Schlattner etwas nachgetragen, fand er, „was man erstens nicht nachweisen konnte und zweitens sieht das die Forschung heute ganz anders!“
„Zwei Jahre und zwei Tage verbrachte ich in Haft in einer sieben Quadratmeter großen Zelle ohne Hofgang. Nie. Keine einzige Nachricht von draußen,“ schildert Schlattner die Zeit im Gefängnis. Es war die Zeit der Massenverhaftungen. Das Gefängnis „ein Ort, wo jedes Wort ein Wort zu viel ist und einen in Schuld zu verstricken droht. Dieses Wort zu viel - es fiel.“ Den „Zeitraum der Haft, wo es keine begehbaren Wege gab“, beschreibt er im Roman „Rote Handschuhe“.
Ob das Geschehene hätte vermieden werden können? Schuld sei schwer zu quantifizieren, sagt Eginald Schlattner nachdenklich. „Doch was benannt werden kann und gesühnt werden sollte, ist das Leid, das man anderen zugefügt hat.“
„Die Wissenschaft sieht das erfreulicherweise gar nicht mehr so, dass es eine Schuldfrage gibt“, erklärt Michaela Nowotnick im Nachgang der Zeremonie. Die Vorlassverwalterin Schlattners, die auch über ihn promoviert hat, war eine der wissenschaftlichen Gutachte-rinnen bei der Begründung der Ordensverleihung. In Rumänien ist Schlattner längst als Opfer des Kommunismus rehabilitiert, erklärt sie, nicht jedoch in Deutschland, wo die Meinung ausgewanderter Siebenbürger Sachsen mit hineinspielte. „Doch Begriffe wie Verrat passen nicht für die 50er Jahre“ stellt die Wissenschaftlerin resolut klar. „Ich würde gar nicht mehr von Schuld sprechen, oder von Verrat. Es war gar nicht vorgesehen, dass es anders hätte ausgehen können.“ Und: „Wenn man sich dieses Prozessgeschehen genau anschaut, dann sieht man, dass niemand ganz unschuldig daraus hervorging.“ Der Prozess sei eindeutig ein Schauprozess für den Staat gewesen. „Man wollte die deutsche Minderheit spalten – und das ist ja auch gelungen. Wenn man so will, hat die Securitate ganze Arbeit geleistet.“
Nachwirkungen gibt es trotzdem - bis heute. Nowotnick spricht ganz klar von gefälschten Dokumenten - nach dem Kommunismus: „Ich konnte mit anderen nachweisen, dass Akten manipuliert worden sind.“ Mit der Verleihung des Bundesverdienstkreuzes sei Schlattners Reputation jetzt endlich offiziell rehabilitiert, bemerkt auch sie mit Genugtuung.
Leicht hat es sich Eginald Schlattner nie gemacht. Eine schonungslose Aufarbeitung der Vergangenheit zieht sich als roter Faden durch sein Lebenswerk. „Dafür steht er für alles, was er ist und tut, als Mensch, als Seelsorger, als Schriftsteller, in öffentlichen Stellungnahmen, Interviews oder im persönlichen Gespräch“, betont Meier-Klodt. „Eine Auseinandersetzung, die Charakter, Standfestigkeit und Mut zeigt“. Auch deswegen habe er das Bedürfnis gehabt, aus einer Art Gerechtigkeitsgefühl heraus etwas für Schlattner tun zu wollen, „nicht für die Person allein, sondern für eine Haltung, ein Prinzip.“
Später Ruf Gottes
