Bei der Revolution 1989 war ich bloß viereinhalb Jahre alt. Ich hatte die Zeit als Pionier oder zumindest als „Falke des Vaterlandes“ nicht erlebt und man kann sagen, ich habe keine Erinnerung an die Zeit während des Kommunismus. Doch ich konnte in meinem bis dahin kurzem Lebensabschnitt Sachen sehen, erleben und fest in Erinnerung behalten: Das Schlangestehen zusammen mit meiner Mutter vor dem Laden für einen Liter Milch, umgeben von Milchgeruch rund um die Molkerei oder das Klirren der leeren Flaschen in den unzähligen Tüten der Menschen in der Schlange; die Kälte aus der Drei-Zimmer-Wohnung im Stadtviertel an der Lippaer Straße und die Gaslampe auf dem kleinen Tisch in der Küche, die abends, nachdem die Stromzufuhr unterbrochen wurde, uns die Gesichter beleuchtete und die Lippen meines Vaters, die sich im halbdunklen Raum bewegten und dabei zerknirscht „porcii de la IRET!“ („Die Schweine vom Elektrizitätswerk Temeswar – IRET“) immer wieder knurrte. Auch die Abendnachrichten im TV und deren Bilder habe ich heute noch vor Augen, mit dem „hochgeliebten Sohn des Vaterlandes“, Nicolae Ceausescu, der mit seiner heiseren Stimme und seinen energischen Gesten immer wieder auftauchte. Begriffe wie „Tyrann“, „Terroristen“ und „Märtyrer“ haben ebenfalls den geringen Wortschatz meiner frühen Kindheit bereichert.
Doch nichts ist mir besser in meinem Gedächtnis verankert geblieben als die Ereignisse vom Dezember ´89. Die Aufregung meiner Eltern und all unserer Bekannten, die Zündkapsel eines Pistolengeschosses, die mein Vater nach Hause gebracht hat, nachdem eine Gewehrkugel ihn auf den Weg zur Arbeit gerade verpasst hatte und die Erzählungen meiner Mutter, die als Krankenschwester im CFR-Krankenhaus verwundete Opfer der Revolution pflegte, obwohl dies strengstens verboten war, oder die Euphorie, als das Ceausescu-Regime fiel und die Angst danach, die mehrere Wochen noch in uns allen herrschte und die dunklen Jalousien an den Fenstern, die lange Zeit drunten geblieben sind. Und direkt in meine trotz allem so unschuldige Kindheit, die plötzlich von den turbulenten Ereignissen im Dezember 1989 erschüttert wurde, versetzt mich das Lied der Temeswarer Band Pro Musica „Timisoara“ zurück. Mit seinem sich immer wiederholenden Refrain ist mir das Lied seit 1990 im Kopf geblieben und rührt mich jedes Mal zu Tränen.
Die blutige Revolution inspirierte Musiker Ilie Stepan
Vor Aufregung und Enthusiasmus und von den emotionalen Ereignissen bewegt, hat Pro Musica auf Verse des Schriftstellers Marian Odangiu gerade in jenen entscheidenden Tagen in Temeswar die Hymne der Revolution komponiert und aufgenommen. Als wäre man Mitten in der Menschenmenge vor der Temeswarer Staatsoper, so fühlt sich das Lied für mich an, in dem die grausamen Ereignisse in der Hauptstadt des Banats erzählt werden.
Ilie Stepan, ein bereits bekannter Temeswarer Musiker, konnte dem Drang, ein Lied über die Revolution zu schreiben, nicht widerstehen: Am 27. Dezember 1989 komponierte er die Melodie. „Das Lied hat sich fast von alleine geschrieben, wie aus einem längeren Atemzug“, sagt der Temeswarer Musiker. 25 Jahre danach meint Stepan, dass er keinen einzigen Ton daran ändern würde. „Es ist mein einziges Werk - und ich habe viel Musik in meinem bisherigen Leben komponiert - bei dem ich kein einziges Musikkomma, keine einzige Note ändern würde. Es fühlt sich an, als würde ich einen Teil meiner Seele ändern und darin kann man nicht eingreifen“, sagt Ilie Stepan. „Marian Odangiu hat durch seinen Text der Melodie den perfekten Sinn gegeben“, fügt der Musiker hinzu.
Und das Gewicht der Verse kann man bei jedem Ton und jedem Vers fühlen: der Aufstand vom 16. Dezember, die Schüsse vom 17. und 18. Dezember und der Tumult der gesamten Revolution. „Das Emotionale herrschte in uns allen“, erzählt llie Stepan. Während der Tage, in der die Stadt Temeswar sich noch allein gegen dem Kommunismus wehrte und die Gefahr, erschossen zu werden, an jeder Wegkreuzung lauerte, konnte der Musiker seine Impulse und seinen Enthusiasmus nicht unterdrücken. Mit seiner langen schwarzen Mähne und dem Vollbart war er kein unbekanntes Gesicht unter Temeswarern, umso mehr: ein leichtes Ziel für die Miliz, die Securitate-Leute oder die sogenannten Terroristen. Er verschaffte sich aus der Menschenmenge eine Gitarre und kletterte zusammen mit dem Temeswarer Jazz-Musiker Lic² Dolga auf den Balkon der Temeswarer Staatsoper. Es war der 20. Dezember. Vor ihnen ein Meer von Menschen – alle wünschten sich nur eines und riefen einstimmig: „Freiheit!“. „Hora Unirii“ und das damals noch verbotene und ziemlich unbekannte Lied auf Verse von Andrei Muresanu „Desteapta-te, române!“ (die derzeitige rumänische Staatshymne) ließ er auf dem Opernplatz erklingen. Alle sangen mit. Der Puls, der zu allem entschlossenen Menschenmenge löste in Ilie Stepan den Wunsch aus, eine „Hymne“ für die Revolution entstehen zu lassen. 20 Minuten brauchte der Musiker, um die heute allbekannten Klänge des Liedes zusammenzustellen. Die Verse bestellte er bei seinem guten Freund, dem Schriftsteller Marian Odangiu. „Ich hab ihm am Telefon die Melodie vorgesungen“, erzählt Stepan.
