Was haben der berühmt-berüchtigte Ceauşescu-Palast „Casa poporului“, das Eisenbahnerdenkmal am Nordbahnhof, der Triumphbogen, das Athenäum und das Stavropoleos-Kloster in Bukarest gemein? Sie sind allesamt Bauwerke, die wie viele andere Häuser, Straßen, Viertel und Bauten unterschiedlichster Art dieser Stadt Bukarester und rumänische Geschichte und Geschichten erzählen. Das meint zumindest Paul Jeute. In seinem im Schiller-Verlag erschienenen Buch „Bukarest. Mythen, Zerstörung, Wiederaufbau“ bietet er eine „architektonische Stadtgeschichte“, wie es im Untertitel des 134 Seiten starken Werks heißt.
Jeute hat einen faszinierenden Ansatz, Geschichte über Architektur zu erklären und zu interpretieren. Sein Buch überzeugt inhaltlich, konzeptionell und methodisch, sprachlich wie systematisch. Der Autor erzählt die Stadtgeschichte von Bukarest und als „Nebenwirkung“ auch noch die wichtigsten Züge der Geschichte des rumänischen Altreichs anhand der Stadtplanung, Bauentwicklung und Baustile in Bukarest. Dazu setzt er Baustile und Epochen in ein Verhältnis, indem er beschreibt, welche Formensprache die einzelnen Epochen hervorgebracht haben.
Das glänzend geschriebene und exzellent recherchierte Buch bietet gleichzeitig tiefgründige Reflexionen zur Kulturgeschichte von Bukarest und zur Alltags- und auch Herrschaftsmentalität der jeweiligen Zeit. Der Band öffnet dem Leser die Augen und ermöglicht es, in Gebäuden und Skulpturen zu lesen. Aus Steinen werden Buchstaben, aus Häuserfronten Geschichtskapitel, die allesamt auch als historische Zeugnisse das jeweilige Selbstbild und –verständnis ihrer Epoche illustrieren. Erkenntnisleitend ist für Jeute dabei der Satz von Karl Schlögel: „Geschichte spielt nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum“ (S. 7). Jeute zielt darauf ab, „im Raume die Zeit zu lesen“.
Der reich bebilderte Band ist klar und sinnvoll gegliedert. Zunächst wird die „Entwicklung zur Hauptstadt Rumäniens“ geschildert (S. 9-37), dann die Gründerzeit („Das bürgerliche Bukarest 1866-1918“, S. 49-67). „Die Stadt der Moderne“ behandelt die Zeit von 1918 bis 1945 (S. 68-82). Die baugeschichtlich äußerst relevante sozialistische Phase wird in zwei eigenen Kapiteln behandelt („Die sozialistische Stadt 1947-1968“, S. 83-92, und „Die Herrschaft Ceauşescus und der Umbau der Stadt“, S. 93-106), wobei der letzte Abschnitt auch die Zeit nach der Wende von 1989 einbezieht.
Das ausgesprochen spannende Kapitel „Mythen und ihre Darstellung im öffentlichen Raum“ (S. 38-48) stellt an neun öffentlichen Skulpturen und Monumenten vom Denkmal der „Helden der Feuerwehr“ (1901) über das Eisenbahnerdenkmal am Nordbahnhof (1923) und das Denkmal der „Helden der Luft“ (1935) bis hin zum Triumphbogen von 1936 die öffentliche Memorialistik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. Dabei wird deutlich, wie sich nationale historische Mythen ihren Weg in den öffentlichen Raum gebahnt haben und welche Ziele dahinter stehen. Jeute spricht von „Manifestationen der Existenz einer rumänischen Nation“ nach der Staatenbildung im 19. Jahrhundert mit dem Ziel, „nationalkulturellen Sinnstrukturen ein kollektives Identifikationsangebot zu unterbreiten“ (S. 38 f.).
Die heute zwei Millionen Einwohner zählende Stadt in der walachischen Tiefebene ist eine der spannendsten wie unbekanntesten Metropolen Europas. Sie ist in mancher Hinsicht völlig chaotisch (an)gewachsen und von größten Gegensätzen geprägt. Das äußert sich seit Beginn der Stadt auch in den Baustilen. An der Bauentwicklung lässt sich bis heute sichtbar nachweisen, wie die Stadt sich darum bemüht hat, die ursprünglich orientalische Prägung abzulegen und sich von der Stadt der Karawansereien zu einer europäischen Stadt blühenden Kulturlebens und des Handels zu entwickeln. Am Übergang zum 18. Jahrhundert hatte sich die Stadt als Wirtschafts- und Handelszentrum wie auch endgültig als Hauptstadt und Residenz etabliert. Baulich sichtbar wird dies bis heute in dem einzigartigen Brâncoveanu-Stil, der zugleich venezianische als auch walachische und byzantinische Dekorelemente miteinander verbindet.
