Es war schon immer so in der Begastadt, sagen die Alttemeswarer: Alle Welt redet vom Stadtzentrum mit dem Jugendstil-Opernplatz, dem Korso (oder gar nur von Oper und Kathedrale). Nun, bei Gelegenheit auch noch etwas vom ehrwürdigen Domplatz. „Das ist Klein-Wien, das Temeswar, das Sie sehen müssen“. So kriegen es auch Tausende Touristen aufgetischt. Ja, woher kommt’s? Selbst Diktator Ceaușescu ging es bloß darum, was es auch kostete, den Opernplatz zu einem typischen Paradeplatz für seine monströsen Volksversammlungen zu machen. Das Alt-Temeswar, diese ganze fremdländische Angelegenheit, die kaiserlich-königliche Geschichte und Kultur war ihm ein unendliches Gräuel. Selbst die neuen Temeswarer Stadtväter, die Bürgermeister nach der Wende, scheinen bisher immer nur ein Auge für die Stadtmitte zu haben, allein um das Stadtzentrum besorgt zu tun. Dabei ist die Stadt ringsum, in alle Himmelsrichtungen gedehnt, mit seinen historischen Stadtvierteln mit deren Geschichte und Geschichten, dem teilweise noch besser erhaltenen wertvollen Bauerbe mindestens so interessant, teilweise gar interessanter. Doch leider liegt das alles viel zu weit von dem Parade- und Vorzeigeteil der Begastadt.
Die Stadt am Begakanal, heute drittgrößte Großstadt Rumäniens, wurde zu der derzeitigen Metropole, nicht durch ihre Festung und auch nicht durch die entfestigte Innenstadt, kann man heute ruhigen Gewissens behaupten, sondern eher durch ihre historischen Stadtviertel Elisabethstadt, Fabrikstadt und Josefstadt und deren rasante Entwicklung in allen Bereichen vor allem von der Mitte des 19. Jahrhunderts an.
Echtes Fabrikhofbier: Vom „Türkischen Kaiser“ bis zur „Königin von England“
Den Beleg dafür erbringt zur Genüge das geschichtsträchtige Stadtviertel Fabrikstadt, schon immer so dynamisch wie kein anderer Stadtteil: Den früheren Vorort vor der Festung, eigentlich vier große Inseln (die kleinste war die Pfarrinsel), zwischen einem Kanalgewirr, mit Brücken (schon 1716 waren auf Landkarten unzählige Brücken eingezeichnet) und Stegen, Schleppkähnen, sieben Wassermühlen, den Wiesen (Seilerwiese, Brauhauswiese), Manufakturen, was Temeswar noch vor dem Beinamen Klein-Wien den von Klein-Venedig eingebracht hatte, kann man sich heute nur schwer vorstellen. Das ganze vor Jahrhunderten pulsierende Leben dieses 1718-1719 gegründeten Viertels ist verschwunden, Sümpfe, Wiesen, Wassermühlen und Kähne. Die unzähligen Fabriken sowieso. Von den malerischen Brücken (um 1900 sollen es in der Stadt noch 71 Brücken gegeben haben, darunter auch in diesem Viertel z.B. die Napoleon-Brücke oder die Brücke zum Galgen) sind heute nur mehr drei da: die Turbinen- oder Mihai-Viteazul-Brücke, die Heuplatz- oder Dacilor-Brücke und die Neptun- oder Decebal-Brücke. Wie wichtig dieses Industrieviertel für die Stadt war zeigt Folgendes: Um 1870 lebten in Temeswar von insgesamt 32.223 Einwohner , die Hälfte, also 15.995 Einwohner in der Fabrikstadt.
Kraft und Leben spendete die Fabrikstadt (erst 1782 offiziell so genannt) der ganzen Stadt erstens durch ihre Fabriken und Handwerkerzünfte: Es waren dies u.a. die Bierbrauerei (1718, älteste Fabrik der Stadt), Kunstmühle und sieben Wassermühlen, drei Spiritusfabriken, Tuchfabrik, Tabakfabrik, Ölfabrik, Sodafabrik, Schuhfabrik „Turul“, Ziegelfabrik Josef Kunz, Seifenfabrik, Eisengießerei Anheuer, Wagenfabrik Kardos, das Städtische Elektrizitätswerk, Wollindustrie, Textilfabrik, Strick- und Weberei, das Wasserkraftwerk. Nicht zu vergessen das blühende Gewerbe, die Geschäfte, die Hotels und Gaststätten. Einheimische und Gäste strömten in die Gaststätten wie „Zum Bären“, „Pfau“, „Zum Türkischen Kaiser“, „Zur Königin von England“. In allen „Häusern“ stand das frische Fabrikhofsbier auf den Tischen. Die Fabrikstadt bestand am Anfang aus mehreren Teilen: die rumänische Siedlung Vlasca Mare, die serbische „neue Ratzenstadt“, die deutsche Siedlung Renzersdorf um die Bierfabrik, die „Neue Welt“ mit den Neuen Banatern (Zigeuner). Es gab hier ein Vielvölker- und Sprachengemisch sondergleichen bzw. Straßen mit Tschechen, Ungarn, Armeniern, Juden, Griechen, Italienern und Franzosen.
