Musik als Arznei für die Seele

Gospel-Chor aus Temeswar sang für Menschen am Rand der Gesellschaft

Dominic Samuel Fritz kam vor zehn Jahren als Jesuit Volunteer nach Temeswar – und rief das Timişoara Gospel Project ins Leben. Rumänisch lernte er in dem Kinderheim, wo er damals tätig war.

Die Teilnehmerinnen am Projekt „Grenzenlos Gospel“ stiegen auf die Bühne im Temeswarer Gefängnis.

Die Obdachlosen aus dem Nachtasyl freuten sich über das Gospel-Konzert. Fotos: Zoltán Pázmány, Raluca Nelepcu , Géza Gábor

Grauweißes Haar, Brille mit großem Kunststoffrahmen, eine sichtbar viel zu große Jacke mit geometrischem Muster, langer Rock in Herbstfarben und Sportschuhe an den Füßen: Die Frau Mitte 70 ist in Gedanken versunken. Um sie herum sitzen mehrere ältere Semester, aber auch junge Menschen mit kleinen Kindern hat es in den Hof des Nachtasyls in der Brâncoveanu-Straße aus Temeswar/Timişoara verschlagen. Es wird laut geredet und kaum gelacht, denn Gründe zum Lachen haben die meisten Menschen, die heute hierher gekommen sind, eher nicht.

Die Uhr zeigt kurz vor 19 Uhr und in der Sozialeinrichtung der Caritas haben sich etwa 50 obdachlose Menschen versammelt. Eine Stunde früher durften sie ausnahmsweise da sein, um zu duschen und um sich auf ein Ereignis vorzubereiten, das extra für sie im Nachtasyl über die Bühne gehen soll. Der Chor des Timişoara Gospel Project soll die Ärmsten aus Temeswar, die hier eine Bleibe für die Nacht finden, zumindest für eine Stunde aus ihrem Elend reißen. Und ihnen Musik als Arznei für die Seele servieren.

 „Der Chor, den ihr hier seht, ist heute morgen um 10 Uhr entstanden. Bitte habt Verständnis mit uns und klatscht noch lauter, wenn ihr merkt, dass wir einen Fehler gemacht haben“, sagt Dominic Samuel Fritz (28). Den Dirigenten aus Deutschland kennen viele in Temeswar, denn das Projekt, das er vor acht Jahren hier ins Leben gerufen hat, ist einzigartig. Timişoara Gospel Project nennt es sich und geht immer im Mai über die Bühne. Dann entsteht ein Chor aus Laien- und Profisängern, der eine Woche lang probt und zum Schluss ein Benefizkonzert darbietet. Doch der Chor, der heute Abend im Nachtasyl auftritt, ist nicht der Timişoara Gospel Chor. Das neue Projekt von Dominic Samuel Fritz trägt den Namen „Grenzenlos Gospel“ (rum.: „Gospel fără bariere“) und soll mehrere Schranken zum Fallen bringen.

Dirigent Dominic Samuel Fritz hat diesmal bei der Wette mit sich selbst schon etwas übertrieben: Einen einzigen Tag sollen die Sängerinnen und Sänger, die sich zum Projekt eingeschrieben haben, proben. Zwölf Lieder innerhalb von acht Stunden mit fast einhundert Leuten einüben, die diese dann vierstimmig singen sollen: So etwas kommt dem Unmöglichen nah. Doch Dominic Samuel Fritz ist der Beweis dafür, dass man auch Unmögliches schaffen kann, wenn man fest daran glaubt. Konzerte gibt es diesmal im Nachtasyl, im Gefängnis und im Kunstmuseum. Denn Gospel überwindet Grenzen und bricht unsichtbare Schranken, die die Gesellschaft bewusst oder unbewusst setzt.

Die erste Schranke

„Mede Medo Kese“: Bereits im Aufenthaltsraum des Nachtasyls beginnt der Chor das Lied aus Ghana zu singen. Der Reihe nach steigen die Choristen die Treppen hinunter, bis in den Hof, wo das Publikum – schon ein wenig ungeduldig - wartet. Mit ernster Mine blicken die Obdachlosen zum Chor hinüber und manch Gesicht verzerrt sich zu einer Grimasse, als die Chorsängerinnen und –sänger zu ihnen hinüber gehen und sie mit einem freundlichen Händeschütteln begrüßen. Die meisten sind eher zurückhaltend, reichen jedoch höflichkeitshalber den singenden Männern und Frauen die Hand.  „Mit diesem Lied wünscht man sich in Ghana während des Gottesdienstes ´Frieden´“, erklärt der Dirigent. Die jüngeren Leute im Publikum lächeln. Die Älteren heben unwissend die Schultern. Manche Blicke schweifen ins Leere.

„Freedom Is Coming“, „My Savior Lives“, „Go Down, Moses”: Das Repertoire ist vielfältig und besteht aus Liedern, die von Glauben, Freiheit, Liebe und Hoffnung erzählen. Die Gesichter im Publikum werden immer entspannter und obwohl die meisten kein Englisch verstehen, wird im Rhythmus der Musik mitgeklatscht. „Singt doch mit uns mit“, ermuntert Dominic Fritz sein Publikum. Und tatsächlich gibt es ein paar, die mitsingen. Die Kinder tanzen verzückt, ihre Eltern lächeln schon und die alten Menschen haben einen Hauch von Lächeln in ihren Gesichtern. Als das lustige „Dance Like David“ an der Reihe kommt, werden alle von ihren Bänken gerissen. Die Bude rockt. „Ihr wart einfach wunderbar“, bedankt sich Dominic Fritz für den anhaltenden Applaus am Ende des Auftritts. Eine erste Schranke – zwischen Arm und Reich – ist gefallen.

