Viele Bibeltexte, die in der Advents- und Weih- nachtszeit in der Kirche zur Sprache kommen, stammen aus dem Alten Testament, und auch die meisten neutestamentlichen Perikopen die- ser Zeit haben einen betonten Bezug zu Israel. Kein Wunder, denn schließlich ist Jesus in erster Linie der Heiland der Juden und erst nachher auch der Erlöser der anderen Völker. Wenn der Engel den Hirten große Freude verkündigt, „die allem Volk widerfahren wird“ (Lukas 2,10), dann bezieht er sich auf das Volk Israel in seiner Ge- samtheit und nicht, wie wir gerne unbesehen annehmen, auf alle Völker. Das Volk der Juden hat Gott, dem Vater und Gott, dem Sohn gegen- über das bleibende Vorrecht der Auserwählten und Geliebten.
Wenn heute von Israel die Rede ist, kommt dieser Aspekt des von Gott auserwählten Vol- kes im öffentlichen Diskurs gar nicht vor; es wird vom Staat Israel und vom Volk der Juden wie von jedem anderen Staat und Volk auch gesprochen. Selbst die jüdischen Politiker ver- meiden es, ihr Erwählungsbewusstsein und ihr gottgegebenes Anrecht als Argument für ihr Land einzusetzen, das mal Israel, mal Palästina, mal Kanaan genannt wird und das in der neues- ten Ausgabe der Lutherbibel völlig irreführend als „Land der Bibel“ umschrieben wird. So kommt es, dass die Wahrheit nur in jüdisch- orthodoxen und christlich-fundamentalistischen Kreisen thematisiert wird, während die breite Öffentlichkeit die Ereignisse nicht einordnen kann.
Zur Vergegenwärtigung: Den Alten Bund schloss Gott mit dem Volk Israel und gab ihm das Land Kanaan als Verheißung. Der Neue Bund galt auch in erster Linie Israel, aber mit dem Himmelreich als Verheißung. Die Mehr- heit der Juden lehnte Jesus als den Messias ab, sie bevorzugten Mose und das Gesetz des Alten Bundes, aber sie verloren dessen Verheißung – das Land, wo Milch und Honig fließt. Jesus be- siegelte diesen Verlust durch seine Worte vom Ende des Tempels, die außer Johannes alle ande- ren drei Evangelisten überliefert haben. Ein paar Jahrzehnte später erfüllte sich die Voraussage des Heilands: die Römer eroberten das Land, zerstörten den Tempel und versprengten die Juden in alle Länder der Welt.
Der römische Kaiser Julian der Abtrünnige, ein Neffe Konstantins des Großen, heidnisch gebildet, der die Bevorzugung des Christen- tums rückgängig machen und die polytheisti- schen Kulte im Reich wieder beleben wollte, befahl im Jahr 363, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen, um die Worte Christi zu widerlegen. Aber es gab an der Baustelle Stür- me, Erdbeben und Feuerausbrüche in den Fun- damenten, so dass das Baumaterial und die Werk- zeuge zerstört und viele Handwerker getötet wurden und man den Plan schließlich aufgeben musste. Die Neugründung des Staates Israel im vergangenen Jahrhundert ist de facto auch ein Versuch, sich mit Menschenmacht über Gottes Ratschluss hinwegzusetzen.
Wie wenig Anteilnahme am Schicksal der Ju- den bei diesem Kraftakt tatsächlich vorhanden ist, zeigt in unseren Tagen deutlich das gänzliche Fehlen einer Kundgebung zugunsten Israels, während es unzählige pro Palästinenser-Demos gibt. Das Äußerste, was für Israel getan wird, ist Protest gegen Antisemitismus. Aber das reicht nicht aus; zumindest wir Christen schulden un- seren jüdischen Brüdern Liebe und Solidarität, denn wir sind die Empfänger der gleichen Ver- heißung und die Träger der gleichen Hoffnung. Wenn sie jetzt wegen ihrer Verstockung von Gott erneut geschlagen werden und vielleicht ihr Land wieder verlieren, sollen wir ihnen brü- derlich den Weg zur neuen Verheißung in der Erkenntnis Jesu Christi ebnen.
Amen.