Fiktionale Geschichte

Immer noch steht – wegen verblassender Druckfarbe kaum lesbar – auf der Litfaßsäule am Gehsteigschnittpunkt auf dem Freiheitsplatz in Temeswar „Die Proklamation von Temeswar“, seit deren Verabschiedung am 11. März 22 Jahre vergangen sind. Wie zum Geburtstag dieses von ganz Rumänien zurückgewiesenen Dokuments einer jungen Zivilgesellschaft – inzwischen ein historisches Dokument, dass ihr postkommunistisches Niveau dokumentiert – verabschiedete das Parlament Rumäniens ein Lustrationsgesetz – etwa nach dem vieldiskutierten Punkt 8 der Proklamation von Temeswar.

Dieses Lustrationsgesetz ist stark post-factum Es schadet keinem, geschweige denn nutzt jemand, außer, vielleicht, dem Image Rumäniens. Wahrscheinlich waren Unschuld und Harmlosigkeit dieses Gesetzes auch der Grund, weshalb es, 22 Jahre nach seiner damaligen Momentanabsicht des Ausschaltens der kommunistischen Aktivisten auf Zeit aus dem politischen Leben Rumäniens, ziemlich anstands- und widerspruchslos durchgewinkt wurde.
 

Doch Temeswar ist nach wie vor stolz auf sein zivilgesellschaftliches Ur-Dokument, auch wenn dieses heute in manchem befremdlich klingt. Etwa in den Punkten 10 und 11, aufgrund derer Temeswar und der Verwaltungskreis Temesch zu einer Art „Versuchsfeld eines vergenossenschaftlichten Kapitalismus“ gemacht werden sollten – eine europäische Vorwegnahme des staatlich kontrollierten Kapitalismus, wie ihn heute China mit Erfolg (und ideologischer Verbrämung) praktiziert. Das Experiment ist wohl angedacht von Kennern der Banater Geschichte, die sich anlehnten an das Habsburgische Makroexperiment mit dem Banat als Exerzierfeld für den kontinentalen (oder Wiener) Merkantilismus.
 

„Obwohl wir für die Wieder-Europäisierung Rumäniens plädieren, wünschen wir kein Kopieren westeuropäischer kapitalistischer Systeme“, heißt es, „die ihre Unvollständigkeiten und Ungerechtigkeiten haben. Wir sind aber kategorisch für die Idee der privaten Initiative.(...) Ohne wirtschaftlichen Pluralismus werden wir nie einen politischen Pluralismus haben. (...) die Aktien eines Unternehmen gehören in erster Linie den dortigen Arbeitnehmern zum Kauf angeboten. Wir finden (...) die Privatisierung durch Übereignung von Aktien zu gleichen Teilen an alle Arbeitnehmer konstruktiv, doch muss der Staat die Kontrollmehrheit behalten.(...)“ Und bei Punkt 11 heißt es: „(...)Wir schlagen im Kreis Temesch das Experimentieren eines marktwirtschaftlichen Modells vor (...)“.
 

Neben der Unmöglichkeit, in einem Zentralstaat ein regionales Sondermodell auszuprobieren, werden auch Vorschläge für Joint-Ventures aufgewärmt, sowie Finanzierungsmodelle durch Banken angesprochen – in der Durchführung aus heutiger Sicht etwas befremdlich und naiv im Ton.

So steht heute am Temeswarer Freiheitsplatz die Litfaßsäule, die Aspekte frühen zivilgesellschaftlichen Wirtschaftsdenkens dokumentiert. Historisch wertvoll, praktisch überholt.

Was geworden wäre aus Rumänien, hätte man 1990, im März, auf die Temeswarer Vordenker gehört - das ist fiktionale Geschichte. Eine Denkübung.