Die Pandemie hat nun einiges mehr aufgedeckt, doch das System “Tönnies” zeigt, dass es viele Baustellen gibt.
Frischfleisch – darum geht es in dem gnadenlosen Verdrängungswettbewerb, den sich die zehn größten fleischverarbeitenden Betriebe in Deutschland leisten, mit Clemens Tönnies als unbestrittenem Marktführer. Das System ist knallhart kalkuliert und in Hinblick auf Profit perfektioniert. Kraftfutter aus Übersee, dessen Anbau dort zu klimaschädlichen Abholzungen führt, tierquälerische Haltung auf engstem Raum oder im Kastenstand als Norm, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und Verantwortungsdiffusion durch Werkverträge. Warum macht Tönnies das? Weil er es kann. All das ist möglich durch ein Zusammenspiel von Bauernverband, fleischverarbeitender Industrie, Discounterökonomie, Politik und Konsumenten. Und bei der Schuldfrage an dem Schlamassel sind sich alle einig: „Der Verbraucher hat die Wahl!“ Er will es eigentlich so. Er will doch offenbar keinesfalls mehr als vier Euro pro Kilo Fleisch berappen. Dabei ist alles bloß ein Abschieben der Verantwortung auf den Verbraucher. Dass „alles Wirtschaften dem Gemeinwohl dient“, wie die bayrische Verfassung es beispielhaft vorsieht, ist ein hohes, wahrscheinlich unerreichbares Ziel. Trotzdem muss die Politik zumindest den größten Schaden vom Volke abwenden, das ist nicht die Aufgabe des Verbrauchers. Und das System Tönnies ist zerstörerisch – für fast alle Beteiligten.
Wertschöpfungskette: lang und verworren
Frischfleisch braucht Futter: Die Pläne von Brasiliens Präsident Bolsonaro für eine noch intensivere wirtschaftliche Verwertung des Regenwaldes finden - gewollt oder ungewollt - Unterstützung bei Europas Befürwortern des Mercosur-Abkommens, denn die angebliche „Umweltverträglichkeit“, dürfte das Papier nicht wert sein, auf dem sie garantiert werden soll. Das überschüssige Futter hinterlässt Gülle, die die Böden nicht mehr aufnehmen können. Seit Jahren prangert die EU die Gefährdung des Grundwassers durch diese Rückstände an. Deutschland zahlt deshalb hohe Strafen, das trifft letztendlich alle Steuerzahler, selbst die Veganer.
Aus dem Westen kommt das Futter, aus dem Osten die Arbeitskraft. Männer Osteuropas werden mit Werkverträgen geknebelt, die Arbeitszeiten und Bedingungen einseitig vorgeben und das Arbeitsrecht den Usancen der Herkunftsländer, wenn nicht der Phantasie der Subunternehmer überlassen. Mindestlohn? Vielleicht, aber man beachte die Abzüge für Vermittlung, Wohnraum, Arbeitsmaterial … Da sind dem Einfallsreichtum kaum Grenzen gesetzt. Die Lebensbedingungen dieser Menschen sind nicht besser als die der „Gastarbeiter“ in den 1960er Jahren. Nur die Rechtlosigkeit ist größer, denn es handelt sich nicht um Arbeitnehmer, sondern um arbeitsrechtliche Parallelwelten, um nicht von Rechtlosigkeit zu sprechen. Covid 19 hat sich das Milieu gesucht hat, in dem es am besten gedeiht: in bedrückender Enge, Armut und Ausbeutung. Und doch sind die Zustände in der Fima des Patriarchen Tönnies nur ein Symptom für den im Westen alltäglichen Umgang mit den Menschen des globalen Südens.
Nicht nur die Männer (und die wenigen Frauen) in der Fleischverarbeitung trifft es: „Frischfleisch“ – so werden auch die Frauen, die regelmäßig an Deutschlands Bordelle geliefert werden, in der Sprache des Zuhälter- und Bordellbetreibermilieus genannt. Auch sie kommen zumeist aus den ärmsten Regionen Osteuropas, werden unter falschen Versprechungen hergelockt und mit Zwang, Gewalt und Drogen gefügig gemacht. Alle wissen das, kaum einer schaut genau hin, und solange es keine Anzeigen gibt, die aus der organisierten Kriminalität heraus ohnehin nicht zu erwarten sind, ist auch die Polizei machtlos. Statt die systematischen Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, halten nicht wenige PolitikerInnen sogar am Mythos der angeblichen „Selbstbestimmung“ fest, leugnen die Systematik des Menschenhandels in dem Milliardenbusiness.
