Links und rechts stehen Pferde in den Boxen und ein Geruch nach Stall dringt einem in die Nasenlöcher. Passiert man den Pferdestall, kommt man an einem umzäunten Gelände an, wo ein braunes Pferd mit blonder Mähne von einem sechsjährigen Mädchen mit einem Stück Karotte verwöhnt wird. Das Mädchen hat ein Lächeln im Gesicht, das jedoch einem ernsten Ausdruck weicht, sobald der Vater die Kleine an der Hand nimmt und sagt: „Komm Melody, wir müssen jetzt gehen“. Der Abschied von Api, ihrem Reitpartner für eine halbe Stunde in der Woche, fällt Melody jedes Mal schwer. Die Tränen kann das Mädchen kaum unterdrücken.
Melody ist eines der Kinder mit Behinderung, die Woche für Woche mit ihren Eltern nach Izvin fahren, um zu reiten und Spaß zu haben. Etwa so betrachten die jungen Patienten die halbe Stunde Therapie, der sie sich am Pferdehof Izvin, etwa 15 Kilometer von Temeswar/Timişoara entfernt, unterziehen müssen. Dort wartet Erika Kempf (26) auf sie, die ein spezielles Therapieprogramm für die Kleinen vorbereitet hat. Denn Erika ist keine Reitlehrerin, sondern eine ausgebildete Therapeutin. Sie ist eine der wenigen in Rumänien, die einen Hippotherapie-Kurs belegt und aus der Liebe zu den Pferden einen Beruf gemacht haben. In diesem Jahr schließt die ausgebildete Physiotherapeutin auch ihr Studium zum Allgemeinarzt ab.
„Mit Hilfe der Hippotherapie behandelt man Patienten mit verschiedenen Behinderungen“, erklärt Erika Kempf, die sich in Mailand, Italien, mehrere Wochen lang ausbilden ließ. Das sogenannte therapeutische Reiten spricht sowohl den Körper, als auch die Seele des Menschen an und ist weitmehr als eine sportliche Freizeitaktivität. Das Therapiepferd wird dazu verwendet, um dreidimensionale Schwingungen auf den Menschen zu übertragen. Diese Bewegung des Pferdes ist dem Gang des Menschen sehr ähnlich. Hüft- und Rückenmuskulatur der reitenden Patienten werden dadurch gestärkt, die Wirbelsäule wird beweglicher, Gleichgewicht und Koordination werden geschult, die Atmung verbessert sich. Darüber hinaus werden auch Selbstwertgefühl, Kontaktverhalten, Aufmerksamkeit oder Konzentration positiv beeinflusst. „Die Art der Übungen hängt sehr stark von der Pathologie ab. Ich behandle einen Patienten mit Tetraprese völlig anders als einen Patienten mit Autismus“, erklärt Erika Kempf.
Es handelt sich also nicht nur um Patienten mit neuromotorischen, sondern auch um solche mit psychomotorischen und psychiatrischen Problemen, die diese Art der Therapie in Anspruch nehmen können. „Mit Hilfe des Pferdes kann ich vielleicht Menschen helfen, die noch nie richtig gegangen sind. Ich kann ihnen praktisch das Gefühl vermitteln, wie es ist, auf den eigenen Beinen zu ´gehen´, auch wenn ich dafür vier Beine verwende“, erklärt Erika Kempf, wie die Reittherapie funktioniert.
Langsam hebt Patrick (4) einen Fuß nach dem anderen und besteigt die Holztreppen, die unmittelbar neben dem Pferd stehen. Über eine speziell angefertigte Aufsteigehilfe gelangt der Junge auf den Pferderücken. Therapeutin Erika Kempf hält dabei seine Hand. Liebevoll streichelt der Junge Apis Mähne und freut sich offensichtlich, wenn das Pferd – von einem Angestellten des Pferdehofs Izvin geführt – langsam losgeht.
Währenddessen spricht Erika mit dem Jungen und führt mit ihm spezielle Übungen durch. Patrick, der halbseitig gelähmt ist und sein rechtes Bein nur schwer begewen kann, muss reiten, ohne sich festzuhalten. Ein paar bunte Plastikringe, die Erika der Reihe nach auf seine rechte Fußspitze setzt, soll er einfach wieder aufheben, indem er sich rechts bückt. Die Übungen sind vielfältig und nicht immer leicht durchzuführen, doch dem Jungen macht die halbstündige Therapie Spaß, denn das Reiten dient auch als Motivation. Währenddessen sehen ihm die Mama und seine zweijährige Schwester zu. „Wir sind uns bewusst, dass seine Behinderung nicht geheilt werden kann, aber seine Gehschwierigkeiten könnten sich leicht verbessern“, sagt Patricks Mutter, Adriana Tilihoi, für die sich die wöchentliche Fahrt von Darowa bei Lugosch nach Izvin lohnt. Hauptsache, das Kind ist glücklich.
„Ich habe einige Monate gebraucht, um das Tier so zu zähmen, damit ich es für therapeutische Zwecke einsetzen kann“, sagt Erika Kempf. Zusammen mit ihrem Ehemann Christian trainierte sie den Ardenner Api so, dass er ausgesprochen zahm ist, nicht erschreckt, wenn unbekannte Objekte um ihn herumfliegen oder nicht gleich losrennt, wenn ihm der eine oder andere Patient mit den Beinen Druck gibt. „Man kann diese Arbeit machen, nur wenn man gern mit Menschen arbeitet.
Meine Patienten sind Kinder mit Behinderung, die oftmals von der Gesellschaft ausgegrenzt werden“, sagt Erika Kempf. „Ich finde es unfair, dass normale Kinder jedwelche Sportart ausüben können und für diese Kinder nichts mehr übrig bleibt“, fügt sie hinzu.
Dass ihr die Arbeit mit den Kleinen Spaß macht, ist nicht zu übersehen. Erika Kempf ist stets freundlich, wenn sie mit ihren Patienten spricht, und hört aufmerksam zu, wenn die Kleinen etwas zu erzählen haben. Ein ganzes Buch mit lustigen Kindergeschichten könnte sie schon niederschreiben, doch das tut sie nicht, denn Patientengeheimnis bleibt Patientengeheimnis. In Zukunft könnte sich die junge Therapeutin vorstellen, ein weiteres Pferd zu trainieren, falls sich die Zahl der Patienten erhöht. Momentan sind es sechs Kinder, die diese Therapieart in Anspruch nehmen. „Auch der längste Weg beginnt mit einem kleinen Schritt“, schließt Erika Kempf.