„Wir haben jetzt zwei Aasgeier, die Europa verschlingen wollen“

ADZ-Gespräch mit dem Historiker Prof. Dr. Rudolf Gräf

Prof. Dr. Rudolf Gräf, der Leiter des Forschungsinstituts für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie in Hermannstadt: „Mein Hobby ist mein Beruf”. Foto: privat

Im Jahr 2025 hat Prof. Dr. Rudolf Gräf, renommierter Historiker und Leiter des Forschungsinstituts für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie in Hermannstadt, seinen 70. Geburtstag gefeiert. Seit Jahrzehnten prägt er die Erforschung der Geschichte der deutschen Minderheit in Rumänien maßgeblich mit – als Wissenschaftler, Hochschullehrer und Mentor zahlreicher junger Historikerinnen und Historiker. In folgendem Interview spricht Gräf über seine frühen Prägungen, seine Leidenschaft für das Fach Geschichte, seine bedeutendsten Projekte und die Herausforderungen der heutigen Zeit. Die Fragen stellte ADZ-Redakteurin Raluca Nelepcu.

Herr Gräf, wann haben Sie gewusst, dass Sie Historiker werden wollen?

Seit der fünften Klasse!

Hatten Sie einen Mentor? Und falls ja, wer war es und wie hat sein Wirken Ihre berufliche Laufbahn geprägt?

Ja. Alles hat für mich in der fünften Klasse begonnen, als ich Volker Wollmann als Geschichtsprofessor hatte. Er nannte mich den „Herodot der Klasse“. Ich war sehr froh darüber. Danach war Frau Elena Iorga meine Geschichtslehrerin. Sie erzählte uns vieles, was nicht im Lehrbuch stand. Im Lyzeum hatten wir dann einen ganz besonderen Professor, Josef Beran, dessen Unterricht über die Renaissance etwas Außergewöhnliches war. Prof. Octavian R˛u] muss ich noch erwähnen, den wir in der 12. Klasse hatten. Aber wirklich geprägt war ich dann von meinem Doktorvater, Prof. Dr. Nicolae Boc{an. Volker Wollmann und Nicolae Boc{an sind diejenigen, die meine berufliche Laufbahn wesentlich beeinflusst haben.

Sie sind seit einigen Jahren der Leiter des Forschungsinstituts für Geisteswissenschaften der Rumänischen Akademie in Hermannstadt, Sie unterrichten aber nach wie vor an der Babes-Bolyai-Universität (BBU) in Klausenburg, deren Prorektor Sie jahrelang waren, Sie forschen selbst und betreuen andere Forscher. Wie schaffen Sie es, all diese Tätigkeiten zu bewältigen?

An der BBU bin ich zurzeit nur mehr im Doktorandenkolleg aktiv. Mir scheint es nichts Überwältigendes, all diese Tätigkeiten zu meistern. Wenn man allerdings schaut, welche Vorgänger man in den verschiedenen Stellen gehabt hat, so überkommt einen schon eine gewisse Unruhe, das Niveau bewahren zu können. Man muss aber Spaß an seiner Arbeit haben und diese kann nur mit guten und sehr guten Mitarbeitern vorangehen. Ich hatte und habe beides, dazu auch noch enormes Glück, den Beruf ausüben zu können, den ich mir gewünscht habe. Sie wissen, in Reschitza musste/sollte man Ingenieur werden. Ich konnte jedoch den Weg gehen, den ich mir gewünscht habe. Meine Eltern waren zwar mit der Idee, Geschichte zu studieren, nicht glücklich, jedoch haben sie sich nicht widersetzt. Dafür bin ich ihnen bis heute dankbar. Und noch etwas: Meine Geschichtsprofessorin aus der elften Klasse, die auch „Socialism științific” unterrichtete, hat mich massiv unterstützt, mir die theoretischen Grundlagen der Geisteswissenschaften anzueignen, wofür ich ihr zutiefst dankbar bin. Übrigens waren die „Socialism {tiin]ific” -Stunden mit Frau Prof. Schaftari (heute Mioc) eine ausgezeichnete Einführung in die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts, insbesondere in die Fundamente der Geschichtsphilosophie. Wir sprachen da wenig oder fast nichts über „Socialism științific”.