Es wird transparent, warum die Stadt bis heute ein so eigenartiges byzantinisches und westliches Gepräge und jene Mischung aus Klassizismus und Orient zugleich behalten hat, trotz des von Jeute kritisch referierten Selbstbilds als „Paris des Ostens“. Deutlich wird auch, wie sich die gesellschaftlichen und politischen Eliten des neuen Reiches einerseits an Frankreich orientierten bis hin zur Verfassung, während gleichzeitig das aus Deutschland stammende Königshaus die Orientierung an Deutschland forcierte. Bukarest hat kein definitives Zentrum, auch wenn spätere Systematisierungsmaßnahmen im Kommunismus ein solches Zentrum um den Ceauşescu-Palast herum schaffen sollten.
Es ist wunderbar zu lesen, wie Jeute auch die religiöse Kulturgeschichte mit einbezieht, was der starken kirchlichen Prägung von Bukarest in den frühen Jahrhunderten mit mehr als 100 Sakralbauten schon im 17. Jahrhundert (S. 16) durch-aus die gebührende Rolle einräumt. Die entsprechende „Codierung“ Bukarests auch durch Kirchen und Kapellen bis heute wird darin deutlich. Dabei waren die vielen Sakralbauten der Stadt „keineswegs Monumentalbauten wie zeitgenössische Kirchenbauten im Westens des Kontinents, sondern boten einer beschränkten Anzahl Gläubigen aus der direkten Nachbarschaft (…) Platz für die alltägliche Religionsausübung. Das Gedrungene der Kirchbauten verstärkt außerdem das mystische Element, welches im orthodoxen Glauben sehr viel stärker ausgeprägt ist als in den westlichen Konfessionen des Christen“ (S. 23). Das ist treffsicher beobachtet und mit großem Verständnis formuliert.
Hintergründig werden an den entsprechenden Gebäuden und der architektonischen Stadtentwicklung der Modernisierungsschub im 19. Jahrhundert, die Loslösung von den postbyzantinischen Traditionen und die Übernahme urbaner Strukturen beschrieben, alles ermöglicht vor allem durch die allmähliche Emanzipation vom Osmanischen Reich. Kanalsysteme, Straßenbeleuchtung, öffentliche Krankenhäuser entstanden, eine Verwaltung nach westlichem Muster und auch eine Bourgeoisie bildeten sich dabei heraus. Jeute zeigt auf, dass diese Gründerzeit bis heute positiv besetzt ist.
Waren die neu angelegten Boulevards und Plätze Bukarests wie kaum ein anderes städtebauliches Element „Ausdruck einer sich europäisierenden, bürgerlichen Stadt“ nach dem großen Vorbild Paris (S. 61) bis hin zu den „zahlreichen Institutionsbauten des neuen Nationalstaates“ (S. 65), so wollten die Kommunisten und Ceauşescu die Stadt zur ersten echten sozialistischen Hauptstadt mit typischen Funktions- und Repräsentationsbauten wie dem Pressehaus „Casa Scînteii“ (1955) machen – zum Glück kam die Revolution dazwischen und verhinderte noch größere Zerstörungen.
Dieses genauso informative wie innovative Buch sollte sich niemand entgehen lassen, der sich für Bukarest interessiert oder sich dort aufhält. Es ist eine Einladung, die besprochenen Bauwerke, Plätze und Monumente mit dem Buch in der Hand zu besuchen und zu studieren. Exzellent sind die gelungenen Zusammenfassungen. Nur eines stimmt traurig: man hätte die vielen wunderbaren wie eindrucksvollen Fotos gerne in Farbe gesehen. Das Buch bietet mehr für das Verständnis von Bukarest und dessen politischer, Kultur- und Alltagsgeschichte als so mancher oberflächliche Reiseführer, die leider nicht alle so substanziell sind wie die von Ebba Hagenberg-Miliu. Man kann Autor und Schiller-Verlag nur dankbar sein für diesen Band.