Zwischen Aufbruch und Absturz

Kommentar zur Präsidentschaftsstichwahl am 18. Mai

Symbolfoto: pexels.com

Wenn morgen Wahlen wären, wem würden Sie Ihre Stimme geben? – Nicușor Dan führt in einer neuen IRSOP-Umfrage.

Rumänien steht an der politischen Klippe – der Abgrund ist tiefer als gewohnt. Nach dem ersten Wahlgang am 4. Mai hat sich die politische Tektonik verschoben: Der Premier trat zurück, die Große Koalition aus PSD und PNL liegt wie ein ausgebrannter Tanker auf Sandbank. Kaum hatten die Finanzmärkte die Hochrechnungen verdaut, kletterte die Rendite zehnjähriger Staatsanleihen von 7,5 auf 8,5 Prozent; der Leu überschritt die psychologisch wichtige Marke von fünf zum Euro, Händler sprachen von einer „Mini-Flucht“ aus rumänischen Assets. Eine Umfrage vom 7. Mai sah Simion bei 54,8 Prozent – ein Vorsprung, der den Kapitalabfluss weiter befeuerte und die Nationalbank in die Defensive zwang, weitere Umfragen von Anfang dieser Woche deuteten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Mit Müh und Not ließ sich der Geldmarkt etwas beruhigen, man wartet nach dem Schock des ersten Wahlgangs und des beschämenden Rücktritts des Regierungschefs vorerst ab.

Drei Jahre PSD-PNL-Gemeinschaftsregierung sollten Stabilität bringen, doch am Ende steht ein Haushaltsloch von rund neun Prozent des BIP, EU-Gelder fließen nur tröpfelnd, die Nationalbank stemmt sich mit Rekordzinsen gegen Kapitalflucht. Während Europa in Chips und Batterien investierte, verteilten die Bukarester Koalitionäre Posten, bis die Staatsverwaltung auf 1,3 Millionen Beschäftigte anwuchs – ein wirtschaftspolitischer Schwerlastrucksack, den nun die nächsten Regierenden schleppen dürfen.

Von den 29 Milliarden Euro aus dem Wiederaufbaufonds hat Bukarest bislang erst 9,4 Milliarden abgerufen; etliche Vorhaben stecken in ministeriellen Labyrinthen, Brüssel mahnt Nachbesserungen an, weil zentrale Meilensteine unerfüllt bleiben. Gleichzeitig ist das alte Konvergenz-Narrativ brüchig geworden: Pro-Kopf-Einkommen, die auf fast 80 Prozent des EU-Durchschnitts kletterten, beruhten vor allem auf kreditfinanziertem Konsum – ein Modell, das bei Zinsen über acht Prozent bedenklich wackelt.

Dass unter dieser Koalition auch noch das Betrugs-Epos Nordis zur Farce wurde, ist mehr als Randnotiz. Luxusapartments wurden wie warme „Mici“ an Anleger verhökert, bis die Justiz das Projekt als Pyramidenspiel einstufte, Konten sperrte und selbst eine PSD-Abgeordnete in Untersuchungshaft wanderte. Die Episode wirkt wie eine grelle Fußnote, in Wahrheit ist sie Lehrstück für eine politische Klasse, die Profit privat und Risiko öffentlich hält.

Simions Siegeszug speist sich aus Provinzfrust, Social-Media-Echokammern und einem Bildungsgefälle, das längst ganz Europa verblüfft. Fast 42 Prozent der 15-Jährigen gelten laut Studien als funktionale Analphabeten – wer Texte kaum versteht, filtert Politik über Bauch statt Kopf. Der Populist liefert das passende Vokabular: „Wir holen uns das Land zurück“, „Brüssel diktiert, wir bezahlen“, „die dort oben hören uns nicht, aber wir geben es ihnen jetzt“. Der „Democracy Index 2024“ stufte Rumänien jüngst erstmals als „hybrides Regime“ herab und rangiert das Land nun zwischen Georgien und Bosnien – ein Prestigeverlust, der Populisten zusätzliches Zündholz liefert, jedoch sicherlich nicht von allzu weit hergeholt ist. Parallel ermittelt die EU-Kommission gegen TikTok wegen mutmaßlicher russischer Desinformationskampagnen rund um die annullierten Wahlen – das digitale Grundrauschen, in dem Simion punktet, ist längst Gegenstand sicherheitspolitischer Aktennotizen.

Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche bleibt offiziell neutral, ruft zu „Gebet und Besonnenheit“ auf. Manche Priester zeigen dennoch Sympathien, wenn Simion vor Ikonostasen Selfies schießt – Weihrauch vernebelt den Ruch des Radikalismus. Dagegen warnt der evangelische Bischof Reinhart Guib in Hermannstadt offen vor einer „nationalen Katastrophe“ und empfiehlt seinen Gläubigen den Kandidaten Dan. Ähnliche Empfehlungen gaben alle anderen historischen Kirchen Siebenbürgens ab, der Ungarnverband UDMR, das DFDR und auch noch Interimspräsident Ilie Bolojan, ebenfalls ein Siebenbürger. Selbst ehemalige US-Botschafter sahen sich gezwungen, an das Gewissen des rumänischen Volkes zu appellieren. In der Stadt Klausenburg/Cluj Napoca kam Nicușor Dan auf 49 Prozent der abgegebenen Stimmen, George Simion auf 17 Prozent. In Temeswar/Timișoara wählten 38 Prozent den Mathematiker, 27 Prozent den Extremisten. In Hermannstadt/Sibiu lag Nicușor Dan bei 39 Prozent, Simion bei 27. In Kronstadt/Brașov: 38 Prozent für Dan, 24 für Simion. Siebenbürgische und Banater Großstädte und natürlich Bukarest, sie ticken wohl anders.  

Dan setzt auf Mathematiker-Nüchternheit: Europa brauche Rumänien und umgekehrt, Verteidigungsbündnisse seien keine Folklore. Seine Stärke – unbestechliche Sachlichkeit – ist zugleich Schwäche in einer Wahl, die von Empörung lebt. Selbst manche wankende Liberale fragen sich, ob „Excel-Tabellen gegen Feuerwerk“ reichen. Und dann fehlt es ihm an Charisma, er wirkt eher dröge, manchmal unbeholfen und schüchtern, manchmal arrogant. Na und? Zeit für Petitessen gibt es längst nicht mehr.

Fast eine Million Auslandsrumänen gaben im ersten Wahlgang ihre Stimme ab – Rekord. Im fernen Briefkasten dominierte Dan, an den Wahltischen vor Supermärkten in München, Mailand und Madrid triumphierte Simion mit gut 60 Prozent. Drei Gründe erklären das Paradox: In erster Linie, die Logistik – die AUR-Partei charterte Busse, PSD & PNL ließen die Diaspora kampflos ziehen. In zweiter Linie, ein Revanche-Reflex – wer Rumänien aus Frust verließ, straft nun die Heimatparteien ab. In dritter Linie, die Echokammern sozialer Netzwerke: Geschlossene Gruppen servieren Simion-Liveshows in Dauerschleife, genauso wie im vorigen Herbst, damals aber mit Călin Georgescu in der Messias-Rolle. Bemerkenswert ist, dass die Wahlbehörde für das Ausland letztlich 973.129 gültige Stimmen zählte – fast ein Viertel mehr als 2019 –, während Simion in Italien und Spanien auf bis zu 73 Prozent kam.

Der ländliche Raum, wo Simion mit den Ausnahmen reicher Gemeinden im Speckgürtel wohlhabender Städte überall gewann, verschwand aus den Statistiken, aber nicht aus den Köpfen. Mental gesehen leben zu viele Bürger auf dem Dorf. So wie es damals ausgeschaut hat, als die kommunistische Diktatur die Eltern oder die Großeltern in die Stadt schickte, die selbst nur ein großes Dorf war. Die verfehlte Verstädterung der Rumänen ist sicherlich ein Kapitel an sich. Rumäniens verstädterte Mittelklasse ist eine dünne Kruste, darunter pocht das „Dorf-Selbstbewusstsein“. Die Pandemie brachte Obskurantismus, TikTok brachte Lautstärke – eine Liaison, die Populisten lieben. Die PSD & PNL hätten in Schulen, Bibliotheken, Lehrkräfte investieren können; stattdessen rüsteten sie Bürgermeisterämter mit neuen SUVs aus. Wer sich heute über Fake-News-Gläubige wundert, sollte gestern in Klassenräume investiert haben.

Dennoch griff diesmal kein einziges der altbewährten Lockmittel der PSD-PNL-Regierung: Weder die ab September 2024 umgesetzte Rentenerhöhung noch Einkaufsgutscheine, Heizkostenzuschüsse oder Null-Tarif-Busse konnten Begeisterung entfachen. Ironischerweise geht es vielen Haushalten objektiv besser als je zuvor – doch selbst prall gefüllte Beuteltaschen aus dem Staatshaushalt wirkten wie Bonbons nach einem Zuckerschock. Ebenfalls verglüht ist die Autorität der einst übermächtigen „baroni locali“: Parteichef Marcel Ciolacu rügte hinter verschlossenen Türen die Bürgermeister und Kreisratschefs, weil sie „nicht genug für Crin Antonescu gezogen“ hätten. Tatsächlich zuckten viele Landbewohner nur noch mit den Schultern und wählten – wie schon bei den annullierten Wahlen vom 24. November 2024 – in überwältigender Mehrheit jenen, den sie als Erlöser betrachteten. Damals Georgescu, jetzt dessen Adlatus. Entscheidend war weniger das Portemonnaie als ein Gemisch aus Ideologie, Identität und Trotz: „Wir gegen sie“, „Daker und Orthodoxe gegen Brüssel, Schwule und Lesben“ – so lautete der Soundtrack in Dorfkneipen, Telegram-Kanälen und sonntäglichen Kirchgängen. Wirtschaftliche Kennziffern spielten eine Statistenrolle; das Skript schrieb das Bedürfnis nach Rache an einem System, das trotz gestiegener Einkommen als bevormundend und vor allem als faul und korrupt empfunden wird.

