Eine zweite Chance: Mit 30 in der dritten Klasse

Weniger Straßenkinder in Temeswar, als in den Vorjahren

21 Kinder besuchen die Einrichtung für Straßenkinder in der Ioan-Slavici-Straße in Temeswar. Foto: Zoltán Pázmány

Zwischen den zahlreichen Grabkreuzen schreibt der 14-Jährige das Wort „Zuhause“ hin. Bunt gefärbt sind die Buchstaben. Schwarz-weiß, der Friedhof. Es hätte aber auch der Hauptbahnhof sein können. Oder die Zuglinien im Ronatz-Viertel. Nachdem man jahrelang auf der Straße gelebt hat, kann man schon einiges als „Zuhause“ nennen. Bei der Malereiwerkstatt im Temeswarer Zentrum für Straßenkinder heißt es, das letzte Zuhause als Straßenkinder zu malen. Manche malen ihre Träume: ein Schloss, ein Haus, einen Garten, Blumen und Regenbogen. Andere können nur die Realität wiedergeben: Ein Zuhause zwischen Müllcontainer im Studentenviertel, am Nordbahnhof, auf dem Feld oder an einer Straßenecke.

20 Jahre auf der Straße
 

Es ist der Internationale Tag der Straßenkinder. In Temeswar/Timişoara werden an diesem Mittwoch, den 21. März, mehrere Sport- sowie Mal- und Bastelworkshops in der Einrichtung für Straßenkinder auf der Ioan-Slavici-Straße veranstaltet. 21 Kinder machen mit. Ein Teil davon lebt bereits seit einigen Monaten, andere seit Jahren im Zentrum, weitere besuchen die Sonderschule „Die zweite Chance“. Ana M. gehört zur zweiten Kategorie. An ihr letztes Zuhause auf der Straße kann sie sich nicht mehr genau erinnern. Sie zeichnet das Wort „Zuhause“ über einige Müllcontainer. Daneben malt sie sich selbst. Im Hintergrund sind die Wohnblocks des Temeswarer Soarelui-Viertels. Mit diesem Viertel verbindet Ana eine spezielle Erinnerung. Da hat sie zum ersten Mal gelernt, die Uhr abzulesen. Irgendwann im Jahre 1995. Sie war damals gerade 13 und seit drei Jahren auf der Straße. „Eine gutmutige Frau hat es mir beigebracht. Zuerst hat sie mir die Uhr gezeigt und mich getestet, ob ich sie stehlen werde. Ich habe es aber nicht getan. Das zweite Mal hat sie mir die Uhr geschenkt. Ich habe sie auch heute noch“, erinnert sie sich.

 

Das Kind, oder die Drogen


Ana M. ist nun 30 Jahre alt, hat zwei Kinder, geht in die dritte Klasse in der Sonderschule „Die zwei Chance“ und will Friseurin werden. Ihre Geschichte beginnt sie mit ihrem zehnten Lebensjahr. „Mit 10 wurde es mir bewusst, dass ich in einem Kinderheim bin“, erinnert sie sich. Mit dieser Erkenntnis kam auch die Verlockung der Straße. „Das Heim hat mir einfach nicht gefallen. Ich wollte frei sein. Die Straße hat ihre Verlockungen. Du musst da keine Regeln einhalten. Es ist niemand, der dich herumkommandiert“, sagt sie. 20 Jahren lebte sie auf der Straße in Temeswar, schlief hier und dort, wo sie keiner sah und keiner verjagte. Meist war ihr Bett steinig, es gab so viele Kanten und Ecken. Der Boden, auf dem sie schlief, war manchmal so hart, dass sie ihn sich mit ein paar Drogen weicher machte, zumindest manchmal. Ihre Drogensucht gibt sie zu und auch die Tatsache, ab und zu Obst und Gemüse auf dem Markt gestohlen zu haben. "Ich lebte von dem, was man mir in die Hand drückte", sagt Ana. Manchmal ging sie zur Suppenküche.„Aber ich war immer eine ruhige und brave Person. Und ich war immer gepflegt“, fügt sie hinzu. Sie hatte viele Fehlgeburten, war drogensüchtig und kam mehrere Male ins Krankenhaus. Eines Tages war es aber auch Schluss damit, denn das Schicksal stellte sie vor die Entscheidung: „Ich war wieder schwanger. Da hat mir der Arzt gesagt, entweder das Kind oder der Tod“, erzählt Ana. Sie hat sich für das Baby entschieden: Der Sohn ist jetzt 11 Jahre alt und lebt im Pflegeheim. Sie besucht ihn regelmäßig, hat ihm noch nicht über ihr Leben erzählt. „Wenn er älter wird, werde ich das tun“, so das Versprechen. Ihren Drogenkonsum hat sie mit Sonnenblumenkerne bekämpft: „Ich habe viele Sonnenblumenkerne gegessen“, erinnert sie sich und lacht. „Ich brauchte damals eine solche Beschäftigung, die mich von Drogen abhalten soll“, so Ana M. Nun geht sie in die dritte Klasse, meint, Mathematik sei ihr Lieblingsfach, würde aber gern als Kosmetikerin arbeiten. Mit Stolz zeigt sie ihr Notenbüchlein, wo sie nur „sehr gut“ und „gut“ – Bewertungen hat. „Es war schwer aber ich freue mich, dass ich es geschafft habe, wieder auf den richtigen Weg zu kommen“, erzählt sie.

 

Weniger Straßenkinder in Temeswar

Rund 35 Kinder leben derzeit auf den Temeswarer Straßen, so die neuste Statistik des Temescher Kinderschutzamtes - bedeutend weniger im Vergleich zu den Vorjahren. „Die Situation hat sich in letzter Zeit deutlich verbessert. 2001 waren es über 230 Kinder, die auf der Straße lebten“, so Smaranda Marcu vom Temescher Kinderschutzamt. Knapp die Hälfte der derzeit 35 Straßenkinder besuchen regelmäßig das Zentrum für Straßenkinder in Temeswar. „Sie kommen, wenn sie Probleme haben. Danach gehen sie wieder weg. Wir versuchen ihnen zu helfen, ohne aber ihre Freiheit und Selbständigkeit einzuengen“, sagt Antal Francisc, Facherzieher bei der Einrichtung für Straßenkinder. Es gehe vor allem darum, Vertrauen aufzubauen und Hilfestellung im Alltag zu geben, sagt Antal. Wer die Einrichtung besucht, der soll sich wohlfühlen, am besten sogar ein wenig zu Hause. Die Jugendlichen können dort duschen und ihre Kleidung waschen, es gibt ein warmes Essen und vor allem Gespräche. Mehrere Kinder haben sich bereits in der Einrichtung eingelebt. Ein Junge zeigt stolz sein Lieblingsbuch, „Liebesbrief“ von Mihail Drumeş, Andreea zeigt einer Schulkollegin von der „Zweiten Chance“, wie sie ihr Zimmer dekoriert hat, Alex malt Kerzen aus und präsentiert stolz seine eigenen Farbkombinationen. „Mit den Kindern, die ein paar Wochen bleiben, können wir auch etwas anfangen und sie auch auf den richtigen Weg bringen“, erzählt Antal Francisc. „Dabei ist es auch sehr wichtig, dass wir nie ihre Freiheit eingrenzen“, schließt er.