112 und damit verbundene Verpflichtungen

Ein älterer Mann liegt in den Morgenstunden am Boden in der Nähe einer Haltestelle in der Kronstädter Inneren Stadt. Er ist aus seinem Rollstuhl gefallen und gibt kein Lebenszeichen von sich. Das scheint ein Notfall zu sein. Da kann man ja nicht einfach zu seiner Arbeitsstelle weiterlaufen und so tun, als sei nichts geschehen. Denn ein hilfloser Mensch sollte nicht im Stich gelassen werden. Wenige Leute sind zu dieser Uhrzeit an dem Schauplatz dieses Unfalls oder Zwischenfalls. Eine ältere Dame hat ihr Handy bereit, zögert jedoch mit dem Notruf und wendet sich an mich, mit der Bitte das zu tun. Dafür reicht sie mir ihr Handy. Ich willige sofort ein ohne dafür ihr Handy zu beanspruchen. Es ist nach mehreren Jahren mein zweiter 112-Notruf. Das erste Mal ging es um ein Feuer mitten in den Nachtstunden bei einer Pkw-Garage neben dem Wohnblock. Damals dankte man mir schön für den Anruf und teilte mir mit, dass bereits mehrere Anrufe zum selben Brand erfolgt seien, dass die Feuerwehr verständigt wurde und bald eintreffen werde.

Diesmal antwortete ich, nachdem ich meinen Namen und die Handynummer genannt hatte,  auf die üblichen Fragen der Telefonistin von der Notrufzentrale: um was es sich handle, wo ich mich befinde, wer braucht Hilfe und ob es dringend sei. Nachher kam die Bitte,  das Telefongerät nicht auszuschalten und an Ort und Stelle zu bleiben, da ich mit der Kronstädter Zentrale für ärztlichen Rettungsdienst verbunden werde. Dabei ging es hauptsächlich um dieselben Fragen, mit der Aufforderung mitzuteilen, ob die Person in Not ansprechbar sei. Das war sie irgendwie, denn als der Mann meine Stimme hörte, hob er ein wenig den Kopf und ließ ihn aber gleich wieder fallen. Es war klar: der Mann musste seinen Rausch zunächst noch ausschlafen und hatte dazu seine Hosen voll. So ausführlich schilderte ich das nicht am Telefon,  fügte aber hinzu, dass wahrscheinlich dieselbe Person vor zwei Tage ärztlich vom SMURD in der Purzengasse betreut wurde (eine Szene die ich aus der Ferne mitbekommen hatte). War es nun akute Lebensgefahr oder nicht, fragte ich mich. Mein Gesprächspartner am Telefon ließ mich wissen, dass SMURD verständigt wird, dass es aller-dings etwas Zeit brauchen wird bis der Wagen vor Ort sein könne. Und damit war das Gespräch beendet; ich konnte meinen Weg zur Arbeit fortsetzen, irgendwie mit dem Gefühl, eine gute Tat getan zu haben.

Nach rund einer Viertelstunde klingelt mein Handy. Anruf von einer verdeckten Nummer. Es stellt sich schnell heraus – der Mann von der SMURD-Zentrale ist wieder da. Und er ist richtig böse. Ich soll mich auf ein Strafgeld gefasst machen. Ich hätte ärztliche Hilfe für einen Sozialfall (also keinen echten Notfall) angefordert und hätte dann noch unaufgefordert den Unfallort verlassen. Dort sei niemand (außer dem Opfer) gewesen und laut Protokoll müsste ein Zeuge irgendwelche Papiere unterschreiben. Erst als ich als Journalist ihm mitteilte, dass diese ganze Angelegenheit ein breiteres Publikum interessieren dürfte, wurde der Ton des Anruf-Dispatchers viel ruhiger. Hätte man mir nicht mitgeteilt, dass ich vor Ort bleiben müsse bis der Rettungswagen eintrifft? Das möge ich das nächste Mal bitte nicht vergessen und ansonsten wünsche man mir einen schönen Tag.

Die Leute vom Rettungsdienst hatten ja von ihrem Standpunkt aus recht. Dort herrscht Stress und wenn man anscheinend um weniger dringliche Fälle angerufen wird und zusätzlich in deren bürokratischen Abwicklung Probleme bekommt, dann kann man leicht unhöflich werden.

Ich aber dachte mir zuerst: Hättest du alles übersehen und wärst du einfach weitergelaufen, wären dir solche Gespräche und möglicherweise die angedrohten Unannehmlichkeiten erspart geblieben. Andrerseits bleibe ich bei der Meinung: Wenn deine Hilfe gebraucht wird, lauf nicht weg und tue was du kannst, selbst wenn nicht alles auf Anhieb klappt oder jemand was einzuwenden hat. Vor allem wenn ein Rollstuhlfahrer auf den Bürgersteig umkippt.