Doch zurück zu Ihrer Frage: Im Reschitzaer Museum, dann an der Uni und jetzt im Institut hatte ich das Glück, ausgezeichnete Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu haben: Anita Floare/Coveanu oder Amalia Lupi]a, Daniel Agafi]ei, (Banater Montanmuseum), Mihaela Ili{iu, Ioana Florea, Czgegezi Lenke, Teodora Capot˛, Simona Stanciu, Teodor Hodor, Kurt Schmitts, Daniel Szekely (UBB), Valentina Roxana Cruciat, Mariana Cetean und Adina Popa (ICSU Sibiu). Das sind nur jene aus dem Verwaltungsapparat, die alle sehr wichtige, aber nicht sichtbare Stellen besetzten oder besetzen. Und es gibt noch viele andere.

Und sicher, die Studenten, der Gutenberg-Verein, mit dem ich vieles unternommen habe: Mark Török, Andreea Breaz, Andreea Popa, Sonia Maloș, Denisa Lăcătuș u.v.a., alle hervorragende junge Leute, von denen man sicher noch hören wird.

Dann meine Studenten und Studentinnen, Doktoranden und Doktorandinnen. Die größte Freude hat man, wenn man sieht, dass diese ihren Weg gefunden haben; und hier kann ich nur mit Lorand Madly, Ioana Florea, Meda Muncundorfeanu, Paul Tătar, Augusta Radosav, Mircea Abrudan, Oana Sorescu-Iudean, Sandra Hirsch, Dana Stanciu-Păscărița, Nicolae Teșculă, Alois Kommer, Ionel Sigarteu, Sorana Vlad, Ute Michalowitsch, Philipp Hochbaum, Amelia V˛idean-Molocea aber auch mit Zenovia Pop glücklich und stolz sein, denn alle haben ihren Weg im Metier und nicht nur gefunden. Hier muss ich auch Livia Magina vom Museum des Banater Montangebiets erwähnen, die nicht direkt meine Studentin war, aber irgendwie in meinem Umfeld „gewachsen” ist, oder George State, mit dem ich „Die Habsburgermonarchie 1848-1918” auf Rumänisch herausgebracht habe und der heute einer meiner bedeutendsten Mitarbeiter ist. Und viele andere, die ich nicht alle erwähnen kann.

Was macht Ihnen am meisten Spaß?

Alle Aktivitäten machen mir Spaß: die Arbeit mit den Studenten, die Arbeit im Archiv und in der Bibliothek, die leider zu kurz kommt. Ich habe kein besonderes Hobby, denn mein Hobby ist mein Beruf. Im Sommer aber schwimme ich gerne, ich liebe das Meer, ich lese gerne Literatur oder am Wochenende entspanne ich ohne Termindruck zu Hause. Das wird selbstverständlich in Zukunft in definitivem Zustand enden, aber das Leben ist nun so und man soll sich an dem erfreuen, was man hat. Ich gehe auch gerne in die Natur, doch leider zu wenig. Ich bin im Banater Bergland aufgewachsen und Berg, Wässer und Wälder sind mir sehr nahe.

Sie haben sich intensiv mit der Geschichte Ihrer Heimatstadt Reschitza und des Banats befasst. Welche neuen Erkenntnisse haben Sie in Ihrer Forschung gewonnen, die das bisherige Verständnis verändert haben?

Vielleicht die Tatsache, dass Reschitza eine mitteleuropäische Stadt war, die durch ihre Eliten, zu denen auch ein Teil der Arbeiterschaft gehörte, mit den Geistesströmungen der Zeit verbunden war. Reschitza war eine Stadt, der die großen industriellen Erneuerungen des 19. und 20. Jahrhundert nie fremd waren. Und dass hier, im Banat, immer ein Weg gefunden wurde und hoffentlich auch in Zukunft gefunden wird, der auf gegenseitigem Verständnis basiert. Und auch wichtige Richtungen der Kunstgeschichte oder der Dichtung sind von hier ausgegangen. (Julius Meier-Graefe, Ludwig Vinzenz Fischer u.a.)

Inwiefern besteht noch Inte-resse seitens der jungen Menschen, zum Thema „Banat“ zu forschen?