Billigfleisch teuer bezahlt
Fleisch muss sich doch jeder leisten können!? Der Harzt 4 Empfänger wird immer wieder gern bemüht, wenn es darum geht, die Wirtschaftspraktiken der Discounterökonomie gegen einen vermeintlichen „Bio-Snobismus“ der Besserverdienenden in Stellung zu bringen. Der vom Sozialtransfer Abhängige müsse sich sein Fleisch schließlich auch noch leisten können … Hier werden Ausbeutung und Tierleid im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ hingenommen. Die billigste Art, eine Familie satt zu bekommen, ist mit viel Fleisch und Süßem. Alle wissen: Langfristig schwächt dieser Ernährungsstil Fitness und Gesundheit, auch die Lernfähigkeit, behindert so vielleicht sogar beim sozialen Aufstieg und führt selbst bei Corvid 19 zu schwereren Verläufen. Die Folgekosten von ernährungsbedingten Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden von der Allgemeinheit getragen. Würden sie eingepreist, wäre das Schnitzel unbezahlbar.
Nicht nur in den reichen Ländern Westeuropas sind die sozialen Kosten des ungezügelten Konsums hoch. Auch die Märkte benachteiligter Regionen Osteuropas leiden unter der Konkurrenz aus Westeuropa, weil man hier fast unschlagbar günstig halten, schlachten und zerlegen kann und sich auch deshalb Tierhaltung und Vermarktung für manche Kleinbauern Osteuropas nicht mehr lohnt. Hinzu kommt der Druck von Investoren, die Land kaufen wollen, um in großem Stil an EU-Subventionen zu gelangen. Für seine Kinder sieht da manche Bauersfamilie nur noch die Perspektive Europa…
Die wahren Kosten des Billigfleisches werden externalisiert: Was Tönnies und seine Landwirte bei der „Produktion“ sparen, was den Konsumenten ein paar Euro beim Grillfleisch einspart, dafür bezahlen die Menschen in den Ländern des globalen Südens, aber letztendlich alle: mit der Gesundheit, durch Umweltzerstörung, Klimawandel und jetzt auch, als kleinen Vorgeschmack auf die kommenden Verwerfungen: durch Corona, das Kinder in Gütersloh zurück in die Häuser zwingt und Eltern - statt endlich wieder ins Büro - an den Rand der Verzweiflung bringt. Es ist kein Unfall, auch kein Zufall, es ist eine globale Zerstörung mit System, was in der Fleischindustrie mit Mensch und Tier gemacht wird.
Ein Konzept für Europa ist nun gefragt
Billigfleisch oder artgerecht? Der Verbraucher hat die Wahl! Nein, hat er nicht! Ein paar Zentimeter mehr Tierwohl oder auch nicht, die Haltungskennzeichnungen sind vielleicht ein erster kleiner Schritt, aber wohl eher Augenwischerei als Ansatz zur Lösung. Notwendig ist ein generelles Verbot aller quälerischen Haltungsformen, mit genügend Platz, Frischluft und Auslauf für Tiere. Und für die Menschen eine würdige Unterbringung, geregelte Arbeitszeiten, Aufklärung und Betreuung in arbeitsrechtlicher Hinsicht, Sprach- und Integrationskurse für alle ArbeitnehmerInnen. Dem Verbraucher muss die Wahl genommen werden, von der Not der Menschen und Tiere zu profitieren – oder generös auf dieses Privileg zu „verzichten“. Nicht die Kaufkraft, sondern die Würde des Menschen und der Respekt vor dem Leben müssen die Grenzen der individuellen Freiheit maßgeblich bestimmen – und zwar per Gesetzesnorm mit entsprechenden Verordnungen und systematischen Kontrollen. Sonst hat immer der den Wettbewerbsvorteil, der Gesetze unterläuft und Regeln bricht.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in ihrer Rede kürzlich wieder das Versprechen von Freiheit und Gleichheit erwähnt, das sie als Bürgerin der DDR mit der Idee Europas verband. Aus westlicher Perspektive ist Europa voller Möglichkeiten, Optionen für die eigene Entwicklung und die der gut ausgebildeten Kinder. Das Projekt Europa wird glaubwürdiger, wenn es mit echter Chancengleichheit für alle Regionen verbunden ist. Dann überwinden vielleicht auch anderorts Bürger ihren Überdruss an Europa, dem man im Westen mit Verwunderung und Unverständnis begegnet, es fast schon als „Undankbarkeit“ den Nettozahlern gegenüber empfindet. So viel Transferleistungen von sparsamen Ländern des Nordens- und trotzdem entstehen allerorten nationalistische Bewegungen, surfen Politiker erfolgreich auf der Welle der nationalen Emotionen? Wie kann das sein? Aber solange mitten in Europa in den reichsten Ländern Arbeits- und Lebensverhältnisse geduldet werden, die an krasse Ausbeutung erinnern, wird man im Westen kein weniger begünstigtes Land Osteuropas für das westliche Modell von „Freiheit und Gleichheit“ begeistern können. Dringende Antworten sind notwendig, was die Grenzen betrifft, die manchen Freiheiten zu setzen sind, um so zur Kernfrage zu gelangen: Welches Europa wollen wir?
Silvia Reckermann
Die Autorin ist Vorstand des Nord Süd Forums München, eines Netzwerks von 60 Organisationen im Eine Welt Bereich. Schwerpunkte: Ernährungssouveränität, Agrarpolitik und Handelsbeziehungen, Genderfragen.
Bearbeitung für die Banater Zeitung: Siegfried Thiel