Wer schon einmal ein deutschsprachiges Navigationsgerät benutzt hat, wird sich an die höfliche Aufforderung der Roboterstimme erinnern, wenn man den falschen Weg genommen hat: „Wenn möglich, bitte wenden.“ Dem fast vergangenen Jahr kann man das jedoch nicht mehr nachrufen, jammer-schade. Denn was hätte 2022 denn für ein Jahr werden können! Von Corona schien man Ende 2021 Abschied zu nehmen, das Virus hatte seinen Schrecken verloren, auch wenn es in den ersten Monaten des jetzt zu Ende gehenden Jahres noch immer hieß, die Pandemie sei noch da und man müsse vorsichtig sein.
Vorsicht ist aber den Rumänen seit eh und je eher suspekt. Also sorgte sich nach dem schlimmen Herbst 2021 mit den Hunderten von täglich registrierten Toten keiner mehr so richtig um Corona; 2022 versprach die endgültige Befreiung von der lähmenden Pandemie: Menschen auf den Straßen, Kinder in den Schulen, weniger Homeoffice, mehr Sommerurlaub. Auch hatte das Land nach der gescheiterten PNL-USR-UDMR-Regierung und vor allem dem erschreckend peinlichen Abgang Florin Cîțus aus den Ämtern des Premierministers und des PNL-Parteivorsitzenden wieder ein halbwegs stabiles Kabinett, auch wenn diese Stabilität nur mit dem Regierungseintritt der PSD zu erreichen war.
Doch es kam alles ganz anders. Am 24. Februar kehrte der Krieg nach Europa zurück. Nach dem Ende des Bürgerkriegs in Jugoslawien hatten fast drei Jahrzehnte die Waffen auf dem Kontinent geruht. Man hatte sich in Europa in Sicherheit gewogen, in einem immer währenden Frieden. Seit dem NATO-Beitritt 2004 und der Aufnahme in die EU 2007 war auch Rumänien Teil dieses Friedens, wenngleich es an der Peripherie geblieben war. Im konkreten wie auch im übertragenen Sinne.
Die wachsende Bedrohung der Ukraine durch die russischen Truppenkonzentrationen zu Beginn des Jahres wurde als übliches Muskelspiel Wladimir Putins abgetan, das man in Bukarest, genauso wie in Warschau oder Prag, mit deutlich höherer Skepsis wahrgenommen hat, als vielleicht anderswo im Westen. Putins langer Tisch überraschte im Osten kaum einen, dafür hielt man von der Anbiederung des deutschen Kanzlers Olaf Scholz und der bizarren Anruferei des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron im Kreml nicht allzu viel, auch wenn man natürlich auf eine friedliche Lösung hoffte. Der Ukraine wegen, natürlich, aber auch wegen der Republik Moldau, einem von Rumänen bewohnten Land, dessen fragiles Staatsgebilde jedem Bukarester Politiker, der noch ein wenig Verstand hat und über den eigenen Tellerrand blicken kann, schlaflose Nächte bereiten müsste.
1997 hatte Rumänien mit der Ukraine einen Nachbar- und Freundschaftsvertrag abgeschlossen, damals lautete die Botschaft des Westens, dass dieser Vertrag, genauso wie das ein Jahr zuvor mit Ungarn abgeschlossene Abkommen, eine Grundvoraussetzung für die Aufnahme in den Club westlicher Demokratien sei. Die Grenze musste man anerkennen, in der Bukowina und an der Donau-Mündung geht ihr Verlauf auf das geheime Zusatzprotokoll zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt von 1939 und auf die dadurch ermöglichte Annexion Bessarabiens und der Nordbukowina durch die Sowjetunion ein Jahr später zurück. Präsident Emil Constantinescu und seinem Außenminister Adrian Severin, die den Vertrag mit der Ukraine vor 25 Jahren auf den Weg gebracht hatten, warf man damals Landesverrat vor. Rumäniens Ziel, der NATO und der EU beizutreten, wurde schließlich erreicht, aber das rumänisch-ukrainische Klima blieb weiterhin eher kühl. Es gab Probleme, Kiews nationalistische Sprachpolitik regte die rumänische Minderheit in der Region Czernowitz/Cernăuți auf (genauso wie die ungarische in Transkarpatien), dann wollten die Ukrainer einen Kanal im Donaudelta bauen, der einer ökologischen Katastrophe gleichgekommen wäre, schließlich stritt man sich vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag um den Festlandsockel im Schwarzen Meer. Doch im Frühjahr 2022 zeigten auch die Rumänen, dass sie die ukrainischen Flüchtlinge aufnehmen und versorgen können, zivilgesellschaftliche Initiativen in den Großstädten funktionierten einwandfrei. Nur der Staat selbst war wieder einmal überfordert und er bleibt es auch weiterhin, das Lkw-Chaos am Grenzübergang Siret und die Misere in den Häfen von Galatz und Konstanza, wo die vorhandenen Kapazitäten kaum genutzt werden konnten, weil die Anbindung an das Schienen- und Straßennetz über Jahrzehnte vernachlässigt wurde, beweisen dies eindeutig.
