In einer epochalen Werkschau wird derzeit und noch bis zum 6. April 2015 in der Stuttgarter Staatsgalerie das facettenreiche bildnerische Schaffen Oskar Schlemmers, eines der wichtigsten und vielseitigsten Künstler des 20. Jahrhunderts, umfassend präsentiert. Mit dieser Ausstellung wird zugleich der singuläre künstlerische Rang des 1888 in Stuttgart geborenen und 1943 in Baden-Baden gestorbenen Malers, Aquarellisten, Zeichners, Bildhauers, Typografen, Kostüm- und Bühnenbildners Oskar Schlemmer erstmals seit vierzig Jahren eingehend dokumentiert.
Zu sehen sind über 270 Gemälde, Plastiken, Aquarelle, Zeichnungen, Kostüme, Wandbilder und Zeitdokumente aus den Beständen der Staatsgalerie Stuttgart, aus renommierten europäischen und amerikanischen Sammlungen und aus dem Privatarchiv des Künstlers. Das historische Spektrum der gezeigten Arbeiten reicht von Frühwerken Oskar Schlemmers aus seiner Stuttgarter Akademiezeit bis hin zu den kurz vor seinem Tod entstandenen Wuppertaler „Fensterbildern“.
Oskar Schlemmer gilt als Pionier der Klassischen Moderne, der in seinen humanistischen Visionen von Harmonie, Frieden und Gemeinschaft künstlerisch Abstraktion und Figuration, Konstruktion und Intuition, Aktualität und Zeitlosigkeit miteinander zu verbinden wusste. Für Schlemmer stand – gemäß dem antiken, von Protagoras überlieferten „Homo mensura“-Satz – immer der Mensch im Mittelpunkt, sei es als künstlerischer Gegenstand, sei es als Telos künstlerischen Schaffens überhaupt.
Das nur 55 Jahre umspannende Leben Oskar Schlemmers war, wie die Biografie zahlreicher Künstler der Klassischen Moderne, von zeitgeschichtlichen Ereignissen markiert. Nach dem Studium (1906-1910) an der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste , wo er sich u. a. mit den Künstlerkollegen Otto Meyer-Amden und Willi Baumeister befreundete, und nach einem Berlin-Aufenthalt (1910/1911), wo er mit Herwarth Walden und dem „Sturm“-Kreis in Kontakt kam, wurde er als Soldat im Ersten Weltkrieg an der Ost- wie der Westfront mehrfach verwundet.
Nach Kriegsende und verschiedenen Ausstellungen in Stuttgart und Berlin wurde Schlemmer 1920 als akademischer Lehrer an das „Staatliche Bauhaus“ in Weimar berufen, wo er u. a. mit Wassily Kandinsky, Paul Klee und Johannes Itten zusammenkam. Hier vollzog sich auch die Erweiterung seines Interessenspektrums vom virtuellen Bildraum hin zum Realraum von Bühne und Architektur. 1924 erschien Schlemmers bedeutende Schrift „Mensch und Kunstfigur“.
Schon vor dem Umzug des Bauhauses nach Dessau im Jahre 1925 galt Schlemmers Interesse vermehrt Wandbildern, die er in Weimar, später auch in Essen, Zwenkau, Bornim, Berlin und Stuttgart schuf. Die Übermalung seiner Weimarer Wandbilder, die 1930 auf Weisung Wilhelm Fricks, des ersten NSDAP-Ministers zu Zeiten der Weimarer Republik, erfolgte, warf ihren Schatten – nach einer erfolgreichen Ausstellung gemeinsam mit Pablo Picasso in Hannover (1932) – auf einen weiteren Einschnitt in Schlemmers Leben voraus: Im Jahr der Machtergreifung Hitlers 1933 wurde Schlemmer als akademischer Lehrer fristlos entlassen, 1937 wurde sein Schaffen in der nationalsozialistischen Schmähausstellung „Entartete Kunst“ diffamiert und in der Folge wurden 65 seiner Bilder aus deutschen Museumsbeständen beschlagnahmt. Trotz internationaler Anerkennung durch Ausstellungen in der Londoner Tate Gallery (1937) oder in New York (1938) verdunkelte sich im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne Schlemmers künstlerisches Schaffen zusehends. Nach der Vollendung seiner insgesamt 18 Wuppertaler „Fensterbilder“ (1942) starb Oskar Schlemmer 1943 in Baden-Baden.
