Gelu Duminică ist ein Mann mit vielen Tätigkeiten und Funktionen. Als reflektierter Erklärer gesellschaftlicher Phänomene ist der Soziologe und Dozent an der Universität Bukarest regelmäßig im TVR 2-Format „Puternici, Împreun²“ (in etwa: „Gemeinsam stark“) zu sehen. Er meldet sich zu aktuellen politischen Themen zu Wort und bezieht Position. „Împreun²“ lautet auch der Name der Stiftung, die sich für die Rechte von Roma in Rumänien einsetzt, die Duminic² leitet. Über deren Ansatz und die Situation der Roma im Land sprach er Mitte Juni mit ADZ-Redakteur Jochen Empen per Videocall, mit spannenden Erkenntnissen über eine Minderheit im Findungsprozess und eine Mehrheitsgesellschaft im Wandel.
Was tun Sie mit Ihrer Stiftung „Împreună“?
Wir wurden 1999 gegründet und gelten heute als eine der aktivsten NGOs in diesem Bereich. Wir begannen zunächst als Organisation für „community development“, – bitte bedenken Sie, dass in den neunziger Jahren der Menschenrechtsdiskurs der bestimmende Diskurs zum Thema Roma war, – so dass unsere Gründung dazu gedacht war, aus der Per-spektive der damaligen NGOs, eine Lücke zu füllen, und diese Lücke war die soziale Integration. Heute sind wir immer noch in diesem Bereich tätig, aber wir haben unseren Blickwinkel erweitert, weil wir vor Ort viele unterschiedliche Situationen vorfinden und durch die Realitäten gezwungen sind, uns mit verschiedenen Themen zu befassen – Menschenrechte, Bildung, Zugang zu Infrastruktur, öffentliche Einrichtungen, Entwicklung der persönlichen Ressourcen, kleine Unternehmen usw. Alles, was wir machen und vorschlagen, ist evidenzbasiert und wird durch wissenschaftliche Argumente gestützt – es geht nicht nur darum, was wir denken. Wir haben eine Forschungsabteilung innerhalb unserer Stiftung. Gleichzeitig haben wir eine Public- Policy-Perspektive, in der Vergangenheit auf europäischer und nationaler Ebene und jetzt hauptsächlich auf nationaler Ebene. Wir nehmen an verschiedenen Arbeitsgruppen teil und versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen. Viele der Maßnahmen, die die rumänische Regierung initiiert hat, wurden von unserer Stiftung entwickelt. Auch die aktuelle Regierungsstrategie zur Eingliederung der Roma basiert auf einem Vorschlag, der von unserer Stiftung ausgearbeitet wurde, auch wenn der Vorschlag seitens der Regierung im Laufe des Entscheidungsprozesses völlig verändert wurde.
Wir sind der Meinung, dass der Staat stark genug sein sollte, um die Armut für alle Bürgerinnen und Bürger in gleicher Weise zu bekämpfen und mit den Roma an spezifischen Problemen zu arbeiten, und die spezifischen Probleme sind nach unseren Daten und Erfahrungen: erstens, eine gesonderte Form der Diskriminierung, wenn man die Geschichte dieser Menschen in diesem Land bedenkt, und zweitens, das Selbstwertgefühl, das eine Ursache und Wirkung des ersten Problems ist.In den letzten Jahren haben wir uns mit dem Thema „Roma-Identität“ oder, wie wir es nennen, „unsichtbare Roma“ befasst, bei dem es sich um ein Problem des Selbstwertgefühls handelt. Deshalb arbeiten wir mit der Roma-Mittelschicht, die unserer Meinung nach die Mehrheit der Roma ausmacht, aber für die Gesellschaft und die Minderheit selbst nicht sichtbar ist. Wir „pushen“ viele Personen in die Öffentlichkeit – vielleicht haben Sie von Alina [erban, der Schauspielerin, gehört, sie war eine unserer Teilnehmerinnen und viele andere, Ärzte, Anwälte, Richter – und wir gehen mit ihnen in die Communities, in die Schulen, um Vorbilder zu bieten. Außerdem arbeiten wir mit der nächsten Generation, wir unterstützen derzeit 150 Kinder in unserer Zentrale in einem Sieben-Jahres-Programm für jedes Kind, wir wählen Kinder im Alter von 11-12 Jahren, fünfte Klasse, aus und unterstützen sie mit einem komplexen Programm, bis sie die Universität oder den Arbeitsmarkt erreichen, weil wir die Abhängigkeitsfalle, in der die Familien leben, durchbrechen wollen.
Wie verbreitet sind Vorurteile oder Stereotypen über Roma heute in Rumänien?
