Balthasar Waitz aus Temeswar und Anton Bleiziffer aus Freiburg, die beiden Protagonisten des literarisch-musikalischen Abends am 30. November im Donauschwäbischen Zentralmuseum Ulm (DZM), sind ein Jahrgang, sie haben zur selben Zeit in Temeswar studiert und stammen aus Banater Gemeinden, die jeweils einen Nobelpreisträger hervorgebracht haben – aus Nitzkydorf, dem Geburtsort von Herta Müller, beziehungsweise aus Sanktanna, dem Ort, wo Stefan Hell aufgewachsen ist. Und noch eines ist beiden gemeinsam: Sie haben im Kindesalter das Akkordeonspielen gelernt. Während das Musizieren bei Balthasar Waitz eine Episode blieb, eröffnete es Anton Bleiziffer den Zugang zur Welt der Musik.
Anknüpfungspunkt an diesem Abend war das Akkordeon oder, genauer gesagt, ein rotes Akkordeon, das beide als Kind geschenkt bekamen. Es inspirierte Waitz zu einem Kapitel seines neuesten Buches und gab diesem den Titel: „Das rote Akkordeon“. Passend dazu, sozusagen als praktisch-anschaulicher Part, begleitete Bleiziffer die Veranstaltung auf seinem sechzig Jahre alten roten Hohner-Akkordeon.
Ulm war die zweite Station der Lesereise von Balthasar Waitz. Am Abend davor hatte er seinen neuen Roman im Institut für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas (IKGS) an der Ludwig-Maximilians-Universität München vorgestellt. Veranstaltet wurde die Autorenlesung vom Deutschen Kulturforum östliches Europa Potsdam in Zusammenarbeit mit dem IKGS und dem DZM. Die aus Klausenburg stammende Leiterin des Länderreferats Südosteuropa beim Deutschen Kulturforum östliches Europa, Dr. Ingeborg Szöllösi, moderierte die beiden Abende. Auffallend dabei ihr breites Hintergrundwissen, ihre Sachkenntnis in Bezug auf das Werk des Gastes aus Rumänien und die locker-charmante Art, mit der sie durch das Programm führte.
Begrüßt wurden die drei Mitwirkenden sowie die zahlreich erschienenen Gäste von Christian Glass, dem Direktor des Donauschwäbischen Zentralmuseums. Im Publikum saßen Landsleute und Freunde der Vortragenden, darunter die Nitzkydorfer HOG-Vorsitzende Dr. Hella Gerber, zwei ehemalige NBZ-Redaktionskollegen von Balthasar Waitz (Luzian Geier und Helmut Heimann), die Lyrikerin und bildende Künstlerin Ilse Hehn, der Schriftsteller Johann Enderle, die Kulturreferentin für Südosteuropa am DZM, Dr. Swantje Volkmann, sowie die Betreuerin des Kultur- und Dokumentationszentrums der Banater Schwaben in Ulm, Halrun Reinholz.
Dass Musik Grenzen überwindet und Menschen verbindet, veranschaulichte Anton Bleiziffer zum Auftakt, indem er als Begrüßungslied die Eurovisionsmelodie, die Europahymne, den Konzertwalzer „Donauwellen“ von Josef Ivanovics sowie das in 5000 Varianten weltweit verbreitete Lied „La Paloma“ anspielte.
Letzteres findet auch in Balthasar Waitz’ Roman Erwähnung. Aus dem Kapitel „Das Akkordeon“ las der Autor einige Auszüge, nachdem er erläutert hatte, dass das Akkordeon „zu den Banater Schwaben wie die Blechmusik gehörte und auch passte“, dass es in den 1960er Jahren ein Statussymbol gewesen sei. Die Zuhörer erfuhren unter anderem, wie der Ich-Erzähler in den Besitz des Akkordeons kam, dass sein Vater in der Stadt für „eine Menge Geld“ gekauft hatte, wie der Junge Privatunterricht bei seinem Turnlehrer nehmen musste, wie wenig beeindruckt die nichtmusikalische Familie von seinem Akkordeonspiel war – mit einer Ausnahme: „Nur meine Großmutter liebte dieses Instrument wirklich. Die Musik und auch mich. Sie schleppte ständig den schweren Kasten mit dem Akkordeon durch das halbe Dorf. Das Akkordeon wird sie noch umbringen. Sie sagte nichts, doch ich wusste, was sie dachte: Das ist was, wofür es sich zu sterben lohnt. Darum spielte ich oft ‚La Paloma‘. Nur für sie allein. Mit dem richtigen Gefühl.“
Ingeborg Szöllösi wies darauf hin, dass der Autor in seinem Roman „Das rote Akkordeon“ – wie auch schon in seinem 2012 erschienenen Prosaband „Krähensommer und andere Geschichten aus dem Hinterland“ – den Familienalltag und das dörfliche Geschehen aus der Perspektive eines Kindes erzählt. Sie zitierte den Literaturwissenschaftler Walter Engel, der in Bezug auf Waitz’ Erzählduktus vom „erzählenden Simplicissimus“ sprach, dem noch unwissenden und trotzdem etwas altklugen Kind, das mit seiner Spitzfindigkeit und scharfen Beobachtungsgabe die Welt der Erwachsenen durchschaut. Das verleihe dem Erzählstil Originalität und Authentizität, so die Moderatorin.
„Das Dorf hat ja davon gelebt“, erläutert der Autor,“ das jeder was zu erzählen hatte. Und wer nichts zu erzählen hatte, hörte zu und erzählte dann, was er von dem anderen gehört hatte. Das ganze Dorf schreibt also an diesen Texten mit“.
Im zweiten Musikblock machte Anton Bleiziffer das Publikum mit dem Banater Liedgut vertraut und brachte meist Bekanntes zu Gehör.
Die anschließende Diskussionsrunde drehte sich u.a. um den Heimatbegriff. Er sei in Freiburg angekommen und fühle sich hier angenommen und daheim, so Bleiziffer. Das schließe aber nicht aus, dass er sich seiner „Herkunftsheimat“ verbunden fühlt .Heimat sei „eine ganz subjektive Angelegenheit, die jeder mit sich selbst auszufechten hat“, befand Balthasar Waitz, der sich als Dorfkind betrachte, das es in die Stadt verschlagen hat.
Mit Liedern, die Heimatgefühle wecken, darunter auch eine Eigenvertonung des Lenau-Gedichts „Einst und jetzt“, beschloss Anton Bleiziffer den gelungenen Abend, bei dem Literatur und Musik so wunderbar miteinander harmonierten.