Das Banat wurde aus einer peripheren Provinz der Habsburgermonarchie eine periphere Provinz Rumäniens. Das heißt, dass der Kreis derer, die am Banat interessiert sein könnten, größer geworden ist. Das wird auch durch die zahlreichen Dissertationen, Studien, Bücher, Institute, Forschungsprojekte usw. bewiesen (z.B. Benjamin Landais in Frankreich, Zoran Janjetovi in Serbien, das Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen, die Forschungen in Rumänien, Ungarn, Serbien usw.).

Welches Ihrer Projekte liegt Ihnen besonders am Herzen und warum?

Da gibt es schon mehrere: das Projekt „Reschitza 250 Jahre Industriegeschichte“ mit Josef Wolf, das Projekt „Limb˛ {i cultur˛ german˛ în România 1918-1933“ gemeinsam mit Prof. Andrei Corbea-Hoi{ie aus Jassy, und ganz besonders die Herausgabe der sechs ins Rumänische übersetzten Bände der „Habsburgermonarchie 1848-1918“, an denen ich auch mit ehemaligen Studenten gearbeitet habe.

Gab es in Ihrer Karriere Momente des Zweifels oder Rückschläge? Wie sind Sie damit umgegangen?

Im Leben eines jeden Menschen gibt es diese. Am schlimmsten wäre es aber für mich, dass,  nachdem meine Frau und ich uns entschlossen haben, unser Leben hier zu führen (obwohl wir in Deutschland hätten Fuß fassen können), wir jetzt, wegen der miserablen politischen Lage, das Land verlassen müssten. Das kann eintreten, wenn die Ultrarechten/-linken (die Schlange beißt sich in den Schwanz – eigentlich die Untersten wie Thomas Mann sagt oder Habenichtse wie sie von Durs Grünbein genannt werden) die Wahlen gewinnen würden. Wenn dieses Interview erscheint, wissen wir schon etwas mehr. Tatsache ist, dass das Auftreten von Vertretern rechtsextremer Parteien in traditionellen akademischen Einrichtungen nichts Hoffnungsvolles verkündet und das Auftreten der Kandidaten bei den öffentlichen Debatten nichts Gutes verspricht. Und die absolut niveaulosen Debatten der Kandidaten, bei denen nur Nicu{or Dan und Daniel Funeriu logisch und vernünftig gesprochen haben, zeigen uns fast sicher den Weg nach Osten. Ich muss es sagen, man hat den Eindruck, Russland wird keine Patrone auf Rumänien vergeuden, es hat seine Vertreter schon hier.

Die politische Lage hat sich sehr verschlechtert und auch die USA haben sich zu einem Raubstaat entwickelt. Wir haben jetzt zwei Aasgeier, die Europa verschlingen wollen, sowohl Russland, wie auch die USA. In beiden Fällen Ausdruck der tiefsten Primitivität. Russland ist ein Staat mit einer Jahrhunderte alten Tradition der Raubpolitik. In den USA hat sich die Möglichkeit verwirklicht, dass ungebildeten Technokraten-Gruppierungen mit einer Mischung von merkantiler Primitivität und absolutem Fehlen von politischer Kultur, manchmal auch mit einem Ton von Weltuntergangstheologie, Amerika und Europa in den Ruin treiben wollen – und sich dafür mit seinesgleichen verbünden: perfekte Chance für diktatorische Regime. Unter diesen Umständen ist es notwendig, dass Europa sich wehrt und zeigt, dass es der nobelste, vornehmste, reichste, fleißigste und stärkste Kontinent ist.

Wenn Sie zurückblicken: Gibt es eine Entscheidung in Ihrer akademischen Laufbahn, die Sie heute anders treffen würden?

Vielleicht schon so manche. Denn sicherlich hätte ich vieles besser und anders machen können. Es wäre sicher gut gewesen, wenn ich mehr Fremdsprachen gelernt hätte, wenn ich mehr Forschungaufenthalte im Ausland gehabt hätte – doch das hat nicht so gut funktioniert, da ich schnell in die Universitätsverwaltung eingebunden wurde.

Wenn Sie einem jungen Menschen, der sich für Geschichte interessiert, einen Ratschlag geben könnten, welcher wäre dieser?