Kein Wunder, dass es im Volksmund lange Zeit hieß: Alles Gute kommt aus der Fabrik, das heißt das viele Wasser sowieso, die Bega, die elektrische Tram und das gute, frische Bier, sogar die Sonne ging täglich immer in der Fabrikstadt (im Osten) auf.
Kaiserliche und andere berühmte Österreicher
Diese Wunderwelt zwischen den unzähligen Bega-Armen (etwa 150 Jahre blieb das so bis zur Bega-Regulierung ) haben auch etliche berühmte Persönlichkeiten des Kaiserreichs gesehen: Es wurden nämlich drei Besuche des Königs Franz Josef I, 1872, 1879 und 1892 in Temeswar verzeichnet. Der König besuchte am 17. März 1879 auch die Fabrikstadt und die von Frau J. Fischl im „Weißen Lamm“ eingerichtete Suppenanstalt zur Verköstigung der zahlreichen Opfer der großen Überschwemmung von Szeged. Der dritte Besuch sollte ein historischer für die Begastadt werden: Auf diesen Besuch erfolgte der Entschluss zur Endfestigung Temeswars, zur Abtragung der Festungsmauern, der nicht nur die Befreiung der Stadt vom Druck der militärischen Obrigkeit sondern auch Platz für die Bebauung des Stadtgeländes, für die wirtschaftliche und städtebauliche Entwicklung der Stadt, den Weg zur modernen europäischen Großstadt brachte. Für die Fabrikstadt erfolgte bis 1910 ein nie da gewesenes Kapitel, die Bebauung an allen Ecken und Enden in allen Altgassen des Stadtviertels.
Schon Jahre früher, 1847, gab hier kein echter österreichischer König aber immerhin ein Wiener Walzerkönig bzw. Johann Strauss Sohn mit seinem Orchester im Hof der Bierbrauerei sein erstes Konzert außerhalb Wiens. Für Temeswar und für das ganze Banat war das ein epochales Ereignis. Erst 2012 ehrte die Stadt Johann Strauss Sohn symbolisch mit einem 20-Zentimeter-Stern auf der Musikerallee vor der Banater Philharmonie neben Liszt, Bartok und Enescu. Etwas spät, aber dann doch! Nun, die Temeswarer haben den Strauss sowieso lieb. Auch ohne Stern. Wie ihren eigenen Strauss. Dafür spricht der große Andrang beim beliebten Freiluft- Opern- und Operettenfestival, jedes Jahr Ende August im Rosengarten.
An eine andere Berühmtheit und seine starke Beziehung zur Fabrikstadt, an keinen anderen als den ersten Banater Gouverneur Claudius Florimund Graf Mercy sei hier auch erinnert: Den braven Feldmarschall und treuen Kampfgenossen von Prinz Eugen im Türkenkrieg, Graf Mercy, zog es oft und liebend gern in die Fabrikstadt bzw. in den zu seinem eigenen Jagdrevier umgewandelten Jagdwald. Hier wurde zudem für Mercy 1732 ein Jagdschloss gebaut. Schon 1860 wurde dieses und der Jagdwald als öffentliches Jagdrevier freigegeben. Seit 1885 besteht hier eine Forstschule, heute ein Forstlyzeum.
Zu den berühmtesten wohl aber auch geheimnisvollsten Bewohner der Fabrikstadt muss man zweifellos einen echten Habsburger, den österreichischen Erzherzog Johann Salvator zählen: Dieser wurde 1873 für kurze Zeit Eigentümer des palastartigen zweistöckigen Hauses Kunz (erbaut 1868 von dem Ziegeleibesitzer Josef Kunz) in der damaligen Andrassy-Straße. Der Erzherzog und Oberstleutnant, auch Johann Orth oder „Gianni“ genannt, verschwand 1910 auf einer Seereise, der Bau blieb bis heute als Haus des Erzherzogs eine noble Adresse im Stadtviertel.