Erfrischend und erfreulich die Initiative des DSTT, mit seiner neuesten Inszenierung "Elektra" nach den antiken Theaterautoren Euripides und Aischylos kurz die vielbespielte Szene der modernen, postmodernen, der Gegenwartsdramatik zu verlassen und das Individuum, den Menschen als solcher mit all seinen Leidenschaften in den Vordergrund zur rücken. Wie findet man heute in der vergesellschafteten, vereinheitlichten, vernetzten und globalisierten Welt noch den Weg zum Einzelmenschen, zu den Tiefen seiner Gefühle, Instinkte und Gedanken? Der mythologische Stoff um Elektra, der Tochter des Königs von Mykene, ist da schon ein guter Wegweiser: Die großen Gefühle wie Liebe, Hass, Furcht, Mordlust und Todesangst, die Frage nach Schuld oder Unschuld, Rache und Vergeltung oder Liebe, Mitleid und Vergebung- alles bringt diese Inszenierung der antiken Tragödie (die griechischen antiken Autoren betrachteten es als Katharsis und als wesentliches Merkmal des Dramas) wieder aufs Tapet.
Elektra, in der griechischen Mythologie die Tochter von König Agamemnon, des Siegers im Trojanischen Krieg, und der Klytaimnestra, die Schwester des Orestes, hilft nach der Ermordung ihres Vaters, ihrem Bruder, die Blutrache an ihrer Mutter und dem verhassten Stiefvater Aigisthos, zu vollziehen. Es ist das alte Prinzip der Blutrache, die nach antikem Glauben ohne Zögern Mensch gegen Mensch, Stamm gegen Stamm, Volk gegen Volk vollzogen werden musste. Denn es war ehrlos und eine Götterbeleidigung, nicht Sühne zu fordern.
In der Regieauffassung des Gastregisseurs Laszlo Bocsardi (es ist seine zweite Inszenierung am DSTT und er nannte das selbst ein "Geschenk") wird dieses Drama, mit der Bühnenfassung des jungen Autors Benedek Zsolt, dem kargen Bühnenbild von Jozsef Bartha und dem modernen Kostümbild von Zsuzsanna Kiss dem heutigen Zuschauer ganz hautnahe gebracht. Der Kontrast entsteht durch die Beibehaltung der alten versmäßigen Sprache, die besonders durch das leidenschaftliche Spiel der beiden Nachwuchsschauspielern Isa Berger (Elektra) und Harald Weisz (Orestes), zum ersten Mal an der deutschen Bühne in Hauptrollen zu erleben, zum Ausdruck gebracht wird. Verstärkt wurde dieser Part noch durch das zweideutig- zwitterhafte Gehabe, den kuriosen Singsang des Greises (Konstantin Keidel bot damit sicher eine seiner besten Rollen am DSTT). Noch stärker verfremdend wirkte jedoch die Rolle der Klytaimnestra: Ida Gaza, weiterhin eine der repräsentativen Schauspieler der deutschen Bühne, machte aus der Königin mit ihrem kurzen Glitzerkleid, den Stöckelschuhen, der Sonnenbrille dem ganzen affektierten Gehabe auf ihre geschickte Art eine lächerliche, toupierte und etwas Mitleid erweckende Dame der 60ger Jahre. Etwas zu kurz kam diesmal Radu Vulpe, der den sterbenden Aigisthos darstellte: Nur ein Stöhnen und ein Gliederzucken, aber effektvoll.
Symbolisch endet die Vorstellung mit einem im Hintergrund laut gespielten teuflischen Cardas-ähnlichen Reigen.
Nach dieser Vorstellung, kommt der Zuschauer nolens-volens nicht umhin, sich ein paar ernsthafte Fragen zu stellen: Liegt die Antike denn gar so weit zurück? Was sind schon 2000 Jahre? Ist der Mensch des 21. Jahrhunderts nicht in seinen starken Gefühlen von Liebe und Hass der gleiche geblieben? Wird nicht heute an allen Ecken der Welt gehasst und gemordet, Vergeltung geübt? Gibt es sie nicht, die Angst, der Terror, der Krieg?