Alarmierende Zahlen aus dem rumänischen Bildungswesen veröffentlichte das Nationale Institut für Statistik unlängst: Über 128.000 Studierende, das entspricht einem Anteil von 24 Prozent der gesamten Studierendenzahl, besuchen Wirtschafts-, Verwaltungs- oder rechtswissenschaftliche Fakultäten. 118.000 studieren Ingenieurswissenschaften, einschließlich Bauwesen; 535.000 Studierende zählt das Land insgesamt, knapp 54 Prozent sind Frauen. Die Zahlen gelten für das gerade zu Ende gehende Hochschuljahr 2015/2016. Sie spiegeln die Irrungen und Wirrungen des einheimischen Bildungssystems wider, die gravierende Fehlallokation von finanziellen und menschlichen Ressourcen, die mangelhafte Zusammenarbeit zwischen dem Bildungsministerium, den Universitäten und der Zivilgesellschaft einerseits - und der Wirtschaft andererseits.
Denn: Der Wirtschaft fehlen nicht die Ökonomen, die Buchhalter oder die Juristen. Es gibt sie in Hülle und Fülle, nämlich dort, wo sie eigentlich nicht gebraucht werden und wofür sie auch nicht ausgebildet wurden, zum Beispiel als Verkäufer im Einzelhandel, als Taxifahrer, als Beschäftigte in Call-Centern, sogar als Zusteller für Paketdienste. Dort wo sie aber gebraucht werden könnten, gibt es sie nicht, weil sie eben nicht entsprechend gut ausgebildet wurden. Die inzwischen sehr schwierig gewordene Prüfung für die Aufnahme in die Anwaltschaft, die jährlich vom Landesverband der Anwaltskammern Rumäniens (UNBR) veranstaltet wird, bestehen lediglich 10 bis 15 Prozent der Kandidaten, wobei es nicht wenige Landkreise gibt, in denen oftmals kein einziger Anwärter die Prüfung schaffen konnte. Dasselbe gilt für die Aufnahme in den Stand der Richter und Staatsanwälte, wo das Nationale Institut der Magistratur jährlich höchstens 200 Plätze zur Verfügung stellt. Es melden sich etwa 4.000 Kandidaten, viele unter ihnen versuchen es vier, fünf, sechs Mal hintereinander. Meist vergebens.
Dabei kann man Rechtswissenschaften an rund 50 Universitäten studieren - staatliche und private. Neben den sechs etablierten Zentren (Bukarest, Klausenburg/Cluj-Napoca, Jassy/Iași, Temeswar/Timișoara, Craiova und Hermannstadt/Sibiu), woher der überwiegende Teil jener stammt, die die erwähnten Prüfungen auch bestehen, kann der rumänische Abiturient Jura an staatlichen Universitäten in Großwardein/Oradea, Arad, Kronstadt/Brașov, Neumarkt/Târgu Mureș, Karlsburg/Alba Iulia, Reschitza/Reșița, Târgu Jiu, Târgoviște, Galatz/Galați oder Konstanza/Constanța studieren. Die privaten Unis außen vor gelassen. Kaum ein Absolvent dieser Fakultäten schafft die eine oder andere Aufnahmeprüfung der Juristenberufe, die Bildungszentren existieren jedoch weiterhin und beanspruchen Steuergelder. Genauer betrachtet sind sie bloß „Illusionsverkaufsstellen“ für ihre Studenten. Und zugleich getarnte und zusätzliche Einnahmequellen für Provinzrichter, -anwälte und sonstige tatsächliche oder vermeintliche Einflussreiche. Dem Wohl des Landes schaden diese Einrichtungen eher, aber um sie schrittweise der gesetzlichen Auflösung zuzuführen, bedarf es eines Mutes, den noch kein Bildungsminister gehabt hat und voraussichtlich auch nicht haben wird. Denn zahlreiche Professoren saßen oder sitzen weiterhin im Parlament oder üben über lokale Netzwerke Einfluss auf Parlamentarier und Ministerialbeamte aus.