Doch Schlattners Wirken geht über Geschichtsaufarbeitung weit hinaus. „Damals, in gegitterter Einsamkeit, habe ich ein Gelübde abgelegt“, verrät der Geehrte. Wenn Gott ihn rufen würde, wolle er ihm folgen, hatte er beschlossen, doch er rief nicht, wie erwartet, am nächsten oder übernächsten Tag. „Erst 15 Jahre später geschah das Verstörende!“ Mit 40 hing er seinen Beruf als Ingenieur an den Nagel, um Theologie zu studieren. Als er 1985 in Rothberg seinen Dienst als Pfarrer antrat, verkündete er als erstes, das Pfarrhaus sei offen für alle im Dorf, nicht nur für die Sachsen. „Ich ging zu den Menschenkindern in den Lehmhütten runter an den Bach...“, zu den Roma. Deren „Sprache des Herzens“ beherrschte er aus der Zeit, als er nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis als Lohnarbeiter in der Ziegelbrennerei in Fogarasch „malochen“ musste: „Sie sprangen mir bei, als meine Hände elend versagten.“
Das letzte große Lebensdrama erlebte Schlattner nach dem Sturz des Kommunismus 1989, als sich „in einem einzigen Sommer die Siebenbürger Sachsen nach geschlagenen 850 Jahren für immer aus der Geschichte verabschiedet haben.“ Zurück blieben leergebetete Kirchenbänke, vor denen er hartnäckig fast jeden Sonntag Gottesdienste hielt. Doch langsam fanden neue Gläubige den Weg in seine Kirche. „Es geschah, wie in der Bibel stand: Sie werden kommen aus allen Windrichtungen.“ Als Gefängnispfarrer hatte er seit 1991 jahrzehntelang eine stabile Gemeinde. Für sie alle ist er nicht einfach nur der evangelische Pfarrer, wie er bemerkt, sondern „der Sachsenpfarrer“. Diese Bestätigung der eigenen Identität durch die anderen sei, was den ausgewanderten Landsleuten fehle...
„Homo politicus“
Schlattner schreibt und kommuniziert „aus tiefer moralischer Überzeugung und vor dem Hintergrund dessen, was er als sehr junger Mensch in der Zeit des Kommunismus in Rumänien am eigenen Leib erfuhr“, beschreibt Meier-Klodt den „Homo politicus“. Für die sichtbaren Zeugnisse dieses langen und bewegten Lebens müsse man einfach nur dankbar sein. „Und für dieses frei nach Johann Wolfgang von Goethes ‚Faust II‘ strebende Bemühen können wir zwar keine Erlösung anbieten, wer kann das schon in der weltlichen Sphäre, aber wir können ein weithin sichtbares und hörbares Zeichen setzen, die wir die Lebensleistung dieses sehr besonderen Menschen, seine Verdienste um die deutsch-rumänischen Beziehungen und unsere gemeinsamen europäischen Werte beurteilen.“
Europäische Werte wie Einheit in Vielfalt vertritt der Schriftsteller bei allen sich bietenden Gelegenheiten im Ausland, bewusst auch als Botschafter seines Landes: Das selbstverständliche Zusammenleben der Ethnien. Das Recht, in seiner Muttersprache zu lernen und zu schreiben, nur so konnten seine Romane aus Rumänien heraus in einer Weltsprache andere Länder erobern. „Wenige wissen, dass die Fibel bei uns in elf Sprachen gedruckt wird .“ Oder dass die 18 Minderheiten Rumäniens je einen eigenen Abgeordneten im Parlament haben, „einzigartig in der EU!“
Die Plurikulturalität Rumäniens und die daraus resultierende Toleranz ist Teil seiner Identität geworden: „Ich bin rumänischer Staatsbürger, und gleichzeitig bin ich als Sachse ethnisch Deutscher.“ Einen deutschen Pass braucht er dafür nicht. „Ich glaube, dass der liebe Gott hier für mich sorgen wird“, sagt er über sein Leben in Rothberg. „Ich bin der letzte Sachsenpfarrer nach über 800 Jahren. Und wir letzten Sachsen leben hier nicht auf einer einsamen Insel. Um uns herum sind Christenmenschen, wenn auch anderer Zunge und anderer Gebete.“ So will er denn dort auch sein Lebensmotto erfüllen: „Verlasse den Ort des Leidens nicht, sondern handle so, dass die Leiden den Ort verlassen.“