Von einer Zeitenwende, wie sie Deutschlands Kanzler ausgerufen hatte, war 2022 auch in Rumänien die Rede, auch wenn der Hausherr von Cotroceni große Worte eher meidet. Und im Allgemeinen eher selten zu seinem Volk spricht, auch dann, wenn er es dringend tun sollte. Wie Rumänien konkret die Ukraine unterstützt, wollte er nie sagen, angeblich um dem russischen Feind keine wertvollen Informationen zu liefern, aber man dürfte schon davon ausgehen, dass auch Bukarest einen bescheidenen Beitrag dazu leistet, den ukrainischen Widerstand gegen die Moskauer Aggression aufrechtzuerhalten.
2022 hat Staatpräsident Klaus Johannis eine Regierung geleitet (man mache sich nichts vor: Die wichtigen Entscheidungen werden nicht im Victoria-Palast getroffen, sondern auf Schloss Cotroceni), deren Mannschaft zu den peinlichsten, farblosesten und, ja, - man muss sich auch hier nichts vormachen – dümmsten Kabinettsriegen gehört, die das Land seit 1989 geleitet haben. In den Regierungssesseln sitzt eine Truppe von Hochstaplern, nützlichen Idioten und Möchtegernpolitikern, deren Fähigkeit, einen bis zum Ende gedachten Satz richtig auszusprechen, erschreckend gering ist. Ein Beispiel: Verkehrsminister Sorin Grindeanu, bei dem man nicht sicher sein kann, ob er Rumänisch spricht oder gerade Steine zermalmt.
Man schaue sich aber den Premierminister und PNL-Chef Nicolae Ciucă und seinen sozialdemokratischen Counterpart Marcel Ciolacu an. Der letzte bekleidet kein Regierungsamt, soll aber Mitte 2023 Ciuc² als Regierungschef nachfolgen, darauf hatte man sich in der Koalition Ende 2021 geeinigt. Der jetzige Amtsinhaber scheint alle negativen Vorurteile zu vereinen, die man über Militärs haben kann. So erzählen zum Beispiel Wirtschaftsbosse, die im Frühjahr und im Sommer mit ihm über den Energiepreisdeckel verhandelt haben, dass er beispielsweise die einfachsten Wirtschaftskreisläufe nicht verstehen könne und die Ansicht vertreten haben soll, dass Preise zu sinken haben, wenn die Regierung dies anordne. Seit 32 Jahren baut man hierzulande den Kapitalismus auf, aber der Weg ist noch lang. Auch Ciolacu, der seinen Aufstieg bis in die höchste Politik nicht so genau erklären kann (vor allem seine berufliche Ausbildung ist ein Rätsel), überrascht mit ökonomischen Ansichten, die nicht einmal von den Altkommunisten in der PDSR-Regierung unter Nicolae V²c²roiu in den 1990er Jahren vertreten worden waren. Ciolacus Analysen über die Rentenerhöhung und die Inflation sind ein erhellendes Beispiel dafür. Und dass unter dem PSD-Chef Ciolacu Leute wie Adrian Câciu und Marius Bud²i das Finanz- und das Arbeitsressort leiten dürfen, ist beklagenswert und beweist, dass die Ciolacu-PSD von der Dragnea- und D²ncil²-PSD nicht zu unterscheiden ist. Dumpfer Populismus und ekelhafte Unterwürfigkeit gegenüber dem eigenen Boss, dem Herrn Vorsitzenden Ciolacu, das sind die Markenzeichen der PSD.
Die PNL ist auch nicht besser. Es gibt dort einen Brandstifter der allerübelsten Sorte und er hat genug Anhänger und Nachahmer: Rare{ Bogdan, ein Scharfmacher und Bösewicht, den man einfach abtun könnte, wenn er nicht in der PNL und angeblich auch beim Staatspräsidenten über einen derartig hohen Einfluss verfügen würde. Was Rare{ Bogdan in der Schengen-Affäre von sich gegeben hat, grenzt an Wahnsinn.
