13 Autoren aus Rumänien sowie den Nachbarländern stellten sich drei Tage lang in Temeswar vor. Das vierte internationale Literaturfestival FILTM brachte bedeutende Schriftsteller und Persönlichkeiten, wie etwas György Dalos in die Begastadt. Sie lasen aus jüngsten Werken vor – die meisten noch gar nicht in Temeswar übersetzt – und äußersten sich über die aktuelle politische Lage in Europa. BZ-Redakteur Robert Tari sprach mit György Dalos und Radka Denemarkova über Europa sowie ihre Herkunftsländer Ungarn und Tschechien.
Herr Dalos, in diesem Jahr haben sich die Veranstalter des Literaturfestivals „FILTM“ vorgenommen, die Autoren auch in Schulen vorzustellen. Immer weniger Jugendliche nehmen ein Buch in die Hand. Man spricht von einem europäischen Problem. Wie sehen Sie das?
György Dalos: Ich war sehr of an Schulen, auch in Deutschland und habe vor Jugendlichen vorgetragen. Zum 20. Jahrestag der Wende habe ich in Spanien mehrere Schulen und mit jungen Leuten gesprochen. Die meisten lasen nicht sehr viel und wenn, dann nicht in Büchern sondern eher auf dem Bildschirm. Wegen des westlichen Schulsystems werden sie auch nicht besonders dazu angeregt. Was ich aber gut fand, war, dass ich in jeder Klasse auch immer einige sehr sympathische, romantische Revolutionäre unter den Schülern fand, die alles in Frage stellten. Diese Eigenschaft der Jugend ist sehr wichtig. Viele von ihnen übertreiben sicherlich, manche waren auch erklärte Kommunisten, aber ihre Fragen gegenüber der Wirklichkeit ihrer Gesellschaft ist interessant. Diese jungen Menschen stellen immer eine Minderheit dar, das war schon so vor 50 Jahren als die Jugendlichen mehr gelesen haben.
Eines der großen Themen der diesjährigen Auflage, besonders aufgrund er geladenen Gäste, war das Thema „Aufarbeitung“. Sie leben heute in Deutschland, ein Land, dass sehr viel Wert auf die Aufarbeitung der Nationalsozialistischen Vergangenheit legt. Würden sie sich diese Vehemenz auch für Ungarn wünschen?
G.D.: Deutschland ist ein einzigartiges Beispiel, es gibt noch andere Länder wie Japan, wo zeremoniell der Staat sich jährlich einmal bei China und Korea entschuldigt, und den Nachbarländern hilft, aber speziell in Ländern wie Ungarn oder Rumänien liegt diese Problematik im Charakter der Revolution. Sie war entweder friedlich wie in Ungarn oder blutig, militant wie in Rumänien, aber tief war sie nicht. Sie hatte weder die notwendige Breite, noch die notwendige Tiefe. Der einzig radikale Moment an dieser Revolution war der Eigentumswechsel. Die Privatisierung war der Gegenstand aller politischen Kämpfe. Dabei fühlten sich die werktätigen Massen betrogen. Es hatte in diesem elenden miserablen Sozialismus vier relative Vorteile gegeben: die Vollbeschäftigung, die kostenlose medizinische Versorgung, kostenlose Ausbildung und die staatliche Garantie der Kultur. Die sind verschwunden und wurden nicht mit einem anderen flexibleren und demokratischen System ersetzt. Das ist in punkto Literatur und schöne Künste tragisch, weil bestimmte Formen heute nicht mehr funktionieren. Das löste eine allmähliche eruptive Enttäuschung in der Gesellschaft aus. Diejenigen Leute, die für die Wende waren und sie herbeiführten, die haben den Sinn dieser Wende vergessen oder wollten sie so nicht haben. Das erklärt auch Nostalgien für das alte System, auch in Rumänien. In Rumänien war die medizinische Versorgung ebenfalls kostenlos. Aber wer vor der Wende in einem rumänischen Krankenhaus war, der weiß auch, wie miserabel die Umstände waren. Das Niveau war äußerst fragwürdig. Heute ist es eine scheinbare Geldfrage, aber Geld ist ein Privileg, dass nur ganz wenige Leute wirklich haben. Ich habe auch in Albanien Leute getroffen, die das alte System relativ gut fanden, weil die Kinder kostenlos in die Schule gehen konnten.
Eine andere Frage ist die nationale Frage. Eine der Ursachen der Explosion von 1989 war die sowjetische Dominanz bzw. die nationale Reflexion darauf, aber dieser Nationalismus wandte sich vom ersten Augenblick gegen die anderen, besonders die benachbarten Länder und gegen die Minderheiten, die es in Ostmitteleuropa zahlreich gab: die ungarische Minderheit in Rumänien, die ukrainische Minderheit in der Slowakei, in der ehemaligen Sowjetunion gab es jede Menge Minderheiten und ich glaube, dass diese ungelöste nationale Frage für sehr viele Leute eine wichtigere Bedeutung hat. Sie ist für viele wichtiger als alles andere, weil sie eben sozial nicht aufgestiegen sind, führt dieser Frust sehr leicht dazu, dass Nationalleidenschaften ausgelöst werden. Das geschah ganz brutal in Jugoslawien, weniger brutal bei der Auflösung der Tschechoslowakei, selbst in Rumänien am Anfang, nach den triumphalen Wochen der Revolution, wo Ungarn, Deutsche und Rumänen zusammen waren, kam es zum Blutbad in Neumarkt/Târgu Mure{, dessen einziges Ziel war, die Macht der ehemaligen kommunistischen Elite zu stärken. Die Leute die daran beteiligt waren, die dachten nicht daran.