Die zweite Schranke

Die strenge Kontrolle haben die meisten Choristen nur vom Flughafen gekannt. Mobiltelefone müssen im Büro am Eingang bleiben, Musikinstrumente und Kameras werden aufs Genaueste geprüft und der Metalldetektor gleitet piepsend über die Kleidung der Sängerinnen und Sänger, die alle ihren Ausweis vorzeigen müssen. Der Gospel-Chor von Dominic Samuel Fritz geht an diesem sonnigen Sonntag zu Mittag in den Knast.

So komisch das auch klingen mag, es ist trotzdem wahr: Das zweite Konzert des Projekts „Grenzenlos Gospel“ findet im Gefängnis an der Popa-Şapcă-Straße statt. Ein dichter Stacheldrahtzaun hängt über den Toren, die in die Innenhöfe des Gefängnisses führen. An den Fenstern mit dicken Gittern sitzen Insassen und blicken neugierig zu den vielen Besuchern hinüber. Einige pfeifen den Frauen hinterher. Andere schimpfen laut.

Mit Polizeieskorte werden die Häftlinge in organisierten Reihen in den Innenhof geführt. Ein kalter Schauer geht einigen Chorsängern über den Rücken und viele Mädchen fühlen sich nicht sehr wohl, von so vielen Männern auf einmal mit Blicken durchbohrt zu werden. Kapuze oder Kappe auf dem Kopf, legere Trainingshose oder Jeans: Die etwa 500 Insassen, die dem Konzert beiwohnen, tragen keine gestreifte Kleidung.

„Freedom Is Coming“ (Freiheit kommt) nennt sich das Lied, mit dem der Chor im Gefängnis zu singen beginnt. Im Publikum: Diebe, Drogendealer und diverse Verbrecher, die einige Jahre abzusitzen haben. Unter ihnen gibt es keine Mörder, denn die Schwerverbrecher sind im Hochsicherheitsgefängnis aus Arad untergebracht.

Dem Konzert wohnen heute nur jene Häftlinge bei, die gewöhnlich auch für gemeinnützige Arbeit eingesetzt werden. Skeptisch schauen die meisten zum Chor hinüber, manche zünden sich gelangweilt ihre Zigaretten an oder grinsen ironisch. Als dann noch der Strom ausfällt, scheint das Konzert zum Scheitern verurteilt zu sein. Doch der Dirigent weiß, wie er den Tag zu retten hat. „Wir improvisieren einfach“, flüstert er den Choristen zu, und dreht sich dann zu den Häftlingen: „Wir werden jetzt gemeinsam ein Lied lernen“, schlägt Dominic Fritz vor und sagt langsam und gelassen den Text auf. Keine Spur von Aufregung in seiner Stimme, keine Schweißtropfen auf seiner Stirn. Als einige Insassen dann tatsächlich auch zu singen beginnen, verschwinden langsam auch die „Was will der von mir?“-Blicke von den Gesichtern der Männer. Die Insassen singen mit dem Chor gemeinsam, es wird geklatscht und schließlich gibt es auch reichlich Standing Ovations. „Solche Ereignisse gehören zum Integrationsprozess der ehemaligen Häftlinge in die Gesellschaft“, erklärt Delia Borza, stellvertretende Gefängnisleiterin. Ein weiteres Lied – auf Anfrage des Publikums mit einem rumänischen Vers – wird angestimmt und der Chor verlässt den Gefängnishof. Alle anderen bleiben dort. Ein paar Monate, ein Jahr, zwei Jahre, vielleicht auch länger. Eine zweite Schranke – zwischen Gut und Böse – ist gefallen.

Die dritte Schranke

Nach zwei gelungenen Auftritten für die Menschen am Rande der Gesellschaft verschlägt es den Chor in den Barocksaal des Kunstmuseums am Domplatz. Diesmal wird für ein vornehmes Publikum gesungen, das extra für das Event die Sonntagskleidung angezogen hat. „Ihr müsst jedes Konzert als gleich wichtig betrachten – egal, ob es im Nachtasyl, im Knast oder im Kunstmuseum stattfindet“, hatte Dirigent Dominic Samuel Fritz die Sängerinnen und Sänger bei den Proben gebeten. Das Konzert im Kunsemuseum ist aus musikalischer Sicht vielleicht das gelungenste von allen, die die Teilnehmer am Projekt „Grenzenlos Gospel“ an den zwei Tagen bestreiten müssen.

Dominic Samuel Fritz stellt den neu gegründeten TGP-Verein vor. Die Initialien sind zwar die von „Timişoara Gospel Project“, sie können aber auch von den rumänischen Wörtern „talent“ (Talent), „generozitate“ (Großzügigkeit) und „pasiune“ (Leidenschaft) abgeleitet werden, die das Projekt bestens beschreiben. Über den Verein wird es demnächst leichter sein, Sponsoren heranzuziehen, erklärt der Dirigent.

Dass auch diesmal der Saal mitsingen muss, ist längst schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Ein einziges Wort muss das zum Singen aufgeforderte Publikum lernen: „Amen“, das auf vier Stimmen nach Angaben von Dominic Samuel Fritz gesungen wird. „Ich weiß nicht, wie, aber Dominic schafft es immer wieder, das Beste aus uns herauszuholen“, sagt Bibliothekarin Ildiko Csoke, die auch Vizevorsitzende des TGP-Vereins ist. Und auch die dritte Schranke – zwischen Scheu und Sangesfreude – fällt. Amen.