Am 11. Dezember hatte Joachim Triers Filmdrama „Louder Than Bombs“ (Lauter als Bomben), das bei den diesjährigen Filmfestspielen in Cannes für die Goldene Palme nominiert worden war, in Rumänien Kinopremiere. Der 41-jährige norwegische Regisseur Joachim Trier, nicht zu verwechseln mit dem dänischen „Dogma“-Filmemacher Lars von Trier, hat mit diesem seinem dritten Spielfilm – nach „Reprise“ (2006) und „Oslo, August 31st“ (2011) – ein meisterliches kinematografisches Werk geschaffen, das mehrere Genres in sich vereinigt: einen Coming of Age-Plot, eine Ehe-Story, ein Familiendrama und ein Lehrstück über die Dialektik von Kommunikation.
Der Filmtitel „Louder Than Bombs“ spielt an auf den Beruf der den Film dominierenden weiblichen Hauptgestalt, die zu Beginn der Filmhandlung zwar bereits drei Jahre tot ist, das Filmgeschehen gleichwohl in zahlreichen Rückblenden beherrscht und durch ihre schmerzlich spürbare Absenz außerdem die Erinnerungen und Gespräche aller anderen Hauptfiguren bestimmt. Die Kriegsreporterin Isabelle Reed (Isabelle Huppert) hat sich nach der Beendigung ihrer erfolgsgekrönten, aber gefahrenreichen Karriere in den Schoß ihrer vierköpfigen Familie zurückgezogen, findet sich jedoch in dieser heilen Welt nicht mehr zurecht, leidet an Depressionen und begeht, als Autounfall kaschiert, Selbstmord. Anlässlich einer Gedächtnisausstellung zum Schaffen der bekannten Fotografin soll ein Widmungsartikel in der „Times“ erscheinen, der auch ihren Suizid erwähnt, welcher dem damals 12- und nun 15-jährigen Sohn Conrad (Devin Druid) bislang verschwiegen wurde.
Doch dieses Verschweigen ist nur ein Glied in der Kette der Verheimlichungen, die die Kommunikation in der Familie Reed prägt, wobei die Motive jeweils variieren können: pädagogische Rücksichtnahme, Behutsamkeit gegenüber dem Anderen, Selbstschutz, Schwäche, Verzweiflung. Der Vater Gene Reed (Gabriel Byrne) verheimlicht Conrad sein Liebesverhältnis mit seiner Lehrerkollegin Hannah (Amy Ryan), bei der Conrad in der Schule Englischunterricht hat. Der 23-jährige Sohn Jonah (Jesse Eisenberg), frischgebackener Soziologiedozent an einer Universität und selbst gerade Vater geworden, lässt seine Ex-Freundin Erin (Rachel Brosnahan) im falschen Glauben, seine Ehefrau sei schwer krank, jener wiederum verschweigt er die Wiederaufnahme der Beziehung zu Erin. Bei der Durchsicht der Fotos seiner Mutter entdeckt er, dass diese ein Verhältnis mit ihrem Reporterkollegen Richard (David Strathairn) hatte, was er seinem Vater verhehlt.
Conrad reagiert auf dieses familiäre Versteckspiel mit völliger Verstockung. Er schweigt hartnäckig und wehrt jeden Versuch des Vaters, mit ihm ins Gespräch zu kommen, radikal und zum Teil sogar mit brutaler Aggressivität ab, weil er erkannt zu haben glaubt, dass der Vater das ständig beschworene Miteinanderreden als fortwährendes Verheimlichen inszeniert. Conrads Schweigen offenbart das Manko dieser von all den ihn umgebenden Erwachsenen praktizierten Kommunikationsform. Konsequenterweise kapselt er sich vollständig von den Relikten des Reedschen Familienlebens ab und vertraut sich allein seinem Computertagebuch an, das er einer Schulkameradin namens Melanie (Ruby Jerins), in die er heimlich verliebt ist, eines Tages als dickes Konvolut vor die Tür legt, gegen den ausdrücklichen Rat des älteren Bruders, den er während dessen Besuch im Elternhaus ins Vertrauen gezogen hat.