Ähnliches betrifft auch die Wirtschaftswissenschaften. Die Universitäten haben in den vergangenen Jahren so viele Diplome vergeben, dass es um den Ruf der Wirtschaftsfakultäten vielleicht noch schlechter bestellt ist als um jenen der Rechtswissenschaft. Das gilt sogar für die altehrwürdige Akademie für Wirtschaftsstudien in Bukarest (ASE), wo sich nur noch die Wirtschaftsinformatik, das Bankwesen und die fremdsprachigen Studiengänge der Beliebtheit erfreuen, weil dort erworbene Kompetenzen auch wirklich gefragt sind.
Stichwort Wirtschaftsinformatik, Informatik im Allgemeinen. Dass in dem Bereich akuter Fachkräftemangel herrscht, dass das Land IT-Ingenieure braucht, ist inzwischen allgemein bekannt. Vielleicht sogar im Bildungsministerium und in der Hochschulrektorenkonferenz. Aber eine kohärente Strategie zur Förderung der technischen Universitäten, zum Beispiel eine Exzellenzinitiative für diese oder für das gesamte Hochschulwesen hat es nicht gegeben, die technische Erziehung im voruniversitären Bereich fehlt. Erste Computerfertigkeiten erwerben viele Kinder selbst. Zuhause. Denn die Ausstattung der Haushalte mit Computern hat in Rumänien zugenommen, dasselbe gilt für Smartphones oder Tablets, die sich inzwischen selbst hierzulande millionenfach verkauft haben.
Und das duale Ausbildungssystem, ein Ersatz für das 2008/2009 durch die damalige Bildungsministerin Ecaterina Andronescu per Unterschrift aufgelöste Berufsschulwesen, steckt noch in Kinderschuhen; die Schlacht um die Etablierung dieses Systems ist längst noch nicht geschlagen. Merkwürdig ist es dabei schon, dass Rumänien gänzlich darauf verzichtet hat, Mechaniker, Klempner, Dachdecker, Schlosser, Bäcker, Elektriker, Köche, Friseure, Schneider, sonstige Facharbeiter, alles ehrliche und ehrwürdige Berufe, systematisch und staatlich auszubilden und die Ausbildung solchen unverzichtbaren Personals gänzlich den Unternehmen überlassen hat, die damit schlicht und einfach überfordert sind.
2009 hatte das Bildungsministerium die Auflösung der Berufsschulen damit begründet, dass die Nachfrage stetig gesunken sei. Anstatt für eine vermehrte Nachfrage zu sorgen, zum Beispiel durch eine aktive Partnerschaft mit der Wirtschaft, durch die Ausrichtung der Berufsschulen auf jene Berufe, die die lokale oder regionale Wirtschaft braucht, haben Bukarester Beamte und ihre damalige Ministerin per Unterschrift eine, zugegeben verbesserungsbedürftige, Infrastruktur mitsamt Personal zunichte gemacht. Wie diese jetzt wieder aufgebaut werden soll, weiß natürlich niemand.
Auch weil solche Berufe in den 1990er Jahren durch den Zusammenbruch der Planwirtschaft kaum mehr gefragt waren, sind viele der guten Fachleute ausgewandert, sodass es jetzt nicht nur einen Mangel an Auszubildenden gibt, aber auch einen Mangel an Ausbildern. Und: In zahlreichen Fabriken liegt das Durchschnittsalter des Personals bei über 50, Nachwuchs ist nicht oder kaum zu finden. Und einige Unternehmer, vor allem in der chemischen Industrie oder in der Lebensmittelproduktion, suchen verzweifelt nach rüstigen Rentnern, die sie gerne wieder ins Berufsleben zurückholen würden.
Der Wirtschaft gehen also Fertigkeiten verloren, die sie dringend braucht und ohne die eine dauerhafte ökonomische Entwicklung sich nicht entfalten kann. Denn wenn ein Diplomjurist oder ein Diplomvolkswirt, für dessen hochschulische Ausbildung der Staat mehrere Tausend Euro investiert hat, nun von einem privaten Unternehmen umgeschult werden muss, dann ist das genau die Fehlallokation von Ressourcen, die teilweise für die Rückständigkeit der einheimischen Wirtschaft im Vergleich zum europäischen Durchschnitt verantwortlich zeichnet.