Frau Denemarková, Ihr Roman „Ein herrlicher Flecken Erde“ handelt von den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs, von der Nachkriegszeit. Wie kommt man als Schriftstellerin darauf, die nicht diese Zeit bewusst miterlebt hat, über diese Zeitspanne zu schreiben?
Radka Denemarková: Ich schreibe immer über die Gegenwart und wie wir uns heute verhalten, welche Probleme wir heute haben und das hat schon früher angefangen. Die heutige tschechische Gesellschaft kennt keine Tabus wenn es um Gewalt oder Sex geht. Es gibt keine Hemmungen davor, was es aber gibt, sind Lügen über die jüngste Vergangenheit und eine Tendenz diese Tod zu schweigen. Ich werde nie mit der Idee einverstanden sein, dass der Zweite Weltkrieg zum Beispiel 1945 vorbei war, das heißt, dass man das Ende an einem einzigen Datum festmachen kann. Was mich immer wieder interessiert, sind die Menschen und ihr Verhalten und im Falle dieses Buches geht es mir auch um das Thema zweiter Holocaust. Man vergisst immer wieder, dass wir drei Millionen Menschen vertrieben haben, es waren tausende Familien, sehr viele jüdischer Abstammung, die aber Deutsch gesprochen haben. Es nervt mich bis heute, dass wir uns sehr stolz zeigen, wenn wir von Franz Kafka reden. Wir brauchen ihn als Symbolfigur von Prag für die Touristen, wir sind dann Teil der Weltliteratur, aber wir vergessen, dass wenn er länger damals gelebt hätte, dass er vermutlich entweder im Konzentrationslager gestorben wäre oder man hätte ihn vertrieben. Und ich möchte mit meinen Bücher zeigen, dass es mir um die Menschen geht und nicht um die Stempel, die man Menschen aufdrückt. Es ist mir wirklich egal ob jemand Amerikaner, Deutscher, Tscheche, Rumäne, Jude, Dissident, Kommunist oder Nazi ist. Es geht mir konkret darum, wie sich die Menschen verhalten. Mich interessieren nicht die Konstrukte von Historikern, weil das Leben viel komplizierter ist. Man schweigt über das Leben bestimmter Menschen oder Gruppen, weil sie nicht in diese Konstrukte passen.
Ist der Roman autobiografisch? Haben persönliche Gründe eine Rolle gespielt, als Sie sich entschlossen haben, diese Geschichte zu erzählen?
R.D.: Ja, es hat auch etwas mit der Geschichte meiner Familie zu tun, aber der Roman ist nicht autobiografisch. Im Gegenteil, es ist mir sehr wichtig, dass das Buch nicht als meine persönliche Geschichte aufgefasst wird. Es geht mir viel mehr darum, eine bestimmte geschichtliche Ära festzuhalten. Es ist eine Fallstudie. Ich möchte mit dem Buch auf die Frage eingehen: Wieso wiederholen sich diese Ungerechtigkeiten? Wieso finden immer wieder, diejenigen, die an der Macht sind und an einem Minderwertigkeitskomplex leiden, Opfer. Bevor ich diesen Roman geschrieben habe, habe ich mit dem Diktator Paul Potts aus Kambodscha auseinandergesetzt. Er hat als erste Gruppe die Intellektuellen ermordet und es ist ganz schwierig einen Intellektuellen zu definieren, er hat es einfach gemacht, alle die Brillen trugen, wurden ermordet. Solche Situationen erleben wir in der Geschichte und diese Klischees, diese Vorurteile sind immer in der Luft. Und man muss diese Probleme offen ansprechen, nur dann kann die Gesellschaft gesund sein. Die Menschen und besonders die Politiker sagen immer, dass unsere Zukunft und unsere Hoffnung die Kinder sind. Ich bin anderer Meinung, weil diese Kinder lernen von ihren Eltern. Das heißt, die Eltern tragen ihre Frustrationen und ihre Vorurteile durch die Kinder weiter und nur wirklich starke Persönlichkeiten, die hinterfragen können, schaffen es sich davon zu befreien, weil sie kritisch denken können.
Ist es ein Teufelskreis?
R.D.: Das ist es. Wir sehen es heute in Tschechien: die Juden sind verschwunden, die Deutschen auch, mit der Zigeunerproblematik haben wir nichts gemacht. Diese homogene Gesellschaft, die Angst vor anderen Meinungen und anderen Leben hat, diese rassistische Meinungen haben wir in 2015 in Tschechien. Auch das Thema der Vertreibung der Deutschen nutzen viele populistische Politiker aus. Aber Literatur muss konkret und dabei metaphorisch sein. Darum weiß auch meine Heldin nicht was los ist. Sie ist einige Schritte hinter der Politikgesellschaft. Auf einmal ist sie im Konzentrationslager, dann kommt sie nach Hause. Sie spricht nur Deutsch, wird als Nazi beschimpft. Die Nachbarn wollen ihr Eigentum. Ihr ganzes Leben kämpft sie um die Gerechtigkeit und ich wollte zeigen, dass sie nicht dazu kommt und was können wir mit unserem Leben machen.