Gewinnt Simion, drohen EU-Mittel à la carte, NATO-Sorgenfalten und ein Leu, der nur noch Richtung Süden wandert. Gewinnt Dan, braucht er im Parlament dieselben Parteien, die eben abgestraft wurden – eine Operation am offenen Herzen mit denselben Chirurgen. Die Wirtschaftskrise wartet ohnehin: Defizite müssen runter, Investoren wollen Garantien, der IWF heizt schon mal den Rechner an. Ökonomen warnen bereits vor einem fiskalischen Harakiri: Sollte Simion seine Steuer- und Ausgabenversprechen ohne Gegenfinanzierung durchziehen, könnte das Rating unter Investment Grade fallen – und die Anleiherenditen noch weiter nach oben schnellen. Aber der Mann hat begonnen, sich selbst zu zerlegen, was eigentlich ein gutes Omen ist. Erst hieß es, die 35.000-Euro-Häuser seien reines Marketing; dann, dass 500.000 Staatsbedienstete entlassen würden. Hinzu kam sein „Glückwunsch“ an die Amerikaner, Rumänien aus dem Visa-Waiver-Programm zu streichen. Und am Ende folgte die Drohung an alle Andersdenkenden und Anderswählenden – an all jene, die Simion als Wirrköpfe, Spinner oder Irrationalen bezeichnet hat und mit denen er angeblich ab dem 19. Mai fertig werden will.

„Nicht alles ist verhandelbar“, hatte ich einen Beitrag von voriger Woche in dieser Zeitung betitelt. Tatsächlich ist Rumäniens Westbindung kein Picknick, sondern der Boden, auf dem das Land seit dem Beginn der Beitrittsgespräche vor 25 Jahren wächst: das BIP hat sich verfünffacht, Freizügigkeit brachte Millionen Jobs, Sicherheitsgarantien schützen die Donau-Flanke. Wer jetzt „Souveränität“ als Kündigungsschreiben an Brüssel missversteht, tauscht reale Fortschritte gegen symbolische Fahnenmeere.

Die Stichwahl entscheidet nicht nur, ob der Cotroceni-Palast offene Südost-Flanke Europas bleibt oder zur Schaltzentrale einer Trotz-Republik mutiert. Sie entscheidet, ob Rumänien weiter Teil jener europäischen Baustelle bleibt, auf der es immerhin schon das Fundament für Wohlstand gelegt hat – oder ob es den Bauhelm abwirft und ruinöse Folklore feiert. Die Wähler haben das letzte Wort. Möge es kein Urschrei bleiben, sondern ein Satz mit Subjekt, Prädikat – und Zukunft.


Neue IRSOP-Umfrage: Nicușor Dan führt!

Laut der jüngsten Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts IRSOP vom 15. Mai liegt der parteifreie Präsidentschaftskandidat mit 52 Prozent in Führung vor seinem Gegenkandidaten George Simion (AUR) mit 48 Prozent und könnte daher die Stichwahl am Sonntag gewinnen.

51 Prozent der befragten Teilnehmer gaben an, das Tandem Nicușor Dan als Präsident und Ilie Bolojan als Premierminister zu bevorzugen, während sich 42 Prozent für George Simion als Staatschef mit Călin Georgescu als Regierungschef aussprachen.

Nicușor Dan lag in der Meinung der Befragten zu folgenden Aussagen mit folgenden Prozentpunkten vor Simion: Kooperation mit der Parlamentsmehrheit ohne Skandal: Dan 59% (Simion 25%), Stärkung der Allianz mit NATO und EU: Dan 54% (Simion 31%), Steigerung des Vertrauens des Westens in Rumänien: Dan 52% (Simion 37%), dass der Staat Bürger unterstützt und nicht die korrupte Klasse: Dan 47% (Simion: 38%), ist in der Lage, das Land aus der Wirtschaftskrise zu führen: Dan 47% (Simion 35%), mehr Investitionen in die Armee: Dan 45% (Simion 35%). Die einzige Aussagen, in der Simion führt, ist die Verbesserung der Beziehungen zu Russland: Simion 61% (Dan 12%)

Mit 951 Teilnehmern über 18 gilt die Umfrage (10.-13. Mai) als repräsentativ mit 95% Glaubwürdigkeit und einer Fehlermarge von 3,2%.