Lassen Sie es mich so ausdrücken: Überall, wo es Sklaverei gab, gibt es die gleichen Vorurteile gegenüber den ehemaligen Sklaven. Diese Mentalität von Bürgern erster und zweiter Klasse existiert also immer noch, weil sie nie angegangen wurde! Und eines der Themen, die wir in der Politik vorantreiben, ist die Notwendigkeit der historischen Aussöhnung, also müssen wir als Gesellschaft lernen, wir müssen den Informationen ausgesetzt werden, wie im Höhlengleichnis von Platon – wenn Sie sich erinnern... Also ja, wir haben Vorurteile, es wäre unnormal, sie nicht zu haben, wenn man unsere Geschichte und die Art und Weise, wie wir erzogen wurden, bedenkt, das ist das Schlechte. Das Gute ist meiner Meinung nach: Die Dinge sind ganz in Ordnung, verglichen mit vor 25 Jahren.
Was hat sich verbessert?
Die öffentliche Wahrnehmung, die Berichterstattung der Medien, die öffentlichen Institutionen und das Verständnis in der Gesellschaft und im Staat, die Stimmen der NGOs – es gibt so viele Verbesserungen, und meiner Meinung nach war der wichtigste Punkt die Zeit vor dem EU-Beitritt, als die EU Rumänien als politisches Kriterium auferlegte, die Situation der Roma zu verbessern, und viele Maßnahmen und Schulungen angeboten wurden. Die Europäische Union ist nach wie vor eine Hüterin der Roma-Frage und der Integration der Roma. Auch wenn das Roma-Thema heute, um ehrlich zu sein, für die EU nur noch ein Randthema ist.Lassen Sie es mich so sagen: Die Veränderungen, die stattgefunden haben, waren durch den Druck der EU möglich, mit anderen Worten: Der Wandel geschah nicht, weil wir erkannten und realisierten, dass es notwendig ist, sich zu ändern, der Wandel geschah, weil wir dazu gezwungen wurden.
Dieses Thema bringt auch einige negative Auswirkungen mit sich, die wir bei den letzten Wahlen gesehen haben, als wir am Ende zwei Kandidaten hatten und der Diskurs in etwa so verlief: Dan wurde vorgeworfen, dass er die Homosexuellen-Agenda fördert, Simion wurde vorgeworfen, dass er Roma ist. Wenn sie sich die Umfragen ansehen, werden sie feststellen, dass die meistgehassten Minderheiten in Rumänien die Schwulen und die Roma sind, in dieser Reihenfolge. Wir haben die Werte also nicht als Gesellschaft verinnerlicht, aber die Zahl derer, die sie verinnerlicht haben, wird immer größer.Und wenn sie die Pride-Parade vor ein paar Tagen gesehen haben, werden sie feststellen, dass viel mehr Menschen als noch vor 15 bis 20 Jahren eine Menschenrechtsagenda vertreten. Das ist also der sichtbare Wandel, den Rumänien in den letzten Jahren durchgemacht hat. Auch die Tatsache, dass wir einige Roma haben, die ihre Identität sehr sichtbar in der Gesellschaft annehmen – das hat es vor 25 Jahren nicht gegeben, und ich könnte mit guten Dingen weitermachen. Aber wir können nicht 1000 Jahre Diskriminierung in 25 Jahren auslöschen, mit den geringen Investitionen, die getätigt wurden.
Ist es angesichts der Vielfalt der Roma eigentlich sinnvoll, von einer Roma-Gemeinschaft zu sprechen?
Sie ist sehr vielfältig, aber es ist normal, von einem Volk oder einer Gemeinschaft zu sprechen. Diese Art von Vielfalt gilt für alle Minderheiten und alle Nationen, wir sind diesbezüglich alle gleich, aber gleichzeitig haben wir gerade erst gelernt, was eine Roma-Gemeinschaft bedeutet, denn wir sind ein neues Volk. Bitte vergessen Sie nicht, dass wir erst in den frühen siebziger Jahren begonnen haben, darüber zu diskutieren; wir stehen also erst am Anfang, wir haben ein gemeinsames Alphabet, eine gemeinsame Sprache – eine akademische Sprache – Romani, erst seit den achtziger Jahren. Ja, wir sind ein Volk, das im Inneren sehr vielfältig ist, mit vielen Themen, die verhandelt werden müssen, mit der Notwendigkeit einer großen Debatte innerhalb dieser Minderheit, um ein echtes Volk zu schaffen, aber wir brauchen auch Zeit, Investitionen und Geduld. Es ist ein fortlaufender Prozess, ein sehr lebendiges Thema für die ganze Gesellschaft, vor allem wenn man bedenkt, was im Land mit der Bewegung des Souveränismus passiert. Es ist normal, dass wir viele Fragen haben.