Ach, Schengen. Wird zwischen Altbeba und Sulina und zwischen Boto{ani und Zimnicea überhaupt noch irgendein Stück Fleisch paniert in diesem Lande? Haben alle Restaurants das Schnitzel von der Karte gestrichen? Führen Reiseagenturen Österreich noch im Angebot? Gibt es noch einen Rumänen, der sich in der Nacht von Samstag auf Sonntag auf den Silvesterpfad der Wiener Innenstadt begibt? Wenn ja, dann handelt es sich zweifelsohne um gottlose Landesverräter, die nicht verstehen, wie wichtig uns allen auf einmal der Schengen-Beitritt ist und wie böse dieses Österreich und seine Politiker sind. Man darf über die Beweggründe des Wiener Kanzlers und seines Innenministers streiten, das sollen die Österreicher lieber selber tun. Auch über die Scheinheiligkeit der Niederländer oder der gesamten EU kann man debattieren. Was man aber klipp und klar sagen kann, ist Folgendes: Österreichs (und Hollands) Nein zum rumänischen Schengen-Beitritt geht auf das Versagen der rumänischen Regierung, des Präsidenten und des Außenministers (haben wir überhaupt einen?) zurück. Deren Untätigkeit, fehlende Weitsicht und mangelnde Kompetenz in außenpolitischen und europäischen Fragen ist es zu verdanken, dass 15 Jahre nach dem EU-Beitritt Rumänien in der Tat wie der peinliche Vetter behandelt wird, von dem man eher nicht wissen will. Aber dass man eine lächerliche Anti-Österreich-Kampagne anzettelt, zum Boykott des Schnitzels, der Mozart-Kugel und der Manner-Waffel aufruft und glaubt, dass man damit auch wirklich etwas anderes erreichen kann, als sich selbst der Lächerlichkeit preiszugeben, das ist zum Fremdschämen. Auch der Rückruf des Botschafters gehört in diese Kategorie, genauso wie dessen pathetischer Brief an den österreichischen Bundespräsidenten, in dem Emil Hurezeanu Alexander van der Bellen über die historische Bedeutung Kaiserin Maria Theresias aufklärt. Aber keine Sorge, Schengen hin oder her, Schnitzel-Boykott ja oder nein: Nach Österreich fährt man weiterhin, wohin denn sonst? Und das ganze Gelaber der Politiker dient nur dazu, den Unmut des Volkes wieder einmal auf den Fremden zu lenken, damit die eigene Misere ruhig unter den Teppich gekehrt werden kann.
Aber da gibt es auch die Inflation. Es gibt sie wieder, sozusagen. So hoch ist sie wie seit Anfang der 2000er Jahre nicht mehr. Der Winter wird noch viele auf eine harte Probe stellen. Der Preisanstieg bei den meisten Konsumgütern dämpft stark den Optimismus, der mit dem Ende der Pandemie einherging. Auch in Rumänien hatte sich zunächst die Nachfrage erholt, aber genau diese Erhöhung der Nachfrage, gepaart von Putins Krieg und dem Schock auf den Energiemärkten, hat uns diese Inflation beschert, die allen Anscheins nach erst in der zweiten Hälfte des kommenden Jahres wieder zurückgehen soll. Aber eines muss man der unfähigen Regierungsmannschaft lassen: Orbansche Wirtschaftspolitik hat sie nicht angewandt, Preisdeckel, deren Folge leere Regale in den Supermärkten und Mengenquotierungen von zwei Litern pro Auto beim Spriteinkauf sind, hat sie nicht eingeführt und bei der Erhöhung von Gehältern und Pensionen hat sie ihren verantwortungslosen Populismus halbwegs drosseln können. Und auch der Notenbank ist es unter ihrem langjährigen Gouverneur Mugur Is²rescu (der Mann ist 73, der BNR steht er seit 1990 vor.) gelungen, den Euro-Wechselkurs stabil zu halten. Auch wenn die Zeiten hart sind und die Inflation hoch, so schlimm wie in Ungarn oder in der Türkei ist es hierzulande nicht. Dafür kämpft der Staat mit seinen alten Problemen: Die Ausgaben sind zu hoch, die Einnahmen zu gering, die Steuerhinterziehung geht durch die Decke, in den Behörden wird die politische Klientel beschäftigt und die wird von Jahr zu Jahr dümmer und dümmer.
Und so kommen wir zum Schluss und gleichzeitig zum Anfang allen Übels: Auch 2022 beweist, dass Rumäniens größtes Problem unlösbar ist. Die Ohnmacht des Bildungssystems vom Kindergarten bis zur Universität ist der Schlüssel aller Mängel, sie gehen alle letztendlich auf ein Schulsystem zurück, das man getrost als hirntot bezeichnen kann. Der Tod kam leise, der Verfall schleichend. Nach zwei Jahren Pandemie sind 2022 eingeschriebene Erstsemester auf dem Niveau der neunten Klasse, Sechstklässler geben ihr Geld für Glücksspiele aus und an zahlreichen Schulen schwänzen die Lehrer öfter als die Schüler. Keinen größeren Reinfall wird wohl die Geschichte mit der Präsidentschaft von Klaus Johannis verbinden als das „România educat²“-Projekt. Eine Lachnummer von A bis Z, eine Show, bei der das getan wird, was man hier sehr gut kann, nämlich sich ins eigene Knie schießen. Zugegeben, die rumänische Wendung ist gewaltloser, es heißt, man stiehlt sich selbst den Hut.
Und übrigens: Jener Außenminister, der 1997 den Vertrag mit der Ukraine ausgehandelt und dadurch einen nicht geringen Beitrag zum NATO- und EU-Beitritt Rumäniens geleistet hat, schwadroniert heute gegen die EU, spricht von der notwendigen Widerherstellung der Souveranität und doziert auf Tagungen Ewiggestriger, wie diese zurückzuerobern sei. Auf ihn und auf andere wie ihn dürften in Zukunft aber viele hören. Komplizierte Zeiten und kaum eine Wendegelegenheit.