Kulminationspunkt des Films ist dann die Veröffentlichung des Zeitungsartikels über Isabelle Reed in der „Times“, der das die Familie durchwaltende Schweigen plötzlich und gewaltsam aufbricht. Conrad erfährt vom Selbstmord der Mutter, der Vater von deren Untreue, und Jonah flüchtet sich vor seinen Versteckspielen, vor sich selbst wie auch vor seiner Frau und seiner Ex-Freundin, in den Alkohol. Der pubertierende Conrad, der beharrlich Verschwiegene, macht nun allem Verschwiegenen ein Ende und erweist sich am Ende als gereift und dem Offenbarwerden der Wahrheit sogar noch eher gewachsen als die Erwachsenen.
Joachim Triers Film besticht nicht nur durch das kluge Drehbuch, das der Regisseur gemeinsam mit dem norwegischen Filmemacher, Produzenten und Schriftsteller Eskil Vogt verfasst hat, er begeistert nicht nur durch die exzellenten Hauptdarsteller, die allesamt an das von Isabelle Huppert gesetzte Spitzenniveau heranreichen, sondern er fasziniert vor allem auch durch seine filmische Erzählweise, die Vergangenheit und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, Fiktionales und Dokumentarisches beständig ineinander fließen lässt. Dem schwedischen Kameramann Jakob Ihre gelingen grandiose Traumbilder und surrealistische Szenen, etwa wenn sich Jakob zu der auf dem Waldboden liegenden Melanie legt und aus einem ihrer Ohrhörer absolutes Schweigen dringt, das plötzlich auch den Zuschauer umfängt, oder wenn Jakobs Mutter wie der aufgebahrte Christus im Leichentuch à la Dalí horizontal im Raum schwebt, mit zentrifugal auseinanderstrebenden Felsbrocken, die an eine Bombenexplosion oder an den Jüngsten Tag gemahnen.
Besonders gelungen ist in diesem Film auch die Metaphorisierung des Zentralmotivs: des im Moment der Fotografie stillgestellten Bildes. Im Film gezeigte und betrachtete Fotografien entbergen die Wahrheit: etwa wenn Jonah in einer Aufnahme von der im Bett liegenden Mutter das Spiegelbild des Geliebten entdeckt, der das Bild geschossen hat; oder wenn Conrad im Spiegel eines Restaurants unwillkürlich den Vater erblickt, der ihm aus Sorge oder Neugier nachgeschlichen ist. Die Bilder, die die Protagonisten des Films wie in letzter Instanz auch den Zuschauer umgeben, gehorchen derselben Kommunikationslogik wie die Kriegsfotografien der Hauptdarstellerin. Die Bilder als solche schweigen und stellen dadurch jeglichen Text in Frage, der sie begleitet. Erzählt jener Begleittext, wie Isabelle Reed einmal in einem Gespräch mit ihrem Ehemann Gene fragend zu bedenken gibt, das Geschehen aus der Sicht der Beteiligten, oder instrumentalisiert er das Geschehen auf irgendeinen anderen Zweck hin und macht die Beteiligten dadurch erst recht zu Opfern? Verheimlicht die Rede also das Abgebildete oder offenbart sie es und sich im Schweigen der Bilder?
In dieser Dialektik von Reden und Schweigen, von Verbergen und Offenbaren, kommt der Musik in Joachim Triers Film eine überragende Bedeutung zu, die im Soundtrack des norwegischen Komponisten Ola Fløttum eine kongeniale Realisierung gefunden hat. Dröhnendes Schweigen und stiller Aufschrei sind in Fløttums musikalischer Begleitung des Filmgeschehens keine Gegensätze, sondern nur eine andere künstlerische Umsetzung der im Film gezeigten Dialektik von verheimlichendem Reden und offenbarendem Schweigen.