Über „Heimatfremde“, künstlerische Moderne und Avantgarde 

Deutschsprachige Werkstätten für Jugendliche in Bukarest

An einem Wochenende im Mai hat Dr. Heinke Fabritius, Kunsthistorikerin und Kulturreferentin für Siebenbürgen, Bessarabien, Bukowina, Dobrudscha, Maramuresch, Moldau und Walachei am Siebenbürgischen Museum in Gundelsheim am Neckar, zwei kostenlose deutschsprachige Werkstätten für Jugendliche organisiert, woran sich Zehntklässler vom Tudor-Vianu-Kolleg und vom Goethe-Kolleg in Bukarest beteiligt haben. Gastgeber der Werkstätten zur Besprechung der Begriffe „Heimat“ und „Fremde“, beziehungsweise gewidmet der Malerei der 1920er Jahre in Bukarest und Berlin war das hauptstädtische Goethe-Institut.

Am ersten Tag befassten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit dem erfundenen Begriff „Heimatfremde“, ausgehend von einem Wortspiel zweier Abiturientinnen von der katholischen Theresien-Schule in Berlin, Mariel Heymann und Ellen Hagedorn, um den sie ein szenisches Spiel  über ein (un-) freiwilliges Gehen entwickelt hatten. Darin stellen die Schülerinnen die Frage danach, wie man Fremden und Fremdem, aber auch dem eigenen Gefühl von Fremdheit begegnet und in knapp 19 Minuten illustrieren sie szenisch ihre Fragen und Erfahrungen über das Weggehen, das Ankommen und die Herausforderungen der Integration. 

Die erste Szene spielt sich im kommunistischen Rumänien der 70er Jahre ab. Der Vater eines Mädchens wird von der Geheimpolizei Securitate wegen eines Interviews verhört, das ihm nicht gestattet war und das er trotzdem auf seiner Reise in die BRD gegeben hatte. Unter dem Druck der Securitate und des kommunistischen Regimes muss er das Land mit seiner Familie verlassen. In weiteren Szenen stellen die beiden Schülerinnen das Kofferpacken der Familie, den schmerzvollen Abschied des Mädchens von den daheim bleibenden Großeltern und die Anreise mit dem Zug dar. 1978 in der BRD angekommen, wird das Mädchen, das in Bukarest an der damaligen deutschen Schule (das heutige Goethe-Kolleg) gelernt hatte, von einer örtlichen Schule aufgenommen, wo es sich kaum integrieren kann, weil es die schwäbische Mundart nicht versteht und stets als Fremde angesehen wird. Auf der Elternsitzung teilt die Klassenlehrerin ihrer Mutter mit, dass ihre Tochter einsam sei, stets schweige und in der Schule nicht vorankomme, worauf die Mutter entgegnet, ihre Tochter könne das Jahr wiederholen.

Den Höhepunkt und den offenen Schluss bildet eine konfrontative Tanzszene, in der sich die beiden Schülerinnen mit den Ausdrücken „fremd in der Heimat“ und „Heimat in der Fremde“ wörtlich auseinandersetzten und diese immer schneller aussprechen, bis sie daraus den neuen Begriff „Heimatfremde“ bilden.

Nach der Vorführung der aufgenommenen ergreifenden Theaterperformance wurden die Zehntklässler befragt: was sie davon halten, was an der Performance gut war, wie sie Heimat und Fremde erleben und wie sie darüber sprechen. Alle fanden die Mimik und Pantomime der deutschen  Abiturientinnen, die Tanzkonfrontation in der letzten Szene und die spielerische Weise der Behandlung der Problematik reizvoll. 

Damit die Schüler selbst die Themen „Heimat“ und „Fremde“ aufgreifen, entwickelte Dr. Heinke Fabritius eine interaktive Übung für sie, wobei sie in die Lage der Protagonisten versetzt wurden. Sie sollten in Gruppen arbeiten, eine Szene aus der Performance wählen und diese mit einem selbst verfassten Dialog nachspielen. Drei Gruppen entschieden sich für die Abschiedsszene, eine für das strenge Verhör des Vaters bei der Securitate und eine für die Klassenszene in der BRD, in der die anderen Kinder das Mädchen auslachten und ihm den Rücken zukehrten. Ihre Wahl mussten die Schüler natürlich auch begründen und es kam darauf an, welche Szene sie am meisten bewegt hatte.

Als Endaufgabe wurden sie gebeten, ihre Eindrücke über die Performance den deutschen Abiturientinnen auf Zetteln mitzuteilen, die ihnen Dr. Heinke Fabritius inzwischen übermittelt hat.  

Im Mittelpunkt der Werkstatt stand die Beziehung junger Menschen, ihrer Eltern und Großeltern zu ihrem Geburtsort und ihrem aktuellen Wohnort. Wie unterschiedlich und wechselnd dieses Verhältnis sein kann, ob diese Orte geliebt werden oder nicht, hängt von vielen Faktoren ab. Es gibt oft keine Möglichkeit, etwas zu ändern, was zu Verschiebungen und angespannten Beziehungen zwischen den Generationen führen kann. 

Bei dem Projekt ging es darum, aus der Perspektive junger Menschen eine umfassende Sicht auf die Minderheiten und Rumänen in der Region zu vermitteln, Themen wie Diaspora, williges oder unwilliges Gehen, Fremde und Heimat auseinanderlegen und einen filmischen und performativen Übergang zu Gefühlen von Freude, Trauer oder Sehnsucht, die oft in engem Zusammenhang mit den genannten Themen stehen, zu erstellen. Daher zielten die von Dr. Heinke Fabritius koordinierten Aktivitäten darauf ab, bei Jugendlichen eine kritische Haltung gegenüber dem Themenkomplex zu schaffen und ihn auf eine kreative Weise zu vertiefen.

Am zweiten und am Folgetag veranstaltete Dr. Heinke Fabritius eine Werkstatt, welche die Malerei der 1920er Jahre in Berlin und Bukarest zum Gegenstand hatte. In deren Rahmen ging sie näher auf Fragen ein, wie etwa, wa-rum ein Bild modern ist und wann es der Avantgarde zugeordnet werden kann.

Genau vor 100 Jahren – in dem Jahrzehnt, das gern als das „goldene“ bezeichnet wird – erlebte der künstlerische Austausch in Eu-ropa einen neuen Höhepunkt. Berlin und Bukarest spielten dabei eine wichtige Rolle, und es überrascht zu sehen, wer wohin reiste. Die Teilnehmer erfuhren dabei, was gerade die jüngere Generation dazu bewegt hat, Berlin oder Bukarest aufzusuchen und welche Werke infolgedessen entstanden waren. Die Werkstatt wurde am Folgetag durch einen von der Kunsthistorikerin geführten Besuch im Nationalen Kunstmuseum abgerundet.