Was bedeutet der Rechtsruck in der rumänischen Politik und Gesellschaft für die Roma?
Der Aufstieg von Populismus und Extremismus war eine Frage des „Wann“, nicht des „Ob“. Die Pandemie hat alles beschleunigt. Ich habe im März 2020, als die Pandemie ausgerufen wurde, in einem Artikel („Equity and Coronavirus“) auf den Anstieg des Extremismus als Folge hingewiesen. Sehen Sie es also so: Wir sind immer noch das ärmste Land in der EU, die Korruption ist immer noch da, die Kluft zwischen den Politikern und der Gesellschaft ist sehr sichtbar, und viele andere Dinge, und natürlich sind einige der Menschen enttäuscht, sie fühlen den Wohlstand der EU nicht so, wie die Politiker es im Fernsehen darstellen oder wie man es in Bukarest sehen kann, und in diesem Moment brauchen diese Menschen Personen, denen sie die Schuld geben können.
Wir haben prozentual gesehen die größte Diaspora in Europa. Die Menschen, die unser Land verlassen, hassen unsere Politiker, weil sie das Gefühl haben, dass jemand sie herausgedrängt hat, weg von ihren Familien, weg von den Gräbern ihrer Eltern, weg von allem, was ihnen wichtig ist, und vor diesem Hintergrund kommen all die Populisten und diese Menschen haben das Gefühl, „endlich, endlich spricht jemand für mich“.
Hat das eine besondere Auswirkung auf die Roma?
Ich glaube nicht, dass es notwendigerweise eine besondere Auswirkung ist. Vielleicht waren sie prozentual überrepräsentiert in der Unterstützung der Populisten, vielleicht, ich habe keine Daten darüber, aber ich kann diese Vermutung teilen. Aber gleichzeitig wurde die gesamte Gesellschaft erschüttert, fast fünf Millionen Stimmen für die Extremisten bei den letzten Wahlen, nicht nur von den Roma, natürlich. Und klar ist es unter den Roma, gerade weil sie die Ärmsten, die am stärksten Abgehängten, mit geringerer Bildung etc. sind, mehr als wahrscheinlich, dass es eine Überrepräsentation gibt.Aber ich habe nach der letzten Wahl mit den Politikern gescherzt und gesagt: „Die rumänische Demokratie wurde von den Schwulen, den Roma und den Ungarn verteidigt, also schämt euch, ihr Rumänen!“ (lacht)
Anmerkung des Autors:
Es gab Stimmen, die behaupteten, dass Roma-Wähler bei der Stichwahl zum Präsidentenamt eine entscheidende Rolle spielten, da laut NGOs und Beobachtern Nicu{or Dan im zweiten Wahlgang einen starken Stimmzuwachs in Gemeinden mit hohem Roma-Anteil hatte. Diese Theorie basierte aber nicht auf konkreten statistischen Erhebungen, was uns zu einem weiteren Punkt führte: Die Tatsache, dass es sehr schwierig ist, aktuelle statistische Analysen zur sozioökonomischen Situation der Roma zu finden. In den offiziellen Statistiken wird logischerweise die Ethnie nicht abgefragt, so dass Untersuchungen relativ aufwendig und kompliziert sind. Duminic² bestätigte, dass der letzte Bericht wahrscheinlich aus dem Jahr 2019 stammt und dass heute niemand mehr diese Berichte finanziell unterstützt.
Auch wenn wir keine aktuellen Daten dazu haben, was denken Sie im Allgemeinen: Hat sich die sozioökonomische Situation der Roma verbessert, sind sie auf der sozialen Leiter etwas hinaufgestiegen oder ist es immer noch die gleiche Armut, wie sie in den Berichten von vor zehn Jahren beschrieben wurde?
Hat sich die Situation verbessert? Ja. Liegt das an der Politik des rumänischen Staates? Nein. Der Hauptfaktor ist die Migration. Die Menschen reisen, arbeiten und bringen die Ressourcen zurück. Egal ob sie legal arbeiten oder durch das Sammeln und Verkaufen von Materialien oder durch kriminelle Handlungen, denn alles drei kommt vor. Jahrelang waren die Migranten der Hauptinvestor in der rumänischen Wirtschaft, Milliarden von Euro bringen sie jährlich ins Land.
Mit dem Geld, das sie bekommen, verbessern sie ihre Wohnsituation, ihre gesundheitliche Situation und alles andere. Um es so auszudrücken: Die Entwicklung der Roma ist hauptsächlich der EU zu verdanken, mit allem, was die EU bedeutet, einschließlich der Freizügigkeit, diesbezüglich bin ich mir sehr sicher und kann viele Argumente anführen. Die Investitionen, die Rumänien getätigt hat, waren Peanuts auf allen Ebenen.