Marian Odangiu schrieb die Verse
Vom Abend des 15. bis zum 21. Dezember war die Stadt kommunismusfrei, aber sie stand allein gegen das Regime – „Es war eine fabelhafte Woche der Einsamkeit in der Stadt, eine Woche, in der neben den Geschehnissen auf der Straße auch zahlreiche Gerüchte herumgeisterten – die Stadt Temeswar, sollte laut Befehl von Elena Ceausescu von der Erdoberfläche verschwinden (was sich letztendlich nicht nur als Gerücht erwies, sondern tatsächlich so gefordert worden war) oder die Vergiftung des Leitungswassers“, erinnert sich Marian Odangiu. „Das Erklingen von Schüssen, das Herumirren der Menschen, das Schreien und die allgemeine Panik – alles bewegte uns so sehr, dass wir all das in den Versen des Liedes beschreiben wollten“, sagt Odangiu. Der Schriftsteller hatte vom Musiker Ilie Stepan freie Hand bekommen – aber was unbedingt in den Versen vorhanden sein sollte, war die Wiederholung des Namens der Stadt, „Timisoara“.
Marian Odangiu hat mehrere Nächte seine Wohnung und abwechselnd mit seinen Nachbarn den gesamten Wohnblock bewacht. In einer dieser Nächte entstanden auch die Verse der Revolutionshymne. Später ist er dann mit dem Manuskript zu seinem Freund Ilie Stepan ins Studio zu den ersten Proben gegangen. „Ich muss zugeben, es ist sehr schwer, für die Musik von Ilie Stepan Verse zu schreiben“, sagt Odangiu. Der Text passte, in der Sicht von Odangiu, irgendwie nicht zur Musik von Stepan. „Ich habe schnell ein Blatt Papier verlangt, damit ich Änderungen zum Text bringe. Da ich kein Papier gefunden habe, habe ich ein Abziehbild von einem Kasten mit Musikausrüstung der Pro Musica-Band abgerissen“, erzählt Marian Odangiu. Es dauerte nicht mehr als 20 Minuten und die Verse wurden dort, während die Band die Melodie vorspielte, mit einem Bleistift hingekritzelt. „Die Abstimmung war diesmal perfekt!“, lässt der Schriftsteller wissen.
„Timisoara“ wurde am 8. Januar im Studio des Temeswarer öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders aufgenommen. Leadsänger der Band Pro Musica war damals Mario Florescu und bei den Aufnahmen wurden auch einige neugierige Soldaten, die das Gebäude des Fernsehsenders bewachten, eingeladen mitzusingen. „Ihre Stimmen können beim Refrain gehört werden – sie sollten die Stimmen der Menschenmenge am Opernplatz wiedergeben“, erzählt Ilie Stepan.
Auf Autorenrechte verzichtet – das Lied gehört der Stadt
Dass das Lied nach 25 Jahren immer noch Emotionen weckt, macht sowohl Ilie Stepan, als auch Marian Odangiu besonders stolz. Viele haben in den letzten 25 Jahren die Verse übernommen, auch ohne genau zu wissen, wer dafür zuständig ist. „Wir sind eine Art Volksdichter geworden“, scherzt Marian Odangiu. „Viele lassen Teile unseres Liedes erklingen: ´Wie gehen nicht weg/ Wir sterben nicht/ Wir sind keine Feiglinge/ Wir sind keine Diebe...´ Ich habe sie auf dem Fußballstadion oder im Schulhof gehört“, fährt er fort. „Das bedeutet umso mehr, dass unsere Verse unvergessen geblieben sind“, sagt Odangiu.
Sowohl Marian Odangiu, als auch Ilie Stepan und seine Band Pro Musica haben jedwelche Autorenrechte am Lied aufgegeben. „Unsere einzige Bitte bleibt, dass das Lied allein dann, wenn seine Zeit gekommen ist - zwischen dem 16. und 21. Dezember – gesungen, gespielt und gesendet wird“, sagt Odangiu. Gerade das habe aber der „Revolutionshymne“ geschadet – es sind inzwischen viele andere Lieder aufgetaucht, die sich als Hymne der Revolution 1989 beschreiben. „Dies sorgt für ein bisschen Traurigkeit unter uns. Dass wir jedoch etwas für die Geschichte gemacht haben, ist für uns ausreichend!“ schließt Marian Odangiu.