26 Jahre, seit die Revolution in Temeswar/Timişoara ausgebrochen ist. Seit genau so vielen Jahren überkommt mich immer im Dezember ein unbeschreibliches Gefühl, das ich in keinem anderen Moment des Jahres empfinde. Manche würden sagen, dass man als Kind mit fast fünf Jahren kaum lebendige Erinnerungen haben und vor allem kaum etwas von der Welt verstehen kann. Ich kann nicht behaupten, dass ich damals allzu viel verstanden habe, aber der Dezember 1989 ist mir fest in der Erinnerung haften geblieben. Durch Kinderaugen habe ich Bilder aufgenommen, die mir nie aus dem Gedächtnis gelöscht werden können und die ich erst mit meinem Erwachsenenverstand verstehen konnte. Gesichter, Ausdrücke, Erzählungen und Erlebnisse - alle versetzen mich in jene Dezembertage zurück.
In einer Schublade, wie verloren, habe ich immer noch die Zündkapsel einer Pistolenkugel, die mein Vater mit sich nach Hause brachte, nachdem ihm das Projektil rasant am Ohr vorbei pfiff und bloß einige Schritte weiter auf dem Asphalt abprallte. Ich erinnere mich an die Erzählungen meiner Mutter, die als Krankenschwester im CFR-Krankenhaus verwundete Opfer der Revolution pflegte - obwohl dies strengstens verboten war - und wie die Verwundeten kurz darauf spurlos verschwanden, indem sie aus den Fenstern des Krankenzimmers hinabkletterten, damit sie nicht von den Securitate-Leuten erwischt werden, die immer wieder kamen und nach Schussverletzten suchten.
Ich kann mir die vor Panik verzerrten Gesichter unserer Familienfreunde nicht aus dem Gedächtnis löschen, als sie erzählten, wie sie nächtelang auf dem Fußboden im Flur ihrer Wohnung an der Lippaer Straße, mit dem Echo der Schüsse in den Ohren, schliefen. Genauso lebendig bleibt mir auch die Ansicht des Armenfriedhofs, den ich durch das Fenster des Trolleybusses der Linie 14 beobachten konnte: Ein Haufen Erde mit einer großen, tiefen Grube daneben, über die ich, von Bekannten, mitbekam, dass darin Leute namens „Märtyrer“ begraben wurden. Bloß ein weiterer Begriff, der den geringen Wortschatz meiner frühen Kindheit bereicherte. Dazu kamen damals auch andere, wie „Tyrann“, „Terrorist“ und „Freiheit“.
Die Flagge mit Loch in der Mitte flattert mir vor den Augen, in meinen Ohren saust immer noch die Stille, die in den Tagen nach der Revolution so allanwesend war, die Stadt färbt sich in grau getönten, blassen Farben und durch das schwarze, rhombusförmige Gitter des ehemaligen „Menaj“-Ladens im „Complex“ an der Lippaer Straße kann ich immer noch die Löcher in den Fenstern sehen. Nur Sonnenstrahlen dürfen durch die dunklen, chinesischen Jalousien dringen, die lange Zeit später noch heruntergerollt an den Fenstern unserer Drei-Zimmer-Wohnung blieben. In der Küche hört man leise das Radio, aus dessen Lautsprechern die „Hymne der Revolution“ der Temeswarer Band Pro Musica das obsessive Refrain „Timişoara, Timişoara“ wiederholt...