Wie sollten Programme zur Integration der Roma aussehen, um effektiv zu sein? Was sind die „Lösungen“?
Meiner Meinung nach haben die Programme, die der rumänische Staat seit 2001 für die Roma geschaffen hat, die Ursachen, die Veränderungsresistenz und den institutionellen Rassismus nicht im Blick gehabt. Und es trat ein Folgeproblem auf, denn es wurden spezielle Mechanismen für Roma geschaffen, die eine perfekte Ausrede für das reguläre System darstellten, nicht mit den Roma zu arbeiten, weil sie sagen konnten: „Ihr habt eure eigenen Institutionen.“
Aber wenn es um Bürgerrechte geht, muss man mit allen Menschen arbeiten, also muss man inklusiver, vielfältiger, diskriminierungsfreier usw. werden. Und selbst heute haben wir diese Art von System, auch wenn unsere Stiftung und andere NGOs deutlich sagen: „Das funktioniert nicht. Hört auf damit!“
Nehmen wir ein Beispiel: Wir haben Menschen, die beruflich sehr schlecht ausgebildet sind, mit geringer Bildung, die einen Job suchen. Wir haben dafür eine Maßnahme in der nationalen Strategie zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und wir haben eine weitere Maßnahme in der Roma-Strategie, die sehr ähnlich ist. Für die erste Maßnahme ist die Nationale Beschäftigungsagentur zuständig, für die zweite die Nationale Beschäftigungsagentur und die Nationale Agentur für Roma.
Seit langer Zeit sagen wir: „Das ist total verrückt!“ Denn im Allgemeinen muss man für alle die gleichen Maßnahmen haben und die gesamte Verantwortung bei der Agentur belassen, die alle Instrumente hat, um an dem Problem zu arbeiten. Es gibt einen Grundsatz, den wir der Regierung vorgeschlagen haben: „Explizit, aber nicht unbedingt exklusiv“. Mit anderen Worten: Wenn man sich z.B. mit Analphabetismus befasst, muss man explizite Indikatoren für Roma haben, aber keine expliziten Maßnahmen für Roma, weil sie für alle gelten.
Und unser Staat hat als Hauptinstrument einen so genannten Nationalen Investitionsplan, von dem die lokalen Behörden Mittel beantragen können. Wir sagen also: „Ihr müsst nichts neu erfinden, nutzt das, was ihr schon habt - und setzt ein Komma!“ Wenn man zum Beispiel sagt, dass 10.000 Roma in diesem Jahr neu eingestellt werden sollen, nimmt man eine Liste, wo die großen arbeitslosen Roma-Populationen sind, und wenn eine lokale Behörde ein Projekt beantragt und die Roma nicht einbezieht, kürzt man die Mittel, man gibt das Geld nicht, also sagt man: „Mindestens zehn Prozent aus der Region, wo die Roma zehn Prozent der Arbeitslosen ausmachen, sollten Roma sein.“ Das ist ganz einfach.
Zweitens haben wir ein spezifisches Thema, die historische Versöhnung und eine spezifische Form der Diskriminierung, dazu brauchen wir gesonderte Maßnahmen. Wir haben z.B. kein Sklaverei-Museum in Rumänien, obwohl wir die längste Zeit der Sklaverei in Europa hatten. Wir haben auch kein Holocaust-Museum in Bukarest. Und wir sagen der Regierung: „Wir brauchen ein solches Museum! Ihr müsst es anerkennen, ihr müsst es in die Schulbücher aufnehmen, ihr müsst eine Schulung für Beamte, Lehrer, Ärzte usw. anbieten, um sie für die Stereotypen und Vorurteile zu sensibilisieren, die in der Gesellschaft existieren.“
Aber meiner Meinung nach, und das ist eine Art Fazit, ist die rumänische Gesellschaft viel offener als unsere Politiker in Bezug auf das Roma-Thema, auf das LGBTQ-Thema, auf alle möglichen Themen. Ich warte wirklich und freue mich darauf, dass zwei Dinge in meinem Leben noch passieren werden: erstens, dass eine Mainstream-Partei eine LGBTQ-Fahne übernimmt und sie als Symbol für Menschenrechte und als Grundsatz für diese Partei betrachtet, und zweitens, dass eine Roma-Person eine öffentliche Einrichtung, wie zum Beispiel eine Schule, wegen der schlechten Qualität der Dienstleistungen, die sie dort erhält, verklagt.
(Das Interview wurde auf Englisch geführt.)