Der, den ich auch meinem Sohn gegeben habe, als er sein Studium abgeschlossen hat: zu arbeiten, als ob er 5000 Jahre leben würde, und gleichzeitig sich bewusst sein, dass er keine nächste Sekunde bestimmen und voraussagen kann.

Dass er, wenn er in Rumänien forscht, wenigstens die drei Sprachen Rumänisch, Ungarisch, Deutsch spricht, dass er aber auch wenigstens eine Sprache des Balkans beherrschen und sicher Englisch und Französisch lernen muss. Früher hätte man sich nicht vorstellen können, dass ein Historiker nicht Latein und Altgriechisch beherrscht.

Heute muss er/sie selbstverständlich auch die Möglichkeiten ausschöpfen können, die die Technologie bietet.

Welche historische Persönlichkeit würden Sie gerne treffen, wenn Sie könnten – und was würden Sie sie fragen?

Kant – ich würde ihn fragen, wie es ist mit dem krummen Holz des Menschen, oder Marx, ob er sich jemals vorgestellt hat, welche Wirkungen seine Theorien haben werden, oder Hitler und Stalin und beide würde ich fragen, wen sie als größeren Mörder betrachten, sich selbst oder den anderen. Churchill, den ich fragen würde, wieso er Mittel- und Osteuropa den Sowjets überlassen hat. Stalin würde ich auch noch fragen, ob er auch nur eines von den Millionen Opfern seines Regimes bereut. Und sicher Ceau{escu, der die Hälfte meines bisherigen Lebens geprägt hat, den ich fragen würde, ob er die vielen Lügen seiner Zeit selbst veranlasst hat oder ob diese Lügen von seinen Mitarbeitern über seinen Kopf hinweg verbreitet wurden und er selbst daran glaubte.

Sie haben im Laufe Ihrer Karriere zahlreiche Auszeichnungen entgegengenommen, darunter das Bundesverdienstkreuz, das Österreichische Ehrenkreuz, der Alexander-Tietz-Preis. Jüngst wurden Sie in Reschitza zum „Europäer des Jahres“ vom dortigen Demokratischen Forum der Banater Berglanddeutschen ernannt. Was bedeutet es, aus Ihrer Sicht, ein wahrer Europäer zu sein?

Diese Auszeichnung verleiht das Forum der Banater Berglanddeutschen erst seit zwei Jahren. Ich fühle mich geehrt, weil es eine Auszeichnung meiner Heimatregion ist, die einen tiefen europäischen Charakter hat. Und Europäer ist für mich derjenige, der sich mit der europäischen Geschichte identifiziert, von Cervantes bis Eminescu und von Kant bis Bocaccio zu Hause ist. Der weiß, dass sich Europa immer in schweren Zeiten zusammengefunden hat – wie z.B. nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453, oder wie jetzt, im Angesicht der russischen Aggression gegen die Ukraine und gegen Europa. Dem jeglicher Nationalismus (aber nicht das eigene Dorf oder die eigene Sprache) fremd ist, der weiß, dass unser Kontinent eine geistige Einheit bildet vom Alten und Neuen Testament zu Luther und Kant, von Da Vinci zu Dürer und Brâncu{i. Es ist eine multipolare Welt, in der viele Platz haben, die durch das antike jüdische, dann griechisch-römische und christliche Gedankengut und danach die Aufklärung, aber auch durch die moderne Wirtschaft und Philosophie, die blühendsten Landschaften, den höchsten Lebensstandard und die größte Freiheit und Kultur geschaffen haben (Churchill). Eine Welt, der es gelungen ist, Kompetenz und Konkurrenz mit sozialer Sicherheit zu verbinden. Ein Dorn im Auge von Diktaturen, aber auch von ultraliberalen Regimen und Politikern.

Wie sehen Sie die Zukunft der historischen Forschung in einer zunehmend digitalisierten Welt? Welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus?

Die historische Forschung kann eben, wie alle Forschungsunternehmen, enorm vom technologischen Fortschritt profitieren. Der Historiker wird aber immer noch derjenige bleiben, der nach der Arbeit des Computers sein Wissen und seine Schlussfolgerungen auflegen wird.

Vielen Dank für das Gespräch!