Betritt man den ersten großen Ausstellungsraum der Stuttgarter Schlemmer-Schau, so fällt der Blick des Betrachters sogleich auf Schlemmers berühmtestes Werk: sein Ölgemälde „Bauhaustreppe“ aus dem Jahre 1932, eine Leihgabe des Museum of Modern Art in New York. Dieses Schlüsselbild der Moderne gibt nicht nur Zeugnis von Schlemmers überragender Malkunst, sondern steht zugleich programmatisch für seine Vision einer neuen, befreiten, idealen Welt: Junge Menschen streben Stufe für Stufe aufwärts in einem hellen, lichtdurchfluteten Raum, der in seiner Gestaltung von moderner funktionaler Architektur geprägt ist. Zwei zeitgleiche Entwürfe zu diesem Gemälde, eine Kohlezeichnung und ein Aquarell, sind ebenfalls in der Ausstellung zu sehen, ebenso wie das an Giorgio de Chirico gemahnende Bild „Frauenschule“ (1930).
Von Schlemmers frühen Werken weist das Gemälde „Landschaft Stuttgart I“ (1912) kubistische Einflüsse auf, zwei Bilder vom Berliner Jagdschloss Grunewald (1911 und 1913) lassen den Einfluss durch die Kunst Paul Cézannes sichtbar werden. Doch schon bald ist Oskar Schlemmers Personalstil und sein persönliches Credo in seinen Werken erkennbar: die Konzentration auf die menschliche Figur, die Balance von Form und Farbe, die Verbindung von Figur und Fläche, die Reduktion der Figur auf geometrische Grundformen, was sich oftmals auch am Gliederpuppenhaften der dargestellten Gestalten zeigt. In der Ausstellung ist sogar eine echte Gliederpuppe zu bewundern, die Schlemmer aus 22 farbigen Holzelementen zusammengefügt hat.
Gegen Ende der zwanziger Jahre schuf Schlemmer dann zunehmend mystisch-diffuse Bildräume, monumentale Menschenarchitekturen in tektonischen Raumkonstruktionen, Lichtmalerei im antikisch-klassischen, auf das Typische hin orientierten Stil. Im Gemälde „Idealistische Begegnung“ (1928) scheinen sich die Figuren dem Nichts zu entringen, wie auch in dem mit Öl und Lackfarbe auf Leinwand gemalten Bild „Kopf und Tasse“ (1923), in dem Abstraktion und Figürlichkeit auf geniale Weise miteinander in Einklang gebracht sind.
Der zweite Teil der Stuttgarter Schlemmer-Werkschau ist in mehreren Räumen im Obergeschoss der Staatsgalerie untergebracht. Dort kann man nicht nur die berühmten Figurinen zum Triadischen Ballett, das am 30. September 1922 in Stuttgart uraufgeführt wurde, bewundern, sondern auch einen 72-minütigen Tanzfilm mit Musik genießen, der die Ballettfigurinen in Aktion zeigt. Des Weiteren ist hier auch die Mitwirkung Oskar Schlemmers als Kostüm- und Bühnenbildner an über 20 Bühnenproduktionen dokumentiert, so etwa an Operneinaktern von Oskar Kokoschka und Franz Blei, zu denen Paul Hindemith die Musik schrieb. Schlemmer selbst ist verschiedentlich auf Fotos abgelichtet: als musikalischer Clown und als geschminkter Cellist im Blümchenkleid.
Den Abschluss der Ausstellung bilden mehrere Räume mit Wandbildern bzw. Entwürfen dazu. So sind z.B. umfangreiche Teile der zwei erhaltenen Fassungen des Essener Folkwang-Zyklus zu besichtigen. Die letzte Wandarbeit Schlemmers verdient besondere Erwähnung. 1940 schuf der Künstler für das Haus Dieter Keller in Stuttgart-Vaihingen das monumentale „Wandbild Familie“, das beim Abriss des Gebäudes gerade noch für die Nachwelt gerettet werden konnte. Nun ist es erstmals wieder in Schlemmers Heimatstadt zu sehen.
Parallel zur großen Schlemmer-Werkschau sind im Graphik-Kabinett der Staatsgalerie Werke von Künstlern ausgestellt, die Schlemmer während seiner Stuttgarter Jahre begleitet haben. Vertreten sind hier sein Lehrer Adolf Hölzel, die Freunde Willi Baumeister, Otto Meyer-Amden, Johannes Itten, Ida Kerkovius und Hermann Stenner sowie weitere Künstler, mit denen zusammen Schlemmer 1919 die „Üecht“-Gruppe gründete: Gottfried Graf, Edmund Daniel Kinzinger, Albert Mueller und Hans Spiegel. Diese sehenswerte kleine Sonderausstellung ergänzt die betrachtungswürdige große Schlemmer-Werkschau und rundet sie